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Gloria für Kohlhaas und nerdige Wochenendkrieger

Der argentinische Film "Gloria" erhielt den Silbernen Bären für die beste Hauptdarstellerin. Außerdem starten der Dokumentarfilm "Wochenendkrieger" über leidenschaftliche Rollenspieler sowie die fantasievolle Satire "Kohlhaas oder die Verhältnismäßigkeit der Mittel."

Von Jörg Albrecht |
    "Also, ich will gar nicht lange drum rum reden: Die Produzenten sind ausgestiegen, die Förderung ist geplatzt und das Restgeld ist auch weg."

    Ein Albtraum. Ja, der Super-GAU für jeden Filmemacher. Direkt am zweiten Tag der Dreharbeiten ist Schluss. Erwischt hat es hier Jung-Regisseur Lehmann, der in Bayern mit großem Aufwand das Historiendrama "Kohlhaas" inszenieren wollte. Ohne Geld aber kein Film! Doch Crew und Darsteller haben nicht mit Lehmanns Ehrgeiz gerechnet. Der will sich – ganz im Sinne des Autors von Michael Kohlhaas – nicht unterkriegen lassen.

    "Kleist hat gesagt: Ein freier, denkender Mensch bleibt da nicht stehen, wo das Schicksal ihn hinstößt. – Wow!"

    Konkret heißt das eine abgespeckte Version der Literaturverfilmung. Ohne Kulissen. Ohne Kostüme. Dafür aber mit Fantasie. Unglaublich viel Fantasie ist gefragt – zuerst bei den Darstellern, später ganz sicher auch beim Publikum. So kommt Kohlhaas jetzt auf einem Ochsen statt auf einem Pferd angeritten und kämpft mit imaginären Waffen.

    "Kann man sich alles vorstellen. Kostet null Cent. Und trotzdem ist es da. Irgendwie. Man spürt es. Man kann sich auch Schwerter vorstellen. Man kann sich brennende Burgen vorstellen. Man braucht sozusagen eigentlich das Geld nicht. – Was heißt denn das alles für unsere Gagen? – Da kann ich nur versprechen, dass jeder Cent, den der Film einspielen wird, auch in eure Gagen fließen wird."

    Lehmann heißt nicht nur der Regisseur im Film. Lehmann – Aron Lehmann – heißt auch der Regisseur und Drehbuchautor, der sich "Kohlhaas und die Verhältnismäßigkeit der Mittel" ausgedacht hat. Sicher kein Zufall. In einem Land, in dem die Filmförderung über das Gelingen oder Scheitern von Filmprojekten entscheidet, ist Lehmann eine treffende Satire gelungen. Lakonisch und hintersinnig verbindet er die beiden Handlungsstränge von den wachsenden Spannungen am Filmset sowie Szenen aus dem gedrehten Kohlhaasepos.

    "Aber du hast den Kohlhaas auch nicht einen Zentimeter begriffen. Fass mich nicht an! – Ich will dich nicht anfassen. Ich will was rauslassen bei dir. – Fass mich noch einmal an und du hast eine. – Das ist doch mal ein Ton. Wo war der denn? Kannst du die Ebene zwischen Fiktion und Privatpersonen – kannst du diese Unterscheidung treffen oder kannst du sie nicht treffen? – Nein. Ich habe dir in unserem ersten Gespräch gesagt, dass ich diese Unterscheidung nicht länger akzeptieren will in meiner Arbeit."

    Der Lehmann im Film - grandios gespielt von Robert Gwisdek - ist dabei nicht nur ein Bruder im Geiste von Kohlhaas. Er ähnelt vor allem Don Quixote. Über den hat Terry Gilliam vor einigen Jahren einen Film drehen wollen und musste das Projekt mit Johnny Depp – Ironie des Schicksals – wegen widriger Umstände abblasen. Die sehenswerte Dokumentation "Lost in La Mancha" – erschienen auf DVD – erzählt diese Geschichte des Scheiterns. Aron Lehmann tut das seinem Regisseur nicht an. Und übrigens hat er auch Filmförderung für "Kohlhaas oder die Verhältnismäßigkeit der Mittel" bekommen. Empfehlenswert.

    "Kohlhaas oder die Verhältnismäßigkeit der Mittel": Empfehlenswert.

    Kreativität und Vorstellungskraft – zwei Eigenschaften, ohne die es auch jene Inszenierungen nicht geben würde, die Andreas Geiger in der Dokumentation "Wochenendkrieger" zeigt. Seine fünf Protagonisten drehen zwar keinen Film, aber wie Schauspieler werden auch sie regelmäßig zu einer anderen Person. Sven, Nicole, Gregor, Chris und Dirk sind Rollenspieler. Von montags bis freitags stehen sie u.a. vor Schulklassen oder am Fließband eines Autoherstellers. An den Wochenenden werden sie dann zu Elfen, Orks und Untoten.

    "Live-Rollenspiel ist im Grunde genommen ein recht komplexes, soziales Zusammenspiel. Also man interagiert mit anderen. Niemals wirst du mich oder die Meinen aus unseren Landen verscheuchen, vertreiben oder gar töten."

    Der Begriff vom Nerd, vom Sonderling, schießt einem durch den Kopf, wenn man die Rollenspieler in den sonderbaren Kostümierungen bei ihrem Kampf von Gut gegen Böse beobachtet. So sieht "Der Herr der Ringe" – nachgespielt auf deutschen Weiden – aus. Andreas Geiger bildet diesen Identitäts-Tausch vorurteilsfrei ab, dringt ein in die Parallelleben seiner fünf exemplarischen Rollenspieler. Schade nur, dass man nicht mehr über die aufgeführten Geschichten und die ausgeklügelte Dramaturgie der Inszenierungen erfährt. "Wochenendkrieger": Akzeptabel.

    "Wochenendkrieger": Akzeptabel.

    "Du hast etwas – ich weiß auch nicht. Deine Persönlichkeit hat mich ganz verrückt gemacht"

    Wer würde Rodolfo da widersprechen wollen? Der geschiedene Rentner ist hin und weg von Gloria. So wie auch wir die Frau mit der großen Brille und dem ansteckenden Lachen von Anfang an mögen. Gloria steht im Zentrum von Sebastián Lelios Porträt einer chilenischen Endfünfzigerin, die ihren eintönigen Alltag hinter sich lassen möchte. Rodolfo wäre für Gloria, die selbst schon viele Jahre geschieden und Mutter längst erwachsener Kinder ist. Rodolfo wäre genau der Richtige für den Start ins letzte Lebensdrittel. Obwohl auch er sich verliebt hat, scheint er nicht bereit, Gloria zu einem festen Bestandteil seines Lebens zu machen. So hat Rodolfo seinen Töchtern bislang nichts von der neuen Beziehung erzählt.

    "Und warum sagst du ihnen nicht, dass du mit mir zusammen bist. – Ich weiß, dass das eine Situation für die Zwei wäre, die sie auch nur ansatzweise verstehen könnten. Du bist jetzt sogar der wichtigste Teil meines Lebens. – Dann will ich das auch sehen. Denn wenn du deinen Töchtern nicht die Wahrheit erzählst, glaube ich dir nicht."

    Dass der Zuschauer diese Gloria, der Paulina García ganz wunderbare intime Züge verleiht, in sein Herz schließt, ist sowohl das Verdienst der Darstellerin als auch eines klugen Drehbuchs und einer einfallsreichen Regie. Sebastián Lelio zeigt in seinem tragikomischen Frauenporträt Interesse an Wahrhaftigkeit, an Momenten der Lebensfreude und der Melancholie. "Gloria": Empfehlenswert.

    "Gloria": Empfehlenswert.