Die Globalisierung habe zu einer stärkeren Durchlässigkeit von Grenzen geführt. Doch es gebe gleichzeitig eine Gegenbewegung, die er Schließungsbewegung nenne, erläutert der Soziologe Steffen Mau im Deutschlandfunk. Mau ist Professor an der Humboldt-Universität Berlin und Autor des Buches "Sortiermaschinen – Die Neuerfindung der Grenze im 21. Jahrhundert". So gab es 1990 zwölf Mauergrenzen weltweit, ab 2001 ist deren Zahl rasant gestiegen. Heute gebe es 70 Stück in der Regel durch Stacheldraht, Mauern und von Soldaten gesicherte Grenzen auf allen Kontinenten bis auf Australien, das eine Seegrenze habe.
Konnektivität zwischen Öffnung und Schließung
Grenzen übten zudem stärker Selektivität aus, sie unterscheiden zwischen denen, die passieren dürfen und für die alles ganz einfach wird und denen, die außen vor bleiben. "Wir haben die dunkle Seite der Globalisierung ausgeblendet", sagte Mau. Bürger afrikanischer Länder hätten heute weniger Mobilitätsrechte als vor 30 oder 40 Jahren, als sie ohne Visum in europäische Länder reisen konnten. "Ihre Situation hat sich verschlechtert".
Mau sieht einen kausalen Zusammenhang zwischen Öffnung und Schließung: Um für die Privilegierten, die Mobilität zu vergrößern, mussten andere ausgeschlossen werden. "Die Globalisierung produziert Mobilität und Immobilität gleichermaßen". Globale Grenzregime sorgen dafür, dass nur ein Teil der Weltbevölkerung von den neuen Möglichkeiten profitieren könne. Das sei, pauschal gesagt, der globale Norden, aber auch reiche Golfstaaten, wo Leute mobil sein können. Als Reicher könne man sich auch einbürgern lassen, etwa in Zypern.
Kabul - beredtes Zeugnis ungleicher Mobilität
Die Szenen am Flughafen von Kabul und die Schwierigkeiten vieler Afghanen bei der Ausreise seien ebenfalls beredtes Zeugnis einer Situation, die aus ungleicher Mobilität entstehe. Viele im globalen Süden hätten noch nie im Leben ein Flugzeug betreten. Die Zahl der global Reisenden in Afrika liege bei ca. zehn Prozent der Bevölkerung. Was für uns Normalität sei, gelte für andere nicht. Das werfe die Frage "globaler Gerechtigkeit" auf: "Die haben wir bis jetzt gar nicht beantwortet."
Offene Grenzen für alle sieht Mau nicht kommen. Eher Transparenz darüber, dass wir von Ländern einforderten, die Visumspflicht für Europäer abzuschaffen, ihnen aber im Gegenzug nicht dasselbe einräumten. Doch das sei gerade für Länder am Rand Europas wichtig. Als Serbien die Visumsfreiheit für die EU bekommen habe, sei dort ein Raketenfeuerwerk losgegangen, die Leute lagen sich in den Armen.
Strittig: Visumsfreiheit für Länder am Rand Europas
Der Soziologe Steffen Mau trennt zwischen Mobilität und Migration, denn "wahrscheinlich hingen ein bis drei von tausend Grenzübertritte mit Migration zusammen". Doch wir haben die Mobilität neuen Paradigmen unterworfen, sodass wir in Leuten, die mobil werden möchten, Grenzen überschreiten möchten, potenzielle Migranten sehen. Das sei eine "Politik des Verdachts": Die Visumsablehnung von Menschen aus Niger oder Senegal hänge an der Vorstellung, dass diese legal einreisten, um illegal zu bleiben. Er spricht in dem Zusammenhang von "Grenzen als Sortiermaschine", die durch die Hintertür funktioniere und an der die Behörden und die Verwaltung beteiligt seien.
"Die Grenze ist überall"
Mau will das Bild der Grenze als territorial fixiert, "als Linie auf der Landkarte" aufheben. "Die Grenze ist überall", sagte er. Sie sei definiert durch Kontrolle, räumlich flexibel geworden, in Transitländer gewandert. Die Grenze Europas etwa liege in der Subsahara oder zwischen Polen und Belarus, also weit weg vom eigentlichen Territorium. Deutschland habe keine befestigte Außengrenze mehr, dennoch sei diese wirkmächtig wie kaum zuvor. Neue Technologien wie Iris-Scannung, biometrische Verfahren und Gesichtsvermessung führten dazu, dass die Grenze auf Datenbanken sitze. Ein Pass sei künftig vielleicht nicht mehr nötig.
Im Fall von Corona habe es die Privilegierten getroffen. Corona habe gezeigt, wie stark Staaten weiterhin in Regulierung von Mobilität und Sicherung der Grenzen sind.
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