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Globalisierung als neue Form von Kolonialismus

Die 1971 in Montreal geborene Naomi Klein avancierte schon mit 30 zum Star - durch ihr Buch "no logo" - eine wütende Kritik an der Markenwelt, damals monatelang auf den Bestsellerlisten. Seinerzeit kürte sie die britische "Times" sogar zur einflussreichsten Person unter 35. Heute, mit 36, gilt Naomi Klein als Ikone der Globalisierungskritiker. In der Zwischenzeit hat sie ein im Vergleich zu ihrem Erstling nicht so sehr beachtetes Buch geschrieben, "Über Zäune und Mauern". Ein Puzzle aus Reportagen und Kommentaren, das die Zugangsbeschränkungen zu Macht und Wohlstand thematisierte.

Von Sandra Pfister |
    Es war eine eher kaleidoskopartige Bestandsaufnahme, aus der Aktivisten kein Rezept herleiten konnten, was gegen die negativen Auswirkungen der Globalisierung zu tun sei. Ähnlich verhält es sich bei Naomi Kleins neuestem Buch, ein dicker Wälzer, der in sieben Ländern und acht Sprachen gleichzeitig erschien. Globalisierung sei nur eine neue Form des Kolonialismus, der einen vorangegangen Schock nutzt, um einer Region seinen Radikal-Kapitalismus überzustülpen, ist diesmal Kleins Hauptthese. Ob ihr Buch mehr ist als eine wütende Polemik, sagt Ihnen Sandra Pfister.

    "In Dutzenden klinischen Studien vermerkten die Ärzte, dass unmittelbar nach der Behandlung Patienten an Daumen nuckelten, sich in die Embryohaltung zusammenrollten, mit dem Löffel gefüttert werden mussten und nach ihren Müttern riefen. ( ... ) Diese Verhaltensweisen verschwanden in der Regel rasch, aber in einigen Fällen, bei denen sehr viele Schocks verabreicht worden waren, berichteten die Ärzte, dass ihre Patienten vollständig regrediert waren: Sie hatten vergessen, wie man läuft und spricht."

    Elektroschocks, Isolationshaft, halluzinogene Drogen, die Menschen zurückversetzten in einen quasi vegetativen Zustand - das erste Kapitel ist nicht leicht zu verdauen. Naomi Klein wendet hier die gleiche Strategie an, die sie später ihrem persönlichen Gottseibeiuns, dem Wirtschaftswissenschaftlicher Milton Friedman, unterstellt: Erst schocken, um die Festplatte im Kopf frei zu machen für neue, überraschende, erschreckende Gedanken. Am Beispiel eines damals 18-jährigen Folteropfers schildert Klein, wie die CIA in Zusammenarbeit mit Psychiatern in den 50er Jahren systematisch Folterexperimente durchführte. Der Psychiater Ewen Cameron im Besonderen wollte offenbar die Persönlichkeit seiner "Patienten" auslöschen und Menschen völlig neu programmieren.

    "Während Cameron davon träumte, den menschlichen Geist zur ursprünglichen Tabula rasa zurückzuführen, träumte Friedman davon, Gesellschaften zu "entprägen", sie in den Zustand reinen Kapitalismus zurückzuführen, gesäubert von allen "Störungen" - von staatlichen Regulierungen, Handelsbarrieren und festgeschriebenen Interessen. (…) Folterer wollen Menschen brechen, Ökonomen ganze Gesellschaften."

    Nur eine Krise führt zu echtem Wandel, lautete das Credo Milton Friedmans, des Kopfes der marktliberalen Chicagoer Wirtschaftsschule der "Chicago Boys". Naomi Klein will den Beweis führen, dass Friedman und seine Schüler Umbruchsituationen in Länder auszunutzen versuchten - Naturkatastrophen, politische Krisen, Terroranschläge - um als Berater in den Staaten eine radikale marktwirtschaftliche Schocktherapie anzuwenden. "Katastrophen-Kapitalismus" nennt sie dieses Muster, das angeblich nach dem gleichen Gesetzmäßigkeiten verläuft wie Folter.

    "Von Chile über China bis hin zum Irak war Folter ein stummer Partner beim globalen Kreuzzug des freien Marktes. Folter ist jedoch mehr als nur ein Mittel, rebellischen Völkern eine ungewollte Politik aufzuzwingen; sie ist auch eine Metapher für die der Schockdoktrin zugrunde liegende Logik. (…) Die Schockdoktrin ahmt diesen Prozess exakt nach und versucht, bei der Masse das zu erreichen, was die Folter mit dem Einzelnen im Vernehmungsraum anstellt."

    Dieses Muster dekliniert die ehemalige Journalistin am Beispiel verschiedener Länder durch. Als Berater Pinochets in Chile habe Friedman nach Allendes Sturz seine Ideen testen können. Sein Modell konnte er auch Südafrika nach der Apartheid überstülpen, Russland nach dem Ende der Sowjet-Ära, Südostasien nach dem Tsunami, den USA nach dem Ende des 11. September und dem Nahen Osten nach den diversen Kriegen in der Region.

    Soviel ist richtig an Kleins Analyse: WTO, IWF und Weltbank, die bei ihr als unheilige Trinität auftreten, haben viele entwicklungspolitische Fehler gemacht. Das ist aber längst erkannt und benannt, sie zu geißeln aber ein immer wiederkehrender Baustein jedes globalisierungskritischen Diskurses. Viele Sachverhalte sind einem interessierten Publikum bekannt, zum Beispiel aus der Lektüre Noam Chomskys. Weiter richtig ist: Politiker und Lobbyisten haben sich weltweit massiv für freie Märkte eingesetzt, die Globalisierung brach also nicht schicksalhaft über uns herein. Aber der Globalisierung liegt KEIN großer Masterplan zugrunde, KEINE große Verschwörung, auch wenn viele "Chicago Boys" entscheidende Strippen gezogen haben.

    Es gibt kein übergreifendes "Gesamtinteresse" des Kapitals oder der großen Firmen, und es ist nicht immer so, dass die Politik nur noch Handlanger der alles dominierenden Wirtschaft ist, wie Klein insinuiert. Die wirtschaftliche Liberalisierung bietet Chancen, die viele Nationen auch nutzen, und von denen Millionen Menschen profitieren, nicht nur in Asien. Weniger Menschen hungern, mehr können die Schulbank drücken und studieren - das alles aber findet keine Erwähnung bei Klein, denn das passt nicht zur Globalisierungs-Horrorstory. All die positiven Begleiterscheinungen der Globalisierung entheben die Politik natürlich nicht der Pflicht, ihr einen Ordnungsrahmen zu geben.

    Klein zieht - um zur Kernthese zurückzukommen - also Parallelen zwischen der Zerstörung von Persönlichkeiten und der Zerstörung von Wirtschaftsordnungen. Nach diesem groben Holzschnitt zimmert sie sich ihr Weltbild. Wenn die Autorin die "Opfer" einer entfesselten Marktwirtschaft gleichsetzt mit den Folteropfern der CIA aus den 50er Jahren, ist das nicht nur ein kruder Vergleich, sondern eine Beleidigung der Folteropfer. In solchen Passagen eignet sich Naomi Klein ganz den Duktus nordamerikanischer Verschwörungstheoretiker an:

    "Versucht man diesen Kreuzzug nachzuzeichnen, der in der radikalen Privatisierung von Kriegen und Katastrophen gipfelt, stößt man immer wieder auf ein Problem: Ideologisch ist er so was wie ein Formwandler, der ständig den Namen ändert und die Identitäten wechselt."

    Kreuzzug, Schock - als ehemalige Journalistin weiß Klein, mit welchen alarmierenden Codewörtern man Aufmerksamkeit weckt. Nach dem Schock, so Klein, fielen erst einmal die Kriegsgewinnler ein, die anschließend alles daran setzten, den Krisenzustand zu perpetuieren. Und so komme es, dass die Welt instabil und von Katastrophen geschüttelt werde, aber gerade deshalb die Wirtschaft in Krisenregionen prosperiere.

    "Die weltweite Instabilität kommt heute nicht nur einer kleinen Gruppe von Waffenhändlern zugute, sie generiert auch riesige Profite auf dem Hightech-Sicherheitssektor, im Bereich Großbauwerke, für private medizinische Unternehmen, die verwundete Soldaten behandelt, in der Erdöl- und Erdgasbranche - und natürlich für militärische Dienstleistungen."

    Als besonders frappierendes Beispiel dient Klein Israel:

    "Bagdad und New Orleans ( ... ) geben uns einen Vorgeschmack auf so etwas wie eine eingezäunte Zukunft, die vom Katastrophen-Kapitalismus-Komplex konzipiert und gemanagt wird. Israel ist jedoch das Land, in dem dieser Prozess am weitesten fortgeschritten ist. "

    Niemand dort habe mehr ein Interesse an einem wirklichen Frieden, denn Israels erstaunlich prosperierende Wirtschaft gehe

    "zu einem großen Teil auf das Konto der cleveren Strategie, sich als so etwas wie ein Einkaufszentrum für Sicherheitslösungen zu positionieren".

    Kurz gesagt: Die Israelis wollten überhaupt keinen Frieden mehr, weil sie so viel besser lebten. Der wirtschaftliche Anreiz zum Frieden sei ihnen verloren gegangen. Dass Israel in den 90er Jahren - nach dem Oslo-Abkommen - die Friedensverhandlungen mit den Palästinensern platzen ließ, führt Klein ganz wesentlich darauf zurück, dass Israel wirtschaftlich vom Dauerkonflikt profitiert habe.

    "Die israelische Exportwirtschaft wurde nun ( ... ) unverhältnismäßig stark vom Verkauf von Expertenwissen und Ausrüstung für den Kampf gegen den Terrorismus abhängig. ( ... ) Das weckte bei den reichsten und mächtigsten Gruppen in Israel den vorrangigen Wunsch, den Frieden zugunsten eines dauerhaften und sich ständig ausweitenden Kriegs gegen den Terror aufzugeben."

    Mag sein, dass es solche einflussreichen Interessengruppen gibt. Dennoch ist diese Analyse israelischer Politik simplifizierend und zynisch. Dass zahlreiche Nachbarländer Israels dessen Existenzrecht in Frage stellen, interessiert Naomi Klein nicht, für sie ist die "Schock-Strategie" der Schlüssel zum Verständnis jeglicher internationaler Konflikte.

    Die typisch amerikanische Mischung aus Reportage, Sachbuch, Analyse und moralischer Empörung hat bei Klein Schlagseite zugunsten der Empörung. Sie balanciert zwischen seriöser Recherche und schlichter Provokation, auf einem schmalen Grat. Dabei macht sie sich immerhin weniger angreifbar als bei ihrem Erstling "no logo", damals hatten viele Kritiker ihr Ungenauigkeiten angekreidet.

    Sie hat über Jahre hinweg ein Team von Rechercheuren angeheuert, das die heiße These untermauern sollte. Viele Fußnoten, viele Studien und Statistiken, viel Zeitungsrecherche und persönliche Eindrücke - das klingt empirisch und nach Fleißarbeit, macht aber aus der Theorie noch keine Wissenschaft, sondern nur eine Pseudowissenschaft. Der Bestätigung der Schock-These ordnet Klein alles unter, Zwischentöne sind nicht zu vernehmen. Widersprüche, Inkonsistenzen kommen nicht zur Sprache, mit den Hauptbeschuldigten hat Klein auch nicht das Gespräch gesucht. So bleibt ihre These hermetisch abgeriegelt gegen Kritik.

    Am Ende weiß man, wie bei vielen Globalisierungskritikern, recht klar, WOGEGEN Naomi Klein ist, aber WOFÜR steht sie? Im Grunde zieht sie sich auf die Position eines Magazinjournalisten zurück, der das Privileg hat, vorwiegend die Fakten sprechen lassen zu dürften, die seiner These dienen - Lösungen muss er nicht anbieten. Kein Rezept für eine bessere Welt zu haben ist nicht verwerflich, aber wer so meinungslastig schreibt, sollte ein paar Ideen im Köcher haben. Als Alternativen zur Globalisierung fallen Naomi Klein nur kleine, regionale Projekte ein. Das ist kein großer Wurf.

    Naomi Klein: Die Schock-Strategie. Der Aufstieg des Katastrophen-Kapitalismus.
    Aus dem Englischen von Hartmut Schickert. S. Fischer Verlag Frankfurt/Main 2007. 768 Seiten, EUR 22,90