Auf der einen Seite steht eine globale kosmopolitische Hyperkultur auf der anderen Seite ein Kulturessenzialismus der Gemeinschaftsbildung. Sie widersprechen einander und führen zu neuen Problemlagen.
(Wiederholung vom 30.04.2017)
Vor etwa einem Vierteljahrhundert, kurz nach dem Fall des Eisernen Vorhangs und dem Ende des Kommunismus, formulierte der amerikanische Politikwissenschaftler Samuel Huntington in seinem Buch "The Clash of Civilisations" eine irritierende These. Huntington nahm an, dass das Ende des Ost-West-Konflikts nicht zu immerwährendem Frieden führen werde. Vielmehr stünde eine neue, unübersichtlichere und bedrohliche Konfliktlage an: ein globaler Kampf der Kulturen. Der Westen, Russland, China, Indien, die arabische Welt und andere Teile der Erde würden sich - so Huntington - mit ihren unvereinbaren kulturellen Mustern, Traditionen und Wertvorstellungen einander gegenüberstehen. Es sei die Differenz zwischen diesen Kulturen, die eine neue Runde von Konflikten, auch gewaltsamer Art, entstehen lasse.
Huntingtons These stieß zunächst auf Ablehnung. In den 1990er-Jahren wehte der Wind eines grenzenlosen liberalen Optimismus der Globalisierung. Die meisten Beobachter gingen davon aus, dass weltweit ein Siegeszug der Modernisierung westlicher Prägung in vollem Gange sei: Überall setzen sich Demokratien und Marktwirtschaften durch, die Zeiten stehen auf internationale Kooperation, und die Welt vernetzt sich immer mehr nach Art eines globalen Dorfes. Ein anderer amerikanischer Politologe, Francis Fukuyama, brachte diese Vorstellung auf den Begriff: das Ende der Geschichte. Die Idee stammte aus Hegels Geschichtsphilosophie, aber schien für die Gegenwart passend. An die Geschichte als Kette von Unberechenbarkeiten schien ein Schlusspunkt gesetzt und die Zukunft ein Raum der globalen Verwestlichung in ihrer vermeintlichen Alternativlosigkeit.
Es ist anders gekommen. Die Ratlosigkeit mancher Beobachter der globalen Entwicklung heute rührt ganz offensichtlich daher, dass sich viele in der Vorstellung eines Endes der Geschichte eingerichtet haben. Eine aus westlicher Sicht komfortable, aber auch naive Vorstellung. Was wir stattdessen gegenwärtig beobachten, ist eine Potenzierung neuer Konflikte und Kämpfe: die Terroranschläge des islamistischen religiösen Fundamentalismus; nationalistische Tendenzen in Ost‑ und Südosteuropa und die selbstbewusste Verteidigung ihrer eigenen Kultur in China oder Indien; schließlich auch Zentrifugalkräfte im Westen selbst, überraschenderweise in ihren Kernstaaten Großbritannien und den USA. Auf der anderen Seite gibt es weiterhin einen global selbstbewussten und expandierenden Kapitalismus, einen Aufstieg der Mittelschichten in Ost- und Südasien und eine technologische Vernetzung der Welt über das Internet. Wie lassen sich diese widersprüchlichen Elemente zusammendenken? Angesichts der komplizierten Gemengelage fällt es leicht, auf Samuel Huntingtons These vom Kampf der Kulturen zurückzugreifen. Ist es nicht genau so, wie von Huntington vorhergesagt? Dass sich der Westen, die arabische Welt, Russland und China feindlich gegenüberstehen und dies in ihren unvereinbaren Kulturmustern begründet ist?
Huntingtons These ist verführerisch, aber deutlich zu einfach. Zweifellos: In den globalen Konflikten geht es um Kultur. Aber im Unterschied zu Huntington sollte man in diesen Auseinandersetzungen keinen simplen Kampf der Kulturen, sondern etwas anderes sehen: einen globalen Konflikt um die Kultur, das heißt eine Auseinandersetzung darüber, was unter Kultur verstanden wird und wie man mit ihr umgeht. Genauer gesagt sind hier global zwei Modi, zwei Formen der Kulturalisierung am Werk, die ganz unterschiedlich aufgebaut sind: auf der einen Seite eine kosmopolitische und zugleich marktförmige und individualistische Modellierung von Kultur, die ich Hyperkultur nennen will; auf der anderen Seite eine Modellierung von Kultur als historische Gemeinschaften, die man Kulturessenzialismus nennen kann. Sie kommt in verschiedenen Spielarten von der Identitätsgemeinschaft über den Fundamentalismus bis zum Nationalismus vor. Ein grundsätzlicher Widerstreit tut sich auf, wenn beide, die Hyperkultur und der Kulturessenzialismus aufeinander treffen. Was heißt das genau?
Was ist Kultur?
Bevor wir uns diesen Gegensatz zwischen Hyperkultur und Kulturessenzialismus und seine Konsequenzen näher anschauen, sollten wir uns kurz dem Begriff der Kultur selbst zuwenden. Was ist denn ganz generell unter Kultur zu verstehen? Und was ist ihr Ort in der modernen Gesellschaft? Kultur ist sicher einer der umstrittensten und schillerndsten Begriffe der Geisteswissenschaften. Der britische Soziologe Raymond Williams hat ihn zugleich als einen der Schlüsselbegriffe der Moderne bezeichnet, der sich nicht zufällig seit Ende des 18. Jahrhunderts verbreitet. Es gab und gibt nun ganz unterschiedliche Definitionen von Kultur. In der frühen Moderne hat man Kultur als ausgezeichnete, besonders hervorzuhebende Lebensweise von Individuen verstanden: Kultur haben dann wenige - der Adel, das Bürgertum, der Geistesadel - und den meisten mangelt es angeblich daran. Alternativ hat Herder in der deutschen Romantik Kultur als die ganze Lebensweise eines Volkes bezeichnet: Die deutsche Kultur ist dann anders als die chinesische. Dieses Verständnis von Kultur als Gruppeneigenschaft scheint auch Huntington zu teilen. Kultur kann man dagegen auch sehr eng verstehen. Dies ist etwa in den Kultusministerien der Fall: Hier ist häufig von 'Kunst und Kultur' die Rede, die Kultur wird mit der Hochkultur der Bildung, der Künste, vielleicht noch der Religion identifiziert. Die Kulturwissenschaften des 20. Jahrhunderts haben demgegenüber den Kulturbegriff radikal ausgeweitet. Für Ernst Cassirer beispielsweise ist Kultur die jeweilige Weise, wie die Welt wahrgenommen wird, wie sie in Weltbildern und alltäglichen Vorstellungen interpretiert wird, welche Bedeutung ihr zugeschrieben wird: Die Kultur der Naturwissenschaften interpretiert die Welt dann anders als die Kirchen, die Subkultur der Salafisten anders als die amerikanischen Intellektuellen.
Dieses letzte, weite kulturwissenschaftliche Verständnis von Kultur ist natürlich in vieler Hinsicht sinnvoll und nützlich. Trotzdem benötigen wir für ein Verständnis der Rolle der Kultur in der Moderne einen präziseren Begriff von Kultur. Im breiten kulturwissenschaftlichen Verständnis ist gewissermaßen alles Kultur, weil überall Bedeutungen am Werk sind. In einem präziseren Verständnis ist Kultur in jenem Bereich, in dem es um Wert geht. Das ist mein Ausgangspunkt: Kultur und Wert hängen untrennbar zusammen. Im Feld der Kultur wird bestimmten Dingen Wert zugeschrieben, sie werden mit Wert aufgeladen und anderen wird Wert abgesprochen. Dieses Wertvolle können Kunstwerke sein oder Individuen, Götter oder moralische Dogmen, Popmusik oder Altbauwohnungen, Mode oder YouTube‑Videos. Jede menschliche Gesellschaft hat nun seit ihren Anfängen ihre Form von Kultur, ihre Weise, Bestimmtem Wert zuzuschreiben und anderem abzusprechen. Dies gilt auch für die moderne Gesellschaft, die seit der Industrialisierung, der demokratischen Revolutionen und der Aufklärung Ende des 18. Jahrhunderts entstanden ist. Allerdings schien es lange so, als ob in der Moderne die Sphäre der Kultur nur eine marginale Rolle spielte und gegenüber der Sphäre des Nützlichen, Funktionalen und Effizienten ins Hintertreffen geriete. Denn die Kultur hat einen mächtigen Gegenspieler: die Rationalität. Wenn die Kultur die Sphäre der Wertaufladung und Entwertung ist, dann ist die Rationalität die Sphäre der Zweck-Mittel-Verfahren, der neutralen Prozeduren, Gesetze und kognitiven Prozesse. Vom französischen Soziologen Émile Durkheim kann man hier die Unterscheidung zwischen dem Sakralen und dem Profanen übernehmen. Die Sphäre der Kultur verhandelt dann die großen und kleinen Formen des Sakralen von Gott bis zum Modeaccessoire. Die Sphäre der Rationalität ist demgegenüber die des Profanen, des Sachlichen und Leidenschaftslosen, des Entzauberten. Die Valorisierungen der Kultur sind mit starken Emotionen und Affekten untrennbar verknüpft, während das Profane der Rationalität emotionsarm bleibt. Nun wissen wir alle, dass die moderne Gesellschaft von Anfang an im Extrem die Systeme der Rationalität entwickelt hat. Die Moderne setzte auf Rationalisierung und Effizienzsteigerung in der Technik, in der Wirtschaft, im Staat und in der Wissenschaft. Sie war versachlicht und säkularisiert. Kultur schien hier nur ein Schattendasein am Rande zu fristen, vielleicht noch in der Kunst und den Resten der Religion. Aber dies ist spätestens mit der Spät- oder Postmoderne seit den 1970er- und '80er-Jahren nicht mehr der Fall: Die Spätmoderne kulturalisiert sich im Westen und weltweit, sie formt sich zu großen Teilen in Kultur um - ohne natürlich die Rationalisierung aufzugeben. Die Kultur explodiert in der Spätmoderne geradezu - aber in unterschiedlichen, konflikthaften Versionen: der Hyperkultur und dem Kulturessenzialismus.
Zunächst zur Hyperkultur: Die Gesellschaften des Westens in Europa und Nordamerika, aber auch ihre Vorposten in den globalen Metropolen in Mumbai, Schanghai oder Rio de Janeiro haben sich seit den 1980er-Jahren auf eine bestimmte Weise radikal kulturalisiert. Die Träger dieser Hyperkultur sind die gut ausgebildeten, kosmopolitischen Mittelschichten. Kultur ist in diesem Zusammenhang nicht die Hochkultur des Bildungsbürgertums oder die Massenkultur der Nachkriegszeit. Kultur meint nun vielmehr die Pluralität kultureller Güter, die auf den globalen Märkten zirkulieren und den Individuen Ressourcen für ihre Selbstentfaltung zur Verfügung stellen. Ob es sich um die japanische Kampfkunst Aikido oder das indische Yoga handelt, ob skandinavisches Design, französische Kinofilme oder amerikanische Computerspiele, kreolische oder süddeutsche Küche, ob es um Reiseziele zwischen dem Städtetrip, dem Aktivurlaub oder der Themenreise, World Music oder Kunstmuseen geht - die globale Kultur existiert für die globale neue Mittelklasse in Form von vielfältigen Ressourcen der Selbstverwirklichung. Ihr Zentrum sind die Metropolen.
Kultur ist hier Hyperkultur, Über-Kultur, das heißt eine Art übergreifendes, dynamisches Prinzip, in der potenziell alles in höchst variabler Weise zum Gegenstand von Wert werden kann, aber nicht gleichermaßen von Wert ist. Entscheidend für die Kulturalisierung der Hyperkultur sind zwei Instanzen: einerseits Güter, die sich auf kulturellen Märkten bewegen, andererseits Subjekte, die den Gütern mit einem Wunsch nach Selbstentfaltung begegnen. Kultur findet in dieser globalen Hyperkultur immer auf kulturellen Märkten statt, auf denen kulturelle Güter miteinander im Wettbewerb stehen. Dieser Wettbewerb ist nur vordergründig eine kommerzielle Konkurrenz um Geld und Profit. Im Kern handelt es sich vielmehr um Wettbewerbe um das knappe Gut der Aufmerksamkeit sowie um die Valorisierung als wertvoll.
Die Kreativwirtschaft als Stütze des globalen Kulturkapitalismus
Die zentrale Stütze der Märkte der Hyperkultur ist der globale Kulturkapitalismus, die stetig wachsende 'creative economy' von der Computer- und Internetbranche über Design und Architektur bis zum Tourismus. Sie liefert die Basis der postindustriellen Gesellschaft. Kulturelle Märkte der Hyperkultur finden sich jedoch ebenso auf dem 'Markt der Religionen', das heißt der Palette von religiösen und spirituellen Angeboten zwischen Freikirchen und Zen-Buddhismus, die sich dem sinnsuchenden Individuum darbieten. Auch Schulen und Hochschulen bieten mittlerweile einen Markt für das kulturelle Gut der Bildung für die bildungshungrige Mittelklasse. Schließlich stellen sich auch die Städte mehr und mehr als kulturelle Märkte dar, die auf nationaler und globaler Ebene miteinander um Bewohner, Investoren und Besucher konkurrieren. Hier ist die Stadt selbst das kulturelle Gut, das Aufmerksamkeit und Wert beansprucht. Dies ist in der Tat neu: In der Industriegesellschaft sollten Städte im Wesentlichen Funktionen des Arbeitens und Wohnens erfüllen. Seit den 1980er-Jahren haben sich die Städte jedoch mehr und mehr kulturalisiert: Zwischen Berlin und Seattle, zwischen Amsterdam und Melbourne beanspruchen die urbanen Räume kulturelle Eigenschaften wie Attraktivität und Authentizität, Interessantheit und Lebensqualität. Sie befinden sich untereinander im Wettbewerb um eine Anerkennung nicht nur ihrer Funktion, sondern ihres Wertes.
Die Hyperkultur setzt sich jedoch nicht allein aus kulturellen Märkten zusammen. Die entscheidende Instanz, die hinzukommen muss, sind Individuen mit einem Wunsch nach Selbstverwirklichung. Die Hyperkultur ist in diesem Sinne zutiefst individualistisch. Für die Individuen sind die Güter der kulturellen Märkte Ressourcen zur Entfaltung ihrer Besonderheit. Der Soziologe Georg Simmel sprach bereits um 1900 vom Individualismus der Besonderheit der Moderne, in dem der Einzelne an der Kultivierung seiner 'subjektiven Kultur' arbeitet. Aber erst seit den 1970er-Jahren hat sich ein solches Selbstentfaltungs- und Selbstverwirklichungsmotiv in den westlichen Gesellschaften tatsächlich auf breiter Front durchgesetzt. Die hochqualifizierte neue Mittelklasse in den Großstädten bildet ihren wichtigsten Träger. Für das Individuum, das nach Selbstentfaltung strebt, ist die globale Hyperkultur ein Paradies der Möglichkeiten, die auf Aneignung warten: Zwischen Kunst und Ernährung, Reisen und Spiritualität, Bildung und Körperkultur stellt sich das Individuum seine eigene Kombination zusammen. Es gewinnt dann selber vor sich und vor anderen den kulturellen Wert des Einzigartigen.
Es ist nicht verwunderlich, dass Vielfalt und Kosmopolitismus Leitbilder der Hyperkultur sind. Vielfalt ist in der Hyperkultur per se gut: Eine Vielfalt von kulturellen Praktiken und Gütern verschiedenster nationaler, regionaler, ethnischer oder religiöser Herkunft erscheint hier als Bereicherung. Denn eine Vielfalt des Kulturellen dehnt das Feld dessen, was zur kulturellen Ressource für die Selbstverwirklichung der Individuen werden kann, enorm aus. Umgekehrt würde weniger Vielfalt im Sinne einer Monokultur heißen: weniger kulturelle Ressourcen, weniger individuelle Selbstverwirklichung. Vielfalt geht innerhalb der Hyperkultur einher mit dem Modell der Hybridität. Hybridität bedeutet: Kulturelle Eigenschaften sollen nicht abgeschottet nebeneinander existieren, sondern lassen sich widerspruchsfrei miteinander kombinieren. Dadurch ergibt sich das, was man einen Kosmopolitismus der Kultur nennen kann. Kosmopolitismus bedeutet hier eine prinzipiell offene Haltung für die Diversität kultureller Praktiken und Güter, gleich welcher Herkunft sie sind. Dieser Kosmopolitismus wird vor allem von der globalen neuen Mittelklasse, den globalen Unternehmen und der liberalen Politik getragen. Er ist nicht zufällig meist ein Globalismus: Er begrüßt und fördert die globalen Ströme von Gütern, Ideen und Menschen. Das Vielfaltdenken und der Kosmopolitismus der Hyperkultur geben sich allgemeingültig, aber man sollte nicht aus dem Auge verlieren, wie voraussetzungsreich sie sind: Unter gegenwärtigen Bedingungen sind sie untrennbar mit dem Individualismus der Selbstentfaltung und dem Wettbewerb der kulturellen Märkte verknüpft.
Die Hyperkultur hat sich mit der Globalisierung verbreitet, diesseits und jenseits des alten Westens. Sie hat jedoch eine Reihe von Gegnern hervorgebracht. Es ist nun verblüffend zu sehen, wie die meisten von ihnen sich ebenfalls auf Kultur berufen. Aber sie verstehen Kultur und ihre Form des Spiels von Wert und Wertlosigkeit anders. Man erkennt eine Internationale des Kulturessenzialismus, die sich seit den 1980er-Jahren global verbreitet. Man kann hier die diversen religiösen fundamentalistischen Bewegungen einordnen, vor allem innerhalb des Islams, aber auch im Christentum und Judentum. Ebenso sind hier die Bewegungen eines erstarkten Kulturnationalismus einzusortieren, etwa in Russland, China oder Indien. Eine weitere Spielart liefern die rechtspopulistischen und identitären Bewegungen in Europa und Nordamerika. Auf den ersten Blick sind alle diese Tendenzen kaum auf einen Nenner zu bringen. Sie bringen sich jedoch alle gegen die kosmopolitische Hyperkultur in Stellung.
Wie kulturalisiert sich der Kulturessenzialismus die Welt? Man muss ein wenig achtgeben, um ihn nicht von vornherein zu verdammen und demgegenüber die Hyperkultur zu feiern. Die Hyperkultur ist in ihrer Orientierung an mobilen Individuen und den dynamischen Märkten nicht von vornherein moralisch gut und der Kulturessenzialismus ist nicht einfach als inhuman abzuheften. Es gibt auch beim Kulturessenzialismus unterschiedliche Spielarten, die von regionalen Identitäten bis zum fundamentalistischen Terror reichen. Trotzdem lassen sich gemeinsame Strukturen erkennen. Zentral ist bei diesem Kulturverständnis der veränderte Ausgangspunkt: die kollektive Identität einer Gemeinschaft. Während der Dreh- und Angelpunkt der liberalen Hyperkultur die Selbstentfaltung des Individuums ist, markiert für den Kulturessenzialismus das Kollektiv, die Community, den Ort der Kultur. Kultur als die Sphäre des Wertvollen ist hier das, was eine Gemeinschaft zusammenhält, was ihre gemeinsame Identität stiftet. Die einzelnen Individuen haben sich entsprechend in das Kollektiv einzugliedern, sie gewinnen dort aber jenseits allen Wettbewerbs selbstverständliche Anerkennung. Der Kulturessenzialismus ist also ein Kommunitarismus. Das gilt für religiöse Gruppen genauso wie für den Kulturnationalismus oder für selbstbewusste ethnische Communities. Das Kollektiv ist hier keine allgemeine und anonyme Weltgesellschaft, sondern selbst ein jeweils besonderes, mit seiner besonderen Geschichte, seinem besonderen Glauben, seiner besonderen Herkunft. In der Hyperkultur ist der einzelne Mensch der Ort der Individualität, im Kulturkommunitarismus ist die Gemeinschaft als ganze individuell, etwa als Nation, sie unterscheidet sich von den anderen.
Der Kulturessenzialismus muss daher auf einer strikten Grenze aufbauen: der zwischen der eigenen Gruppe und den Anderen, zwischen 'ingroup' und 'outgroup'. In der Hyperkultur sind Kultur und ihre Güter des Wertvollen mobil, dynamisch und unberechenbar. Im Kulturessenzialismus hingegen ist die Stabilisierung der Grenze zwischen Innenwelt und Außenwelt eine zentrale Aufgabe. Dem Innen der eigenen Kultur wird ein stabiler und scheinbar unverbrüchlicher Wert zugeschrieben. Mit Benedict Anderson gesprochen, handelt es sich um eine "imagined community", eine vorgestellte, in der kollektiven Vorstellung existierende Gemeinschaft, die ihr Selbstbild, ihre Geschichte und ihren moralischen Kodex pflegt. Das Ideal des Kulturessenzialismus ist damit die Homogenität der Gemeinschaft, ihre Eindeutigkeit und Einheitlichkeit, in der sich die Differenzen auflösen. Eine umso stärkere Differenz wird freilich nach außen markiert: Gegenüber der Sakralität des Inneren scheint die Außenwelt profan oder gar wertlos. Kulturelle Gemeinschaften können einander dabei durchaus mit freundlicher Gleichgültigkeit nach Art eines Ethnopluralismus begegnen. Es kann aber auch eine aggressive Abgrenzung der eigenen Kultur nach außen stattfinden, die im Extrem bis zum Vernichtungswillen reicht. Für fundamentalistische Religionen sind das Außen die Ungläubigen, für den aggressiven Nationalismus die unterlegenen anderen Völker, für den Rechtspopulismus bilden die kosmopolitischen Eliten und die Migranten die 'outgroup'. Im Kulturessenzialismus ist die eigene Kultur damit nicht Verhandlungssache, sondern ein unhintergehbarer Ausgangspunkt: Kultur erscheint als eine Essenz. Zeit und Raum, die Geschichte und der Herkunftsort sind zwei wichtige Pfeiler, auf denen diese Kultur des Eigenen beruht. Es findet kein Lob der Gegenwart oder Zukunft, sondern im Kern ein Rückgriff auf die Vergangenheit statt, auf das Alte, die Geschichte und Tradition, in denen Religion, Nation und Volk ihren Ursprung haben sollen. Zugleich soll der gemeinsame Herkunftsort, der lange besiedelte Raum der Gemeinschaft häufig ihre Identität sichern. Der Kulturessenzialismus ist damit meist gegenüber der Globalisierung kritisch ausgerichtet: Die Zirkulation der Waren und der Menschen scheint hier die eigene Identität zu bedrohen, sei es durch den globalen, überall ähnlichen Konsum, sei es durch die Prozesse der Migration.
Hyperkultur und Kulturessenzialismus stehen in der globalen Gegenwartsgesellschaft Seite an Seite. Beide kulturalisieren die Welt auf ihre Weise. Sie treffen auch an den gleichen Orten aufeinander: Die Hyperkultur mag ihren Ursprung in Europa und Nordamerika haben, hat sich aber längst globalisiert. Umgekehrt ist der Kulturessenzialismus nicht auf Asien und Osteuropa beschränkt, sondern findet sich auch im Westen. Wie ist nun das Verhältnis beider Formen der Modellierung von Kultur zueinander? Hier sind unterschiedliche Situationen denkbar: Es gab und gibt mancherorts durchaus eine friedliche Koexistenz zwischen den beiden. Insbesondere im letzten Jahrzehnt stehen die Zeichen jedoch auf Kulturkonflikt.
Eine Formel des Kompromisses zwischen Hyperkultur und Kulturessenzialismus war in den 1980er- und '90er-Jahren der sogenannte Multikulturalismus. Der Multikulturalismus der westlichen Liberalen ging davon aus, dass die Vielfalt kultureller Lebensformen grundsätzlich eine Bereicherung ist. Das Ergebnis war, dass zum Beispiel ethnische oder religiöse Gemeinschaften auch als in sich relativ abgeschlossene Communities toleriert wurden. Im Grunde hat der Multikulturalismus die kulturellen Gemeinschaften aber durch eine kosmopolitische Diversity-Brille gesehen: Sie erschienen wie Gruppen von Lebensstilen, für die sich die Menschen entscheiden - ein orthodoxer Islam wurde dann auf einer Ebene mit dem Veganismus platziert. Aus der Perspektive des Multikulturalismus handelte es sich bei den verschiedenartigen Gruppen gewissermaßen um kulturelle Optionen und Stile, von denen keine einen Absolutheitsanspruch hat. Umgekehrt hat es auch von Seiten des Kulturessenzialismus in der Vergangenheit Strategien gegeben, mit der liberalen Hyperkultur zurechtzukommen. Die Strategie bestand vor allem darin, den Kosmopolitismus selbst gewissermaßen als eine fremde kulturelle Gemeinschaft zu betrachten, die eigentümlich sein mag, aber auch nicht bedrohlich. Man kennt eine solche Haltung etwa im Verhalten der chinesischen Regierung, die gegen jede Kritik von Menschenrechtsverletzungen auf ihre chinesischen Werte pocht. Die liberale Hyperkultur mit ihrem Individualismus erscheint aus dieser Sicht als besonderes Merkmal der westlichen Kulturgemeinschaft und ihrer Geschichte: Die Westler mögen liberale Individualisten sein, das können sie auch gerne bleiben - aber auf ihrem eigenen Terrain.
Hyperkultur und Kulturessenzialismus konnten also durchaus eine Zeitlang koexistieren. Diese Koexistenz, die auch mit einer gewissen Gleichgültigkeit verbunden war, weicht nun aber zunehmend einer Situation der Konfrontation: Der liberalen Hyperkultur erscheinen die diversen Kulturessenzialismen mehr und mehr als Bedrohung; umgekehrt gerät die liberale Hyperkultur ins aggressive Visier der Kulturessenzialisten. Im Extrem sind sie einander das absolut Böse. Diese Konfrontation, die unsere Gegenwart prägt, ist eigentlich nicht verwunderlich. Denn vieles spricht dafür, dass die gleichgültige Koexistenz zwischen beiden Versionen der Kulturalisierung auf einer Art systematischem Missverständnis beruht. Die schmerzhafte Einsicht in dieses Missverständnis hat so auf Seiten der liberalen Kosmopoliten dazu geführt, dass man das Modell des Multikulturalismus aufgegeben oder relativiert hat: Man erkennt, dass religiöser Fundamentalismus beispielsweise nicht ein beliebig zu wählender kultureller Lebensstil neben anderen ist. Vielmehr stellen diese Communities die individualistischen Grundlagen der Hyperkultur selbst in Frage. Sie als willkommene Bereicherung zu sehen, scheint nun naiv, stattdessen erkennt man problematische sogenannte Parallelgesellschaften. Statt des Plädoyers für Multikulturalismus wird daher von der liberalen Hyperkultur seit der Jahrtausendwende regelmäßig kulturelle Integration eingefordert. Nicht nur religiöser Fundamentalismus, auch Kulturnationalismus und identitärer Rechtspopulismus erscheinen dann aus Sicht der Hyperkultur zunehmend als ein Gegner, den es zu bekämpfen gilt. Man erkennt hier eine globale Situation, die man in der Formulierung Karl Poppers als jene 'der offenen Gesellschaft und ihrer Feinde' umschreiben kann.
Noch aggressiver sind freilich mittlerweile die Attacken der diversen Formen des Kulturessenzialismus gegen die kosmopolitische Hyperkultur: Der Kosmopolitismus ist aus dieser Sicht nichts anderes als Ausdruck westlich‑liberaler Dekadenz, dessen Ergebnisse der permissive Triumph des Konsum-Individuums und die Zersetzung nationaler und religiöser Gemeinschaften sind. Die mobilen Wertzuschreibungen der Hyperkultur, in der jede Unterscheidung von 'ingroup' und 'outgroup' zerbröselt, und ihr Vorrang des Individuums vorm Kollektiv erscheinen nun als Gefahr für jene gemeinsame Moral, welche die Kulturessenzialisten für sich in Anspruch nehmen. Der sogenannte Westen wird aus dieser Sicht zu einem Symbol des kulturellen Verfalls: Der Westen mit seiner Hyperkultur, seinen globalen Märkten und seinem Ideal der individuellen Selbstverwirklichung und seiner hybriden Mischung von Kulturen ist die Zielscheibe der Islamisten und Evangelikalen wie der russischen oder ungarischen Kulturnationalisten oder der Identitären in Westeuropa. Innerhalb des kulturessenzialistischen Lagers werden dabei bisherige Gegner immer wieder zu überraschenden Verbündeten in diesem gemeinsamen Kulturkampf. Dann ergibt sich beispielsweise ein Schulterschluss zwischen evangelikalen und orthodox‑muslimischen Glaubensgemeinschaften im Kampf gegen die Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare oder zwischen Le Pen und Putin gegen den amerikanischen Kulturimperialismus von Google und Facebook.
Kultur wird damit tatsächlich zu einem zentralen Einsatz in den globalen Konflikten der Gegenwart. Die kosmopolitische Hyperkultur und der Kulturessenzialismus setzen beide in derart unterschiedlicher Weise auf Kultur, dass sie sich als veritable Gegner herausstellen. Anders als Huntingtons Kulturkreislehre der säuberlich abgetrennten Kulturräume durchschneidet die Konfrontation zwischen den beiden Formen der Kulturalisierung jedoch die einzelnen nationalen Gesellschaften selbst, sie trägt die Konfrontation in die Gesellschaft hinein - das Ende scheint offen.