Certaldo ist ein verwunschenes Städtchen in der Toscana unweit von Florenz. Es krönt einen Hügel, besitzt mittelalterliche Stadttore und mit seinem Palazzo Pretorio ein repräsentatives Bauwerk aus dem 12. Jahrhundert. Früher blühte es durch Tabak- und Weizenanbau, heute macht der Tourismus seine Haupteinnahmequelle aus. Die Besucher kommen aus aller Welt, es fasziniert sie die Casa Boccaccio, das Haus des berühmten Dichters, der hier, in seiner Vaterstadt, 1375 gestorben ist.
Vielleicht ist er sogar vor 700 Jahren, 1313, in Certaldo geboren. Aber auch Florenz, sogar Paris, werden als Geburtsorte genannt, man weiß nicht genau, wo Giovanni Boccaccio zur Welt kam. Als sicher gilt, dass er der außereheliche Spross eines Bankkaufmanns aus Certaldo war. Und dass er seine letzten Jahre in der reizenden Ortschaft zubrachte, wo er auch, in der Kirche San Jacopo begraben wurde.
"Meinem Vorsatz gemäß bin ich nach Certaldo zurückgekehrt und habe mein Leben mit viel weniger Schwierigkeiten, als ich gedacht hatte, aufzufrischen angefangen. Die groben Kleider und das einfache Essen beginnen mir schon zu gefallen. Nichts von dem Ehrgeiz, den Unannehmlichkeiten und dem Ärger der Florentiner zu sehen, gewährt meinem Herzen einen solchen Trost, dass meine Ruhe noch viel größer wäre, wenn ich von all dem auch nichts zu hören brauchte. Statt der dauernden geschäftigen Intrigen der Städter sehe ich die Felder, Hügel und Bäume voll grüner Zweige und bunter Blüten, lauter Dinge, die von der Natur geschaffen wurden, während in den Städten alles gekünstelt ist. Ich höre die Nachtigall und die anderen Vögel mit umso größerem Genuss singen, als es mir früher zur Qual wurde, den ganzen Tag die Betrügereien und Unaufrichtigkeiten meiner Mitbürger erleben zu müssen. Und mit meinen Büchern kann ich mich, so oft es mir gefällt, ohne jegliches Hindernis frei unterhalten."
Es ist Boccaccios Geist, den die Touristen hier suchen und der ihnen wohl auch zulächelt, wenn sie von der alten Oberstadt aus den Blick über die toskanische Landschaft schweifen lassen.
Vielleicht ist er sogar vor 700 Jahren, 1313, in Certaldo geboren. Aber auch Florenz, sogar Paris, werden als Geburtsorte genannt, man weiß nicht genau, wo Giovanni Boccaccio zur Welt kam. Als sicher gilt, dass er der außereheliche Spross eines Bankkaufmanns aus Certaldo war. Und dass er seine letzten Jahre in der reizenden Ortschaft zubrachte, wo er auch, in der Kirche San Jacopo begraben wurde.
"Meinem Vorsatz gemäß bin ich nach Certaldo zurückgekehrt und habe mein Leben mit viel weniger Schwierigkeiten, als ich gedacht hatte, aufzufrischen angefangen. Die groben Kleider und das einfache Essen beginnen mir schon zu gefallen. Nichts von dem Ehrgeiz, den Unannehmlichkeiten und dem Ärger der Florentiner zu sehen, gewährt meinem Herzen einen solchen Trost, dass meine Ruhe noch viel größer wäre, wenn ich von all dem auch nichts zu hören brauchte. Statt der dauernden geschäftigen Intrigen der Städter sehe ich die Felder, Hügel und Bäume voll grüner Zweige und bunter Blüten, lauter Dinge, die von der Natur geschaffen wurden, während in den Städten alles gekünstelt ist. Ich höre die Nachtigall und die anderen Vögel mit umso größerem Genuss singen, als es mir früher zur Qual wurde, den ganzen Tag die Betrügereien und Unaufrichtigkeiten meiner Mitbürger erleben zu müssen. Und mit meinen Büchern kann ich mich, so oft es mir gefällt, ohne jegliches Hindernis frei unterhalten."
Es ist Boccaccios Geist, den die Touristen hier suchen und der ihnen wohl auch zulächelt, wenn sie von der alten Oberstadt aus den Blick über die toskanische Landschaft schweifen lassen.
Ein umstrittenes Werk
Unweit von Certaldo dürfen wir den Schauplatz von Boccaccios größtem und umstrittenen Werk vermuten: vom Dekameron. In dieser Gegend war er wahrscheinlich gelegen, jener Landsitz, auf dem, wie Boccaccio erzählt, eine kleine Gesellschaft von sieben Damen und drei Herren im Jahre 1348 Zuflucht fand. So wie der Dichter den fiktiven Ort beschreibt, sieht es ganz danach aus, als habe sich Certaldo in ein einsam gelegenes Herrenhaus verwandelt.
"Das Gut lag auf einer kleinen Anhöhe, allseits ein wenig von den Landstraßen entfernt, und bot inmitten des frischen Grüns der Bäume und Pflanzen einen reizvollen Anblick. Auf dem Gipfel des kleinen Berges stand ein Palast mit einem schönen großen Hof in der Mitte. Ringsumher erstreckten sich Wiesen und herrliche Gärten, es gab Springbrunnen mit erfrischendem Wasser und Gewölbe, angefüllt mit köstlichen Weinen. Hier fand die Gesellschaft zu ihrer großen Freude alles aufs Beste bereitet vor."
Die jungen Leute waren auf der Flucht vor der Pest. Der Schwarze Tod wütete in Florenz auf das Grausamste, die Kranken wurden nicht mehr versorgt, die Toten nicht mehr bestattet, wer konnte, verließ die Stadt und suchte Unterkunft auf dem Lande. Bei Boccaccio sind es sieben junge Edelfräulein, die der sterbenden Stadt den Rücken kehren. Da sie Schutz und Begleitung brauchen, bitten sie drei befreundete Herren, sich ihnen anzuschließen. Zu zehnt also ziehen sie in den wohl ausgestatteten Palazzo ein, verteilen die Zimmer und versammeln sich im Hof.
"Das Gut lag auf einer kleinen Anhöhe, allseits ein wenig von den Landstraßen entfernt, und bot inmitten des frischen Grüns der Bäume und Pflanzen einen reizvollen Anblick. Auf dem Gipfel des kleinen Berges stand ein Palast mit einem schönen großen Hof in der Mitte. Ringsumher erstreckten sich Wiesen und herrliche Gärten, es gab Springbrunnen mit erfrischendem Wasser und Gewölbe, angefüllt mit köstlichen Weinen. Hier fand die Gesellschaft zu ihrer großen Freude alles aufs Beste bereitet vor."
Die jungen Leute waren auf der Flucht vor der Pest. Der Schwarze Tod wütete in Florenz auf das Grausamste, die Kranken wurden nicht mehr versorgt, die Toten nicht mehr bestattet, wer konnte, verließ die Stadt und suchte Unterkunft auf dem Lande. Bei Boccaccio sind es sieben junge Edelfräulein, die der sterbenden Stadt den Rücken kehren. Da sie Schutz und Begleitung brauchen, bitten sie drei befreundete Herren, sich ihnen anzuschließen. Zu zehnt also ziehen sie in den wohl ausgestatteten Palazzo ein, verteilen die Zimmer und versammeln sich im Hof.
Auf der Suche nach Spaß
Sie waren ja nun vor Not und Tod geflohen, und hier, in Sicherheit, wollten sie nicht mehr jammern und klagen, sondern ihre Lebensfreude wiederfinden. Die Parole hieß: Spaß! Ja, so hieß sie, trotz des Leidens, das die jungen Leute hinter sich gelassen hatten und von dem ja die meisten ihrer Familien selbst betroffen waren. In einer kleinen Rede verpflichtet Dioneo, der redegewandteste der Gesellschaft, die anderen auf dieses Programm des Spaßvergnügens:
"Meine Damen! Wir haben es mehr eurer Entschlossenheit als unserer eigenen Vorsicht zu verdanken, dass wir hier sind. Was ihr aber nun mit euren Sorgen beginnen wollt, weiß ich nicht. Ich habe die meinen innerhalb der Stadtmauern, aus denen ich mit euch entwich, zurückgelassen. Deshalb solltet ihr euch nun entschließen, entweder mit mir in Scherz, Gesang und Frohsinn einzustimmen - ich betone: soweit eure Ehrbarkeit dies zulässt! - oder aber ihr müsst mir gestatten, zu meinen trüben Gedanken zurückzukehren und auch weiterhin in der heimgesuchten Stadt zu leben."
Pampinea, die Älteste aus der Schar der Frauen und Anstifterin zu dieser Flucht aufs Land, ist sofort begeistert von Dioneos Idee, und sie schwört den Rest des Kreises auf die neue Losung ein.
"Dioneo, du hast den richtigen Vorschlag gemacht! Wir wollen unser Leben festlich gestalten. Deshalb allein sind wir der Traurigkeit entflohen. Weil aber alles, was maßlos ist, nicht lange währen kann, so bin ich, als Urheberin aller Erwägungen, nach denen hier diese reizende Gesellschaft zusammengetreten ist, der Meinung, dass wir, zumal mit Rücksicht auf die Fortdauer unserer Freude, ein Oberhaupt unter uns wählen sollten, das wir anerkennen und dem wir uns als unserem König fügen. Dieses Oberhaupt aber hat die Pflicht, nach Kräften darauf bedacht zu sein, unseren hiesigen Aufenthalt heiter zu gestalten."
Doch wie bleibt man heiter über Tage und Wochen? Zumal ringsum der Schwarze Tod seine Opfer fordert? Eine Weile vergnügt sich das Völkchen mit Lautenspiel und Tanz, Spaziergang und Brettspiel, aber dann erkennt Pampinea, dass mehr geschehen muss:
"Wir wollen die heißen Stunden des Tages damit verbringen, uns Geschichten zu erzählen. Es wird der ganzen Gesellschaft Spaß machen, zuzuhören, was ein jeder zu erzählen weiß."
Auch das Procedere legt die Älteste fest: Das Oberhaupt soll täglich neu gewählt werden. Zu seinen Pflichten gehört es, das Thema des Tages und die Reihenfolge der Vortragenden zu bestimmen. Jede und jeder erzählt jeden Tag - der Freitag und der Samstag aber sollen ausgenommen sein. In so einer Fünftagewoche kommen dann fünfzig Geschichten zusammen - ganze hundert sind es nach zwei Wochen. Deka heißt auf Griechisch zehn und hemera der Tag: Wir haben es also mit einem "Zehn-Tage-Erzählmarathon" zu tun.
Die Geschichten, die im Dekameron versammelt sind, hat sich Boccaccio nicht alle selbst ausgedacht. Viele entstammen der antiken Überlieferung, auch der mündlichen aus den Jahrhunderten zuvor. Andere wieder sind Schnurren, wie die Zeit sie kannte und mochte. Manche Novellen aber hat der Dichter selbst ersonnen, andere umgedichtet. Einige sind tiefgründig oder besinnlich, weitere richtig komisch oder derb-erotisch; oft geht Boccaccio dem Klerus an den Kragen und bescheinigt ihm eine doppelte Moral.
"Meine Damen! Wir haben es mehr eurer Entschlossenheit als unserer eigenen Vorsicht zu verdanken, dass wir hier sind. Was ihr aber nun mit euren Sorgen beginnen wollt, weiß ich nicht. Ich habe die meinen innerhalb der Stadtmauern, aus denen ich mit euch entwich, zurückgelassen. Deshalb solltet ihr euch nun entschließen, entweder mit mir in Scherz, Gesang und Frohsinn einzustimmen - ich betone: soweit eure Ehrbarkeit dies zulässt! - oder aber ihr müsst mir gestatten, zu meinen trüben Gedanken zurückzukehren und auch weiterhin in der heimgesuchten Stadt zu leben."
Pampinea, die Älteste aus der Schar der Frauen und Anstifterin zu dieser Flucht aufs Land, ist sofort begeistert von Dioneos Idee, und sie schwört den Rest des Kreises auf die neue Losung ein.
"Dioneo, du hast den richtigen Vorschlag gemacht! Wir wollen unser Leben festlich gestalten. Deshalb allein sind wir der Traurigkeit entflohen. Weil aber alles, was maßlos ist, nicht lange währen kann, so bin ich, als Urheberin aller Erwägungen, nach denen hier diese reizende Gesellschaft zusammengetreten ist, der Meinung, dass wir, zumal mit Rücksicht auf die Fortdauer unserer Freude, ein Oberhaupt unter uns wählen sollten, das wir anerkennen und dem wir uns als unserem König fügen. Dieses Oberhaupt aber hat die Pflicht, nach Kräften darauf bedacht zu sein, unseren hiesigen Aufenthalt heiter zu gestalten."
Doch wie bleibt man heiter über Tage und Wochen? Zumal ringsum der Schwarze Tod seine Opfer fordert? Eine Weile vergnügt sich das Völkchen mit Lautenspiel und Tanz, Spaziergang und Brettspiel, aber dann erkennt Pampinea, dass mehr geschehen muss:
"Wir wollen die heißen Stunden des Tages damit verbringen, uns Geschichten zu erzählen. Es wird der ganzen Gesellschaft Spaß machen, zuzuhören, was ein jeder zu erzählen weiß."
Auch das Procedere legt die Älteste fest: Das Oberhaupt soll täglich neu gewählt werden. Zu seinen Pflichten gehört es, das Thema des Tages und die Reihenfolge der Vortragenden zu bestimmen. Jede und jeder erzählt jeden Tag - der Freitag und der Samstag aber sollen ausgenommen sein. In so einer Fünftagewoche kommen dann fünfzig Geschichten zusammen - ganze hundert sind es nach zwei Wochen. Deka heißt auf Griechisch zehn und hemera der Tag: Wir haben es also mit einem "Zehn-Tage-Erzählmarathon" zu tun.
Die Geschichten, die im Dekameron versammelt sind, hat sich Boccaccio nicht alle selbst ausgedacht. Viele entstammen der antiken Überlieferung, auch der mündlichen aus den Jahrhunderten zuvor. Andere wieder sind Schnurren, wie die Zeit sie kannte und mochte. Manche Novellen aber hat der Dichter selbst ersonnen, andere umgedichtet. Einige sind tiefgründig oder besinnlich, weitere richtig komisch oder derb-erotisch; oft geht Boccaccio dem Klerus an den Kragen und bescheinigt ihm eine doppelte Moral.
Inspiration für andere Autoren
Wir finden uns unter Adligen, Bürgern und Bauern, feinen Damen, süßen Mädchen und giftigen Äbtissinnen, unter Kardinälen, Kaufleuten, Kräuterweiblein und Betschwestern, unter Soldaten, Mönchen, Matrosen und Pilgern. Boccaccio lässt keinen Stand aus, kein Milieu, keine "Szene". Alle hundert Novellen bilden einen Schatz, aus dem sich bis heute Literaten, Erzähler und Filmemacher bedienen, so Hans Sachs, Shakespeare, Cervantes und Lessing, so auch Pier Paolo Pasolini. Hermann Hesse schrieb in seiner Boccaccio-Biografie, die zugleich eine Huldigung ist:
"Wenn einer über die Beschäftigungen und Lebensweisen der verschiedensten Menschen und Stände zu jener Zeit Genaueres erfahren will, der wird in den sämtlichen Werken der Gelehrten nicht so viel finden und lernen wie in diesem Buche, welches das Treiben und Gebaren der Menschen von damals treuer und deutlicher als ein Spiegel vor unsre Augen stellt."
Als der Dichter um 1352 sein Meisterwerk vollendet hatte, war der Buchdruck noch nicht erfunden, man behalf sich mit Abschriften, was die Verbreitung literarischer Erzeugnisse beschränkte, allemal die eines Tausend-Seiten-Werkes wie das Dekameron. Doch es gab in der lesekundigen Oberschicht durchaus Resonanz auf Boccaccios Buch, lobende und tadelnde, man sprach schon damals von einem Hang zur Sittenverderbnis ... Was Boccaccio wurmte: Sein Freund und Vorbild Francesco Petrarca ignorierte das Werk weitgehend, es war ihm zu dick und zu volkstümlich. Dennoch: Boccaccio hatte sich einen Namen gemacht, allerdings einen eher zwiespältigen.
Als es hundert Jahre später zu ersten gedruckten Ausgaben kam, lasen natürlich wieder die Sittenwächter mit. Es dauerte noch einmal hundert Jahre, dann landete das Dekameron auf dem Index. Dort wurde es umgeschrieben: Die lüsternen Mönche verwandelten sich in Soldaten, die Nonnen in leichte Mädchen. Über die Zeitalter hinweg wurde das Buch immer wieder von Moralaposteln attackiert und von sinnenfrohen Aufklärern verteidigt. Im 16. Jahrhundert schätzten die Protestanten das Buch, weil sich treffliche Munition gegen Rom und den Papst aus ihm beziehen ließ. Goethe riet dann wieder seiner Schwester von der Lektüre ab. Die Romantik erahnte Boccaccios Rang, aber erst die Moderne wurde ihm wirklich gerecht.
Es gibt die Vermutung, dass Boccaccio selbst in späterer Zeit von seinem Hauptwerk abrückte, es heißt, er habe in den 1360er Jahren eine religiöse Krise durchgemacht und ein Autodafé seiner Werke geplant. Francesco Petrarca habe ihn davon abgebracht. Doch sichere Belege für eine solche Wendung fehlen.
"Wenn einer über die Beschäftigungen und Lebensweisen der verschiedensten Menschen und Stände zu jener Zeit Genaueres erfahren will, der wird in den sämtlichen Werken der Gelehrten nicht so viel finden und lernen wie in diesem Buche, welches das Treiben und Gebaren der Menschen von damals treuer und deutlicher als ein Spiegel vor unsre Augen stellt."
Als der Dichter um 1352 sein Meisterwerk vollendet hatte, war der Buchdruck noch nicht erfunden, man behalf sich mit Abschriften, was die Verbreitung literarischer Erzeugnisse beschränkte, allemal die eines Tausend-Seiten-Werkes wie das Dekameron. Doch es gab in der lesekundigen Oberschicht durchaus Resonanz auf Boccaccios Buch, lobende und tadelnde, man sprach schon damals von einem Hang zur Sittenverderbnis ... Was Boccaccio wurmte: Sein Freund und Vorbild Francesco Petrarca ignorierte das Werk weitgehend, es war ihm zu dick und zu volkstümlich. Dennoch: Boccaccio hatte sich einen Namen gemacht, allerdings einen eher zwiespältigen.
Als es hundert Jahre später zu ersten gedruckten Ausgaben kam, lasen natürlich wieder die Sittenwächter mit. Es dauerte noch einmal hundert Jahre, dann landete das Dekameron auf dem Index. Dort wurde es umgeschrieben: Die lüsternen Mönche verwandelten sich in Soldaten, die Nonnen in leichte Mädchen. Über die Zeitalter hinweg wurde das Buch immer wieder von Moralaposteln attackiert und von sinnenfrohen Aufklärern verteidigt. Im 16. Jahrhundert schätzten die Protestanten das Buch, weil sich treffliche Munition gegen Rom und den Papst aus ihm beziehen ließ. Goethe riet dann wieder seiner Schwester von der Lektüre ab. Die Romantik erahnte Boccaccios Rang, aber erst die Moderne wurde ihm wirklich gerecht.
Es gibt die Vermutung, dass Boccaccio selbst in späterer Zeit von seinem Hauptwerk abrückte, es heißt, er habe in den 1360er Jahren eine religiöse Krise durchgemacht und ein Autodafé seiner Werke geplant. Francesco Petrarca habe ihn davon abgebracht. Doch sichere Belege für eine solche Wendung fehlen.
Leben von Boccaccio kaum bekannt
Wir wissen nur wenig über das Leben des Giovanni Boccaccio. Gewiss ist, dass sein Vater den Knaben nach dem frühen Tod der Mutter in sein Haus nach Florenz holte, wo der Signor für das Bankhaus Bardi tätig war. Der blühende Stadtstaat weckte Giovannis Schönheitssinn und vielleicht auch das Bedürfnis, selbst etwas Schönes zu schaffen. Seine inferiore Stellung indessen als außerehelicher Nachkomme, von der Stiefmutter nicht eben erfreut aufgenommen, ließ ihn früh kritisch auf die Welt schauen: Er entwickelte eine besondere Verletzlichkeit und arrangierte sich nie mit den Ränken und Machtspielen der herrschenden Schicht. An einen Freund im Jahre 1341:
"Über mein Dasein in Florenz schreibe ich Euch trotz Eures Wunsches nicht, denn darüber müsste man eher mit Tränen als mit Tinte schreiben."
Glücklicherweise wissen wir aus Briefen und Betrachtungen manches über Boccaccios Innenleben. Und da gibt es ein wiederkehrendes Motiv: die Sehnsucht, ein großer Schriftsteller zu werden.
"Es zog mich mein Herz mit aller Macht zur Dichtung, und es folgte dabei nicht einer plötzlichen Laune, sondern fühlte sich von einer angeborenen Veranlagung getrieben."
Der Vater aber machte andere Pläne. Kaum hatte sein Sohn das Lehrlingsalter erreicht, schickte er ihn nach Neapel zu einer Zweigstelle der Bank Bardi, dort sollte Giovanni zum Kaufmann ausgebildet werden. Aber Soll und Haben waren nichts für den musisch begabten Jungen, eher schon das Königreich Neapel, dessen Glanz und Eleganz ihn betörten. Seine erste Liebe, der Legende nach eine natürliche Tochter des Königs, die er "Fiammetta" nannte, ergriff ihn gleich sehr tief, blieb aber einseitig, denn die verheiratete Dame hatte bald genug von ihrem jugendlichen Anbeter. Der musste sich nun und für lange Zeit mit der Literarisierung seiner Leidenschaft begnügen.
Vater Boccaccio sah ein, dass aus seinem Sprössling niemals ein Bankkaufmann werden würde, wollte ihn aber auch nicht der brotlosen Kunst des Verse-Schmiedens überlassen und nötigte ihn zu einem Studium des Kirchenrechts. Das, so fand er, könne eine sehr schöne Einnahmequelle werden. Doch auch diesen Weg wollte der Sohn nicht gehen.
"Handwerk und Handel, bürgerliches und Kirchenrecht füllen den Beutel oder die Kasse, aber sie sind nur zum Verdienen gut und hinterlassen keine Spur und keinen preiswürdigen Ruhm. Doch bei näherem Zusehen bleibt bestehen, was der Dichter gewinnt, auch wenn die Menschen behaupten, das Dichten bringe keinen Gewinn und meinen, sie könnten die Dichtung damit schmähen und auf ewig verächtlich machen. Die Dichtung, die sich nur edlen Geistern erschließt, lenkt das Streben nicht auf Reichtum hin, nein, sie flieht vor ihm und weist ihn als gefährliche und unehrenhafte Last zurück. Indem sie sich aber unermüdlich den himmlischen Eingebungen und erlesenen Gedanken weiht, setzt sie alles daran - und sie tut es mit all ihrer Macht, die gewaltig ist - den Namen ihres ergebenen Dieners unsterblich zu machen."
"Über mein Dasein in Florenz schreibe ich Euch trotz Eures Wunsches nicht, denn darüber müsste man eher mit Tränen als mit Tinte schreiben."
Glücklicherweise wissen wir aus Briefen und Betrachtungen manches über Boccaccios Innenleben. Und da gibt es ein wiederkehrendes Motiv: die Sehnsucht, ein großer Schriftsteller zu werden.
"Es zog mich mein Herz mit aller Macht zur Dichtung, und es folgte dabei nicht einer plötzlichen Laune, sondern fühlte sich von einer angeborenen Veranlagung getrieben."
Der Vater aber machte andere Pläne. Kaum hatte sein Sohn das Lehrlingsalter erreicht, schickte er ihn nach Neapel zu einer Zweigstelle der Bank Bardi, dort sollte Giovanni zum Kaufmann ausgebildet werden. Aber Soll und Haben waren nichts für den musisch begabten Jungen, eher schon das Königreich Neapel, dessen Glanz und Eleganz ihn betörten. Seine erste Liebe, der Legende nach eine natürliche Tochter des Königs, die er "Fiammetta" nannte, ergriff ihn gleich sehr tief, blieb aber einseitig, denn die verheiratete Dame hatte bald genug von ihrem jugendlichen Anbeter. Der musste sich nun und für lange Zeit mit der Literarisierung seiner Leidenschaft begnügen.
Vater Boccaccio sah ein, dass aus seinem Sprössling niemals ein Bankkaufmann werden würde, wollte ihn aber auch nicht der brotlosen Kunst des Verse-Schmiedens überlassen und nötigte ihn zu einem Studium des Kirchenrechts. Das, so fand er, könne eine sehr schöne Einnahmequelle werden. Doch auch diesen Weg wollte der Sohn nicht gehen.
"Handwerk und Handel, bürgerliches und Kirchenrecht füllen den Beutel oder die Kasse, aber sie sind nur zum Verdienen gut und hinterlassen keine Spur und keinen preiswürdigen Ruhm. Doch bei näherem Zusehen bleibt bestehen, was der Dichter gewinnt, auch wenn die Menschen behaupten, das Dichten bringe keinen Gewinn und meinen, sie könnten die Dichtung damit schmähen und auf ewig verächtlich machen. Die Dichtung, die sich nur edlen Geistern erschließt, lenkt das Streben nicht auf Reichtum hin, nein, sie flieht vor ihm und weist ihn als gefährliche und unehrenhafte Last zurück. Indem sie sich aber unermüdlich den himmlischen Eingebungen und erlesenen Gedanken weiht, setzt sie alles daran - und sie tut es mit all ihrer Macht, die gewaltig ist - den Namen ihres ergebenen Dieners unsterblich zu machen."
Ein Minderwertigkeitskomplex
Als Boccaccio diese Worte schrieb, war er schon ein älterer Herr und davon überzeugt, es als Dichter nicht allzu weit gebracht zu haben. Seine Frühwerke, auch der Versroman "Fiammetta" und die späteren Antikenstudien, ferner seine Vorlesungen über Dante sind in der Tat außerhalb der Fachwelt vergessen. Das "Zehntagebuch" aber wird nicht nur von Leseratten in aller Welt durchgeschmökert, es hat auch einen großen Einfluss auf die Literatur in ganz Europa gehabt und Boccaccio zum Pionier der Prosa-Erzählkunst erhoben. Hätte er das zu seiner Zeit geahnt, wäre er dann nicht ein gnädigerer Richter seines eigenen Werkes gewesen?
Vielleicht nicht. Boccaccio litt, wie man heute sagen würde, an einem Minderwertigkeitskomplex. Es gibt genug kritische Selbsteinschätzungen von ihm, die das belegen. Aber was weiß man schon genau nach 700 Jahren. Vielleicht war seine Selbstabwertung auch bloße Pose. Es war zu seiner Zeit en vogue, sich öffentlich in Bescheidenheit zu üben, jedenfalls als Dichter oder Gelehrter, eine Attitüde, die hundert Jahre nach Boccaccio der Mönch Savonarola zur Lebenseinstellung der radikalen Askese steigerte. Wobei er mit seinen purgatorischen Übungen so weit ging, Scheiterhaufen für Dinge des Luxus und Symbole der Sittenlosigkeit zu errichten. Auch das Dekameron wurde von ihm verbrannt.
Boccaccio brachte es - anders als sein Vater gehofft hatte - nicht zu Reichtum, er kam gerade so zurecht. Der Vater hatte durch die Pleite des Bankhauses Bardi viel Geld verloren. Und so entfiel auf Giovanni, als der Senior - wie übrigens auch die treulose Fiammetta - von der Pest dahingerafft worden war, nur ein schmales Erbe. Vom Schreiben allein konnte er nicht leben, aber der gute Name seines Vaters verschaffte ihm verschiedene öffentliche Ämter, die das Nötigste einbrachten. Er reiste viel, so als Gesandter der Stadt Florenz nach Avignon, wo der Papst damals residierte. All diese Tätigkeiten interessierten ihn nicht wirklich, aber er brauchte das Geld. Und er liebte es, mit Menschen aller Klassen und Milieus in Kontakt zu kommen, wie es auf Reisen ja geschieht. Diese Begegnungen waren das Rohmaterial für seine Schriften.
Der Ruhm des Dekameron erklärt sich aus der Diesseitigkeit des Werkes. Die Art, wie Boccaccio seine jungen Flüchtlinge in der Abgeschiedenheit des "locus amoenus", eines lieblichen Idylls, nach den fürchterlichen Erfahrungen mit der Pest Lebenslust und Liebesfreuden erneut suchen lässt, und zwar im Medium der Erzählkunst, das hat etwas von einer Utopie, das traut sich in dieser Konsequenz sonst keiner. Die Sitte hätte es erfordert, auf die offenbare Strafe Gottes durch die Geißel der Epidemie mit Buße und Gebet zu antworten, sich für das letzte Stündlein bereit zu machen und auf den Lohn des Himmels zu vertrauen.
Vielleicht nicht. Boccaccio litt, wie man heute sagen würde, an einem Minderwertigkeitskomplex. Es gibt genug kritische Selbsteinschätzungen von ihm, die das belegen. Aber was weiß man schon genau nach 700 Jahren. Vielleicht war seine Selbstabwertung auch bloße Pose. Es war zu seiner Zeit en vogue, sich öffentlich in Bescheidenheit zu üben, jedenfalls als Dichter oder Gelehrter, eine Attitüde, die hundert Jahre nach Boccaccio der Mönch Savonarola zur Lebenseinstellung der radikalen Askese steigerte. Wobei er mit seinen purgatorischen Übungen so weit ging, Scheiterhaufen für Dinge des Luxus und Symbole der Sittenlosigkeit zu errichten. Auch das Dekameron wurde von ihm verbrannt.
Boccaccio brachte es - anders als sein Vater gehofft hatte - nicht zu Reichtum, er kam gerade so zurecht. Der Vater hatte durch die Pleite des Bankhauses Bardi viel Geld verloren. Und so entfiel auf Giovanni, als der Senior - wie übrigens auch die treulose Fiammetta - von der Pest dahingerafft worden war, nur ein schmales Erbe. Vom Schreiben allein konnte er nicht leben, aber der gute Name seines Vaters verschaffte ihm verschiedene öffentliche Ämter, die das Nötigste einbrachten. Er reiste viel, so als Gesandter der Stadt Florenz nach Avignon, wo der Papst damals residierte. All diese Tätigkeiten interessierten ihn nicht wirklich, aber er brauchte das Geld. Und er liebte es, mit Menschen aller Klassen und Milieus in Kontakt zu kommen, wie es auf Reisen ja geschieht. Diese Begegnungen waren das Rohmaterial für seine Schriften.
Der Ruhm des Dekameron erklärt sich aus der Diesseitigkeit des Werkes. Die Art, wie Boccaccio seine jungen Flüchtlinge in der Abgeschiedenheit des "locus amoenus", eines lieblichen Idylls, nach den fürchterlichen Erfahrungen mit der Pest Lebenslust und Liebesfreuden erneut suchen lässt, und zwar im Medium der Erzählkunst, das hat etwas von einer Utopie, das traut sich in dieser Konsequenz sonst keiner. Die Sitte hätte es erfordert, auf die offenbare Strafe Gottes durch die Geißel der Epidemie mit Buße und Gebet zu antworten, sich für das letzte Stündlein bereit zu machen und auf den Lohn des Himmels zu vertrauen.
Glockenschlag, der die Renaissance einläutete
Boccaccio vollzieht eine für seine Zeit erstaunliche Volte, indem er sagt: Nein, wir wollen auf Erden den süßen Wein und die Liebe und die Reize der Erzählkunst genießen, wir wollen reden, mitteilen, erkennen, lachen, spotten und einander näherkommen - auch wenn hinter den Mauern der Städte das große Sterben weiter geht. Diese kühne Verweltlichung der Glückshoffnungen, die eigentlich aufs Jenseits gerichtet werden müssten, diese Widerrede im Angesicht einer sich stetig fortpflanzenden Mutlosigkeit und Schicksalsgläubigkeit war der eigentliche Skandal des Dekameron. Und so wurde dieses Buch zu einem Glockenschlag, der die Renaissance einläutete.
Boccaccio war Autodidakt; er beherrschte das Lateinische, wandte sich später dem Griechischen zu und übersetzte Homer. Doch der Kreis der Gelehrten war ihm zu eng für seine Botschaft. Zwar konnte er nicht darauf zählen, dass die kleinen Leute ihm zuliebe lesen lernten. Aber unter den müßigen Damen der besser gestellten Schicht gab es doch etliche, die diese Kunst beherrschten. Ihnen widmete er sein Buch.
"Edle Damen, zu deren Erheiterung ich mich dieser langwierigen Mühe unterzogen habe, ich glaube, dass ich mit Gottes Beistand, den ich wahrscheinlich mehr euren frommen Gebeten als meinen Verdiensten verdanke, alles, was ich euch zu Anfang dieses Werkes versprach, voll und ganz erfüllt habe."
Boccaccio war Autodidakt; er beherrschte das Lateinische, wandte sich später dem Griechischen zu und übersetzte Homer. Doch der Kreis der Gelehrten war ihm zu eng für seine Botschaft. Zwar konnte er nicht darauf zählen, dass die kleinen Leute ihm zuliebe lesen lernten. Aber unter den müßigen Damen der besser gestellten Schicht gab es doch etliche, die diese Kunst beherrschten. Ihnen widmete er sein Buch.
"Edle Damen, zu deren Erheiterung ich mich dieser langwierigen Mühe unterzogen habe, ich glaube, dass ich mit Gottes Beistand, den ich wahrscheinlich mehr euren frommen Gebeten als meinen Verdiensten verdanke, alles, was ich euch zu Anfang dieses Werkes versprach, voll und ganz erfüllt habe."
Viele erotische Geschichten
Kongenial hat Filmemacher Pasolini einige von Boccaccios Novellen in Bilder übersetzt. Die Rahmenhandlung mit Pest und Flucht lässt er weg, auch auf solche gedankenschweren Stücke wie die später von Lessing aufgenommene Ringparabel hatte er es nicht abgesehen. Ihn interessierten die erotischen Geschichten, so eine wie die von Masetto im Kloster.
Der angeblich stumme Gärtner sucht mit gewissen Absichten Arbeit im Nonnenkloster. Es kommt, wie er es erhofft hat. Die Novizinnen, überzeugt, dass dieser simple Bursche seines Geburtsfehlers wegen nichts ausplaudern kann, tauchen eine nach der anderen in seiner Unterkunft auf und bitten recht herzlich darum, ihnen doch jene große Lust zu verschaffen, von der man draußen in der Welt so viel spricht. Masetto zögert nicht. Als aber auch noch die Äbtissin bei ihm vorspricht, wird es ihm zu viel. "Madonna", ruft er aus, "ich habe gehört, dass wohl ein Hahn für zehn Hennen ausreicht, dass aber zehn Männer nur mit Mühe eine Frau befriedigen. Ich aber muss hier neun Damen versorgen. So kann es nicht weitergehen!" Die Äbtissin staunt: "Gott sei gepriesen. Er hat um unserer Liebe willen dem Masetto die Sprache zurückgegeben." Und geht und läutet die Glocken.
Und da ist Alatiel, Tochter des Sultans von Babylon, die sich auf eine Schiffsreise zu ihrem künftigen Gemahl, dem König von Algarvien, begibt. Ein Sturm verschlägt sie an einen fremden Strand, und der junge Edelmann, der zu ihrer Rettung herbeieilt, verliebt sich so leidenschaftlich in die Schöne, dass der schließlich nichts anderes übrig bleibt, als ihm zu Willen zu sein. Doch sein Bruder hat auch ein Auge auf Alatiel geworfen; es gelingt ihm, sie zu erobern.
Und so geht es sage und schreibe neunmal weiter - als die Braut viel später beim König von Algarvien anlangt, ist sie bereits eine erfahrene Liebhaberin. Dem König erzählt sie, dass sie noch Jungfrau sei, der fragt auch nicht groß nach, und Boccaccio weiß sich mit seiner Leserschaft einig, wenn er diese siebte Geschichte des zweiten Tages so beendet:
"Geküsster Mund an Schönheit nichts büßt ein,
dem Monde gleich wird stets sein Reiz erneuert sein."
Vorgestellt sei noch Alibech, Heldin der zehnten Geschichte des dritten Tages, eine junge Berberin, die Christin werden möchte und Unterweisung bei einem Eremiten sucht. Der Einsiedler ist bereit, Alibech zu belehren. Und er erklärt ihr, dass christlicher Gottesdienst darin bestehe, den Teufel in die Hölle zu schicken. Er streift seine Kutte ab und bittet sie, sich gleichfalls zu entkleiden. Sie entdeckt bei ihm die "Auferstehung des Fleisches" und fragt erstaunt, was das denn sei. Er erklärt ihr, dass es sich bei seinem Glied um niemand anders als den Teufel handele. Da Alibech jedoch zwischen ihren Beinen die Hölle habe, sei es ein Leichtes, den Bösen dahin zu schicken, wohin er gehöre und so den Gottesdienst ordnungsgemäß zu vollziehen. Bald ist die Berberin eine begeisterte Dienerin Gottes, und nachdem sie wieder heim gewandert ist, erzählt sie jedem, der es hören will, wie wundervoll es um den christlichen Ritus bestellt sei.
Der angeblich stumme Gärtner sucht mit gewissen Absichten Arbeit im Nonnenkloster. Es kommt, wie er es erhofft hat. Die Novizinnen, überzeugt, dass dieser simple Bursche seines Geburtsfehlers wegen nichts ausplaudern kann, tauchen eine nach der anderen in seiner Unterkunft auf und bitten recht herzlich darum, ihnen doch jene große Lust zu verschaffen, von der man draußen in der Welt so viel spricht. Masetto zögert nicht. Als aber auch noch die Äbtissin bei ihm vorspricht, wird es ihm zu viel. "Madonna", ruft er aus, "ich habe gehört, dass wohl ein Hahn für zehn Hennen ausreicht, dass aber zehn Männer nur mit Mühe eine Frau befriedigen. Ich aber muss hier neun Damen versorgen. So kann es nicht weitergehen!" Die Äbtissin staunt: "Gott sei gepriesen. Er hat um unserer Liebe willen dem Masetto die Sprache zurückgegeben." Und geht und läutet die Glocken.
Und da ist Alatiel, Tochter des Sultans von Babylon, die sich auf eine Schiffsreise zu ihrem künftigen Gemahl, dem König von Algarvien, begibt. Ein Sturm verschlägt sie an einen fremden Strand, und der junge Edelmann, der zu ihrer Rettung herbeieilt, verliebt sich so leidenschaftlich in die Schöne, dass der schließlich nichts anderes übrig bleibt, als ihm zu Willen zu sein. Doch sein Bruder hat auch ein Auge auf Alatiel geworfen; es gelingt ihm, sie zu erobern.
Und so geht es sage und schreibe neunmal weiter - als die Braut viel später beim König von Algarvien anlangt, ist sie bereits eine erfahrene Liebhaberin. Dem König erzählt sie, dass sie noch Jungfrau sei, der fragt auch nicht groß nach, und Boccaccio weiß sich mit seiner Leserschaft einig, wenn er diese siebte Geschichte des zweiten Tages so beendet:
"Geküsster Mund an Schönheit nichts büßt ein,
dem Monde gleich wird stets sein Reiz erneuert sein."
Vorgestellt sei noch Alibech, Heldin der zehnten Geschichte des dritten Tages, eine junge Berberin, die Christin werden möchte und Unterweisung bei einem Eremiten sucht. Der Einsiedler ist bereit, Alibech zu belehren. Und er erklärt ihr, dass christlicher Gottesdienst darin bestehe, den Teufel in die Hölle zu schicken. Er streift seine Kutte ab und bittet sie, sich gleichfalls zu entkleiden. Sie entdeckt bei ihm die "Auferstehung des Fleisches" und fragt erstaunt, was das denn sei. Er erklärt ihr, dass es sich bei seinem Glied um niemand anders als den Teufel handele. Da Alibech jedoch zwischen ihren Beinen die Hölle habe, sei es ein Leichtes, den Bösen dahin zu schicken, wohin er gehöre und so den Gottesdienst ordnungsgemäß zu vollziehen. Bald ist die Berberin eine begeisterte Dienerin Gottes, und nachdem sie wieder heim gewandert ist, erzählt sie jedem, der es hören will, wie wundervoll es um den christlichen Ritus bestellt sei.
Lebt und lasst leben!
Sind das nun einfach nur freche Histörchen, zum Kichern und Weitererzählen hinter vorgehaltener Hand erdacht? Wer das ganze Buch liest, merkt bald: Erotik ist für Boccaccio eine Chiffre für das Leben selbst, und just im Angesicht des Todes gibt es kein besseres Thema. Das ist seine Botschaft an die Mitwelt und die Nachwelt: Leute, lacht über all die moralinsaueren Gebote, die euch das Liebesleben schwer machen. Allemal die Pfaffen, die euch Enthaltsamkeit predigen und selbst nichts anbrennen lassen, haben ihre Autorität als Lebensberater längst verspielt. Lebt und lasst leben!
Boccaccio wusste, dass er mit seinem Zehntagebuch eine Provokation losgelassen hatte: Weltlich war das Buch, es quoll über vor Sinnenfreude und war auch noch auf Italienisch verfasst, in der Sprache des Volkes. Konnte dieser Autor noch ernst genommen werden? Wo blieb die Verbeugung vor der Religion und ihren Forderungen, wo die Verpflichtung des Dichters, auf den Spuren Dantes nach höheren Weihen zu streben?
Wer heute Boccaccio liest und sich ein Bild von seiner Vielseitigkeit macht, wird mit Staunen den Zeitgenossen in ihm wahrnehmen. Wir erinnern uns: Die erzählende Gesellschaft des Dekameron wählte jeden Tag ein neues Oberhaupt. In Kommentaren wird Boccaccio als Demokrat bezeichnet; belegt ist seine Unfähigkeit, sich in der politischen Kaste des republikanischen Stadtstaates zu behaupten, sein Abscheu vor purer Machtpolitik. Er bestand darauf, dass Herrschaft eine Legitimation brauche, und er gemahnt die Mächtigen daran, dass sie ohne ihr Volk nichts wären.
"Was bringen Macht und Herrschaft mit sich außer Sorge, Angst und Not, Neid und Hass, Unglück und oft ein trauriges Ende. Die Obrigkeit sollte daran denken, dass die Untertanen keine Knechte, sondern Mitarbeiter sind. […] Was die Fürsten und Herren heute treiben, mag Gott wissen. Die Herren halten es für etwas Besonderes, Kriege nicht um Recht, sondern unrechtmäßig zu führen, sie verachten den Rat der Weisen und Frommen, bedrücken die Guten, erheben die Schlechten, belasten die Städte mit Steuern, quälen, enteignen, verbannen und töten sogar manchmal die Bürger. Sie regieren doch nur durch die Abstimmung und Wahl der Untertanen, deren Stärke sie fürchten. Wenn sie ihre Gewalt unbillig ausüben, wird ihre Herrschaft dahinschwinden. Was spreche ich überhaupt von Untertanen oder gemeinem Volk! Es darf keiner verachtet werden, und jeder Handelnde kann den Mut eines Helden haben."
Boccaccios Humanismus, verstanden als Plädoyer für soziale Gleichheit, ließ ihn schon damals auf ein Thema stoßen, das die europäischen Gesellschaften bis heute bewegt: die Lage der Frauen. Im Dekameron kommen Prinzessinnen, Nonnen, Marktfrauen und Mägde vor, die mit List und Mut ihre Bettpartner suchen; nicht immer geht es dabei fair zu, aber die Heldin ist eindeutig die Frau, die es wissen will und dafür Risiken eingeht. Um sich herum jedoch nahm Boccaccio Verhältnisse wahr, in denen erotische Freiheit, von Frauen beansprucht, praktisch nicht vorkam. Auch seine sympathischen liebeshungrigen Mädchen sind Teil seiner Utopie.
"Als Hilfe und Zuflucht der Liebenden will ich hundert Geschichten erzählen. Müssen doch die Frauen, abhängig von den Wünschen, Geboten und Befehlen ihrer Väter und Mütter, Brüder und Gatten die meiste Zeit in den engen Grenzen ihrer geschlossenen Häuslichkeit verbringen, wo sie, fast ohne Beschäftigung, gleichzeitig wollend und nicht wollend, sich ihren Gefühlen hingeben, die gewiss nicht immer die fröhlichsten sind."
Boccaccio, der unverheiratet blieb, schrieb auch eine Schmähschrift gegen die Frauen. Wahrscheinlich hat er es ihnen übel genommen, dass sie in ihrer subalternen Position letztlich verharrten. Seine Sprachkraft entfaltete sich aber weder in der Streitschrift, der Satire oder der Verserzählung so überzeugend wie in der Novelle. Durch das Dekameron hat er die Novelle zur Königsdisziplin erhoben. Gerade die kurze Form, das lernte die Literatur durch ihn, leistet Verdichtung und kann durch eine poetische Sprache, wie Boccaccio sie beherrschte, mehr sagen als das umfangreiche Epos. Ludwig Tieck hat diesen Punkt in seiner Verteidigung des Dekameron stark gemacht:
"So kann die Novelle zuweilen auf ihrem Standpunkt die Widersprüche des Lebens lösen, die Launen des Schicksals erklären, den Wahnsinn der Leidenschaft verspotten und manche Rätsel des Herzens und der Menschentorheit in ihre künstlichen Gewebe hinein bilden, dass der lichter gewordene Blick auch hier im Lachen oder in Wehmut das Menschliche, und im Verwerflichen eine höhere ausgleichende Wahrheit erkennt. Darum ist es dieser Form der Novelle vergönnt, über das gesetzliche Maß hinweg zu schreiten und Seltsamkeiten unparteiisch und ohne Bitterkeit darzustellen, die nicht mit dem moralischen Sinn, mit Konvenienz oder Sitte unmittelbar in Harmonie stehen."
Boccaccio wusste, dass er mit seinem Zehntagebuch eine Provokation losgelassen hatte: Weltlich war das Buch, es quoll über vor Sinnenfreude und war auch noch auf Italienisch verfasst, in der Sprache des Volkes. Konnte dieser Autor noch ernst genommen werden? Wo blieb die Verbeugung vor der Religion und ihren Forderungen, wo die Verpflichtung des Dichters, auf den Spuren Dantes nach höheren Weihen zu streben?
Wer heute Boccaccio liest und sich ein Bild von seiner Vielseitigkeit macht, wird mit Staunen den Zeitgenossen in ihm wahrnehmen. Wir erinnern uns: Die erzählende Gesellschaft des Dekameron wählte jeden Tag ein neues Oberhaupt. In Kommentaren wird Boccaccio als Demokrat bezeichnet; belegt ist seine Unfähigkeit, sich in der politischen Kaste des republikanischen Stadtstaates zu behaupten, sein Abscheu vor purer Machtpolitik. Er bestand darauf, dass Herrschaft eine Legitimation brauche, und er gemahnt die Mächtigen daran, dass sie ohne ihr Volk nichts wären.
"Was bringen Macht und Herrschaft mit sich außer Sorge, Angst und Not, Neid und Hass, Unglück und oft ein trauriges Ende. Die Obrigkeit sollte daran denken, dass die Untertanen keine Knechte, sondern Mitarbeiter sind. […] Was die Fürsten und Herren heute treiben, mag Gott wissen. Die Herren halten es für etwas Besonderes, Kriege nicht um Recht, sondern unrechtmäßig zu führen, sie verachten den Rat der Weisen und Frommen, bedrücken die Guten, erheben die Schlechten, belasten die Städte mit Steuern, quälen, enteignen, verbannen und töten sogar manchmal die Bürger. Sie regieren doch nur durch die Abstimmung und Wahl der Untertanen, deren Stärke sie fürchten. Wenn sie ihre Gewalt unbillig ausüben, wird ihre Herrschaft dahinschwinden. Was spreche ich überhaupt von Untertanen oder gemeinem Volk! Es darf keiner verachtet werden, und jeder Handelnde kann den Mut eines Helden haben."
Boccaccios Humanismus, verstanden als Plädoyer für soziale Gleichheit, ließ ihn schon damals auf ein Thema stoßen, das die europäischen Gesellschaften bis heute bewegt: die Lage der Frauen. Im Dekameron kommen Prinzessinnen, Nonnen, Marktfrauen und Mägde vor, die mit List und Mut ihre Bettpartner suchen; nicht immer geht es dabei fair zu, aber die Heldin ist eindeutig die Frau, die es wissen will und dafür Risiken eingeht. Um sich herum jedoch nahm Boccaccio Verhältnisse wahr, in denen erotische Freiheit, von Frauen beansprucht, praktisch nicht vorkam. Auch seine sympathischen liebeshungrigen Mädchen sind Teil seiner Utopie.
"Als Hilfe und Zuflucht der Liebenden will ich hundert Geschichten erzählen. Müssen doch die Frauen, abhängig von den Wünschen, Geboten und Befehlen ihrer Väter und Mütter, Brüder und Gatten die meiste Zeit in den engen Grenzen ihrer geschlossenen Häuslichkeit verbringen, wo sie, fast ohne Beschäftigung, gleichzeitig wollend und nicht wollend, sich ihren Gefühlen hingeben, die gewiss nicht immer die fröhlichsten sind."
Boccaccio, der unverheiratet blieb, schrieb auch eine Schmähschrift gegen die Frauen. Wahrscheinlich hat er es ihnen übel genommen, dass sie in ihrer subalternen Position letztlich verharrten. Seine Sprachkraft entfaltete sich aber weder in der Streitschrift, der Satire oder der Verserzählung so überzeugend wie in der Novelle. Durch das Dekameron hat er die Novelle zur Königsdisziplin erhoben. Gerade die kurze Form, das lernte die Literatur durch ihn, leistet Verdichtung und kann durch eine poetische Sprache, wie Boccaccio sie beherrschte, mehr sagen als das umfangreiche Epos. Ludwig Tieck hat diesen Punkt in seiner Verteidigung des Dekameron stark gemacht:
"So kann die Novelle zuweilen auf ihrem Standpunkt die Widersprüche des Lebens lösen, die Launen des Schicksals erklären, den Wahnsinn der Leidenschaft verspotten und manche Rätsel des Herzens und der Menschentorheit in ihre künstlichen Gewebe hinein bilden, dass der lichter gewordene Blick auch hier im Lachen oder in Wehmut das Menschliche, und im Verwerflichen eine höhere ausgleichende Wahrheit erkennt. Darum ist es dieser Form der Novelle vergönnt, über das gesetzliche Maß hinweg zu schreiten und Seltsamkeiten unparteiisch und ohne Bitterkeit darzustellen, die nicht mit dem moralischen Sinn, mit Konvenienz oder Sitte unmittelbar in Harmonie stehen."
Kein großer Dichter geworden
Des urbanen Lebens mit seinen sozialen Spannungen und Kämpfen überdrüssig, suchte Boccaccio im Alter die Beschaulichkeit des kleinen Certaldo. Hier sprach er mit seinen Büchern, blickte zurück auf sein Leben und grämte sich über sein Versagen. War er doch, wie er fand, kein großer Dichter geworden.
"Mit übermenschlicher Begeisterung trat ich auf den bereits geebneten Weg, von der Sehnsucht nach einem ewig währenden Namen, von der Zuversicht meines berühmten Meisters Petrarca geleitet. Allerdings, als ich mich dann bald von häuslichen, bald von öffentlichen Pflichten in Beschlag nehmen ließ und die hohen Gipfel schier noch den Himmel überragen sah, begann ich nachzulassen. Der Mut sank immer mehr, die Kräfte fehlten, die Hoffnung aufs Gelingen schwand. Schon grau geworden blieb ich stehen, und ich vermag den Schritt nicht zu wenden und mich zu Höherem zu erheben."
Giovanni Boccaccio starb 62-jährig. Seinen Grabspruch hat er selbst verfasst. Aus ihm spricht dann doch ein verhaltener Stolz auf seine Leistung.
"Hier unterm Stein ruh'n die sterblichen Reste Johannis.
Aber sein Geist sitzt vor Gott, geschmückt mit dem Glanz jenes Werkes,
das er auf Erden vollbrachte. Vater war ihm Boccaccio,
Heimat die Stadt Certaldo, und Dichten war sein Beruf."
Barbara Sichtermann lebt als freie Schriftstellerin in Berlin. 2012 erschien ihr Buch Was Frauen Sex bedeutet bei Brandes und Apsel.
"Mit übermenschlicher Begeisterung trat ich auf den bereits geebneten Weg, von der Sehnsucht nach einem ewig währenden Namen, von der Zuversicht meines berühmten Meisters Petrarca geleitet. Allerdings, als ich mich dann bald von häuslichen, bald von öffentlichen Pflichten in Beschlag nehmen ließ und die hohen Gipfel schier noch den Himmel überragen sah, begann ich nachzulassen. Der Mut sank immer mehr, die Kräfte fehlten, die Hoffnung aufs Gelingen schwand. Schon grau geworden blieb ich stehen, und ich vermag den Schritt nicht zu wenden und mich zu Höherem zu erheben."
Giovanni Boccaccio starb 62-jährig. Seinen Grabspruch hat er selbst verfasst. Aus ihm spricht dann doch ein verhaltener Stolz auf seine Leistung.
"Hier unterm Stein ruh'n die sterblichen Reste Johannis.
Aber sein Geist sitzt vor Gott, geschmückt mit dem Glanz jenes Werkes,
das er auf Erden vollbrachte. Vater war ihm Boccaccio,
Heimat die Stadt Certaldo, und Dichten war sein Beruf."
Barbara Sichtermann lebt als freie Schriftstellerin in Berlin. 2012 erschien ihr Buch Was Frauen Sex bedeutet bei Brandes und Apsel.