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Glosse: Sportjahr 2018
Was für den Fußball sich erlaubt wird

Schwächelnde Nationalspieler, ein Rücktritt und wütende Bayern-Bosse, die austeilen und sich auf das Grundgesetz berufen: Das Sportjahr 2018 hatte es in sich - nicht nur in Sachen Fußball, wie unser Kolumnist Jürgen Roth meint. Ein bissiger Blick auf das was war, was bleibt und was kommt.

Von Jürgen Roth | 01.01.2019
    Bundestrainer Joachim Löw und Mezut Özil unterhalten sich während der WM 2018
    Lang, lang ist's her: Mesut Özil und Jogi Löw gehen längst getrennte Wege. (dpa/picture alliance/Christian Charisius)
    Es war "wieder ein sehr bewegtes Sportjahr", lautete kürzlich das Fazit des SZ-Podcasts. "Und nun zum Sport". Oh yeah, ein bewegtes Jahr liegt hinter uns - offenbar verrückt gewordenen, weil grenzenlos duldsamen Chronisten, ein Jahr voller bewegter Männer zumal.
    Ein Lothar Matthäus zum Beispiel stemmte – wir hörten zufällig nebenher hin – am 6. Oktober das hocherregende Urteil: "Das war Weltklasse gemacht, wie er das gemacht hat", worauf Kollege Calmund in dieser geschlossenen Abteilung namens Sky-Studio flugs fröhlich bebend schwadronierte, es sei irgendwo "die Stimmung super vom Gefühl her". Eine Stimmung vom Verstand her muss halt noch erfunden werden.
    Bierhoff: "Es war ein unzufriedenes Jahr"
    Ein etwas anders gelagertes Resümee zog der studierte Herr Bierhoff im November vor der letzten Partie der lahmenden germanischen Sturmtruppe in der von den genialen UEFA-Gehirnen ausgebrüteten, allseits jubelnd begrüßten Nations League, deren Sieger im Juni 2019 – uns hält es schon heute kaum auf den Sitzen – ermittelt werden wird.
    Bundestrainer Joachim Löw (l) und Teammanager Oliver Bierhoff sitzen bei der Präsentation der Analyse zur Fußball-WM am 29.08.2018 in München nebeneinander.
    Ein schauriges Fußballjahr für Bundestrainer Joachim Löw (l) und Teammanager Oliver Bierhoff. (picture alliance / dpa / Lino Mirgeler)
    "Es war ein unzufriedenes Jahr", äußerte der Marketingmagier jener Mannschaft, die während der lustigen WM beim bösen Russ’ als ein Haufen hochnäsiger, restlos pomadiger Selbstsüchtel totalitär in die Grütze gegriffen hatte.
    In der Folge ward am Hofe des DFB, hieß es im SZ-Podcast, beschlossen, "den Trainer Löw zu entlassen und durch den Trainer Löw zu ersetzen". Das dankte Mr. Cheap Sunglasses, der joggende Joachim, seinen Gebietern, indem er der, scheint’s, mit nichts anderem denn mit Bläh- und Blafußball beschäftigten Öffentlichkeit, den von den Philosophen dieser verwesenden Welt nimmer zu entschlüsselnden Satz vor den bedröhnten Kopf knallte: "Ich verspüre Selbstreflexion." Womöglich verspürte er da, im August, zudem eine erneuerte super Stimmung vom Gefühl her. Jedenfalls verleihen wir dem badischen Babbelbarbaren den Arschgeredepreis des Sportjahres 2018, freilich nicht wissend, ob er diesbezüglich im neuen Anno noch Luft nach oben hat, beispielsweise dergestalt: "Ich habe mir Erkenntnislust zu gewinnen erdacht."
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    Dieter Thoma: "Er hat an seinem Material gefeilscht"
    Nichts er- oder gedacht hatte sich in der kalten Jahreszeit, stellvertretend für sämtliche Repräsentanten seiner peinvollen Profession, Skisprungexperte Dieter Thoma, da er ins Mikrofon schnatterte: "Er hat an seinem Material gefeilscht."
    Zuviel wiederum sinnierten nach Ansicht des ZDF-Reporters Christoph Hamm die im Wintersportmekka Pyeongchang antretenden Biathlonstaffeldamen: "Das ist ja manchmal die Krux, dass man Gedanken im Kopf hat, die da nicht hingehören." Etwa solche, die südkoreanische Fans der kanadischen Shorttrackerin Kim Boutin per Twitter übermittelten: "Wenn ich dich finde, stirbst du."
    Martin Fourcade (l) aus Frankreich und Benedikt Doll (r) aus Deutschland
    Kein Interesse am Biathlon in Pyeongchang 2018 (dpa-Bildfunk / Hendrik Schmidt)
    Den Weg ins Biathlonstadion gefunden hatten circa vier südkoreanische Zuschauer. Co-Bundestrainer Gerald Hönig sprach von einem "Trauerspiel", der sid befand, die Winterspiele seien "längst zum Ladenhüter geworden", die Süddeutsche Zeitung legte angesichts gähnender Leere auf nahezu allen Rängen nach: "Winter-Olympia steht total auf der Kippe." Ebendiese allzu bedauerliche Tatsache konterte die Witzfigur des Jahres, der OK-Sprecher Sung Baik You, mit dem Statement: "Wenn Plätze im Fernsehen als leer wahrgenommen werden, bedeutet das nicht, dass die Zuschauer nicht dagewesen sind." Tja, gegen dergleichen logischen Irrsinn sieht sogar Bundesbeauty Löw alt aus.
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    Keine zwei Monate später waren unsere raffseligen Funktionärswirrschädel wieder in der ach so hässlichen Realität angekommen: in einem, schrieb Thomas Kistner, Korruptions- und Bestechungs- und Doping-"Sumpf, in dem nicht nur Biathlon versinkt". Weiß Gott, keine üble Leistung: Neben Stimmenkäufen und vergnüglichen Schmiergeldreisen wurden – über den verseuchten Biathlonverband hinausgreifend – rund 9.000 verdächtige Drogenproben ruchbar. Hier besteht allerdings heuer weiterhin eindeutig Steigerungspotenzial, das die Skijäger bereits im März bei der WM in Östersund und die allerhehrsten Leichtathleten bei den Titelkämpfen in – na, wo? –, genau: im sauberen und klimatisch vorzüglich geeigneten Ländle Katar auszureizen in der Lage sein werden. Darauf setzen wir unser Honorar für diesen saustarken Radiobeitrag, und zwar in der von Oliver Kahn und der DFL beworbenen Wettbude um die Ecke.
    Ein Foto und seine Folgen
    Im Mai feierte dann nach dem Gewinn der Champions League nicht bloß Real Madrids Noch-Spitzenheiland Ronaldo sich und seine Mitstreiter als "die, die sich dopen"; auch die Granaten des Jahres, die deutschen Auswahlbolzer Özil und İlkay Gündoğan, gingen in die vollen und posierten, vermutlich von ihren berufsbedingt degoutanten Beratern angetrieben, für ein seither weltberühmtes Foto mit dem Faschisten Erdoğan.
    Recep Tayyip Erdogan (2.v.r.), Staatspräsident der Türkei, steht zusammen mit den Premier League Fußballspielern Ilkay Gündogan (l), Mesut Özil (2.v.l.) und Cenk Tosun (r). 
    Recep Tayyip Erdogan (2.v.r.), Staatspräsident der Türkei, steht zusammen mit den Premier League Fußballspielern Ilkay Gündogan (l), Mesut Özil (2.v.l.) und Cenk Tosun (r). (Uncredited / Pool Presdential Press Service / AP / dpa)
    Nicht eine Sekunde in Erwägung ziehend, was passiert wäre, hätte, sagen wir, Thomas Müller mit Monsieur Gauland ein tête-à-tête runtergerockt, brach umgehend eine Staats- und/oder Gesellschaftskrise aus, während derer allenthalben die Rassismuskeule gegen jene geschwungen wurde, die Kritik an einer politischen und insbesondere merkantilen Interessen gehorchenden Inszenierung formulierten, die ein paar geschäftstüchtige und geltungsgierige Kasper ausgeheckt hatten.
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    Zu diesem kalkulierten Theater gehörte der ostentativ schmollende Stinkstiefel Özil genauso wie der lächerliche dreiteilige Rücktritts- und Rundumschlagschrieb aus seiner Entourage, in dem der täppische DFB-Präsident Reinhard Grindel derart unverschämt beleidigt wurde, dass man sich gezwungen sah, ihn zu verteidigen. Wie bitte? Es sei in dem ganzen Getöse um Integration gegangen? Eher fordert die AfD die Abschaffung der Grenzen.
    Uli Hoeneß: "Mesut Özil hat seit Jahren einen Dreck gespielt"
    Glücklicherweise rückte unsere Edelgestalt des Jahres, der Herold Uli Hoeneß, die Maßstäbe zurecht. Er sei froh, dass "der Spuk" ein Ende habe, blökte er: "Mesut Özil hat seit Jahren einen Dreck gespielt. Den letzten Zweikampf hat er vor der WM 2014 gewonnen. Und jetzt versteckt er sich und seine Mistleistung hinter diesem Foto."
    Pressekonferenz des Führungstrios des FC Bayern am 19.10.2018. übertragen live im vereinseigenen Kanal fcbayerntv, v.li: Karl Heinz Rummenigge, (Vorstandsvorsitzender), Uli Hoeneß (Präsident Bayern München) und Hasan Salihamidzic (Sportdirektor Bayern München) geben eine gemeinsame Pressekonferenz und kritisieren die negative Berichterstattung der Medien.
    Gewaltiger Auftritt: Die Bayern-Bosse setzten 2018 zur Medienschelte an. (SVEN SIMON / dpa / picture alliance)
    Einmal in Fahrt und bei Laune, teilte Hoeneß etwa gegen den Leverkusener Bellarabi aus, er habe "geisteskrank" gefoult, und stellte am 19. Oktober auf der besten Pressekonferenz aller Zeiten des größten Vereins aller Zeiten, des FC Bayern München, klar, der Verteidiger Juan Bernat sei abgeschoben worden, weil er "einen Scheißdreck gespielt" habe; wohlgemerkt, der Double-bind-Forschung prächtigstes Anschauungsmaterial liefernd, im Anschluss an Karl-Heinz Rummenigges epochal blöde und anmaßende Predigt über Medienmoral und sprachliche Sittlichkeit, die in den tränentreibend mahnenden Worten gipfelte: "Ich möchte vielleicht in diesem Zusammenhang mal daran erinnern, an Artikel 1 des Grundgesetzes. Der heißt: ‚Die Würde des Menschen ist unantastbar.‘ Ich weiß nicht, ob der Fußball da eine Sonderrolle einnimmt oder ob für den Fußball da eine eigene Gesetzgebung, von gewissen Medien zumindest, sich erlaubt wird."
    Sportsatz 2018: "Ribéry zieht sich noch mal die Jacke an"
    Aus all dem unaufhörlichen geistzertrümmernden Gelärme und Drecksgeschwafel stach im Infernaljahr 2018 – von eskalierenden Fanprotesten, tumultuarischen Jahreshauptversammlungen und nicht zuletzt Gianni Infantinos gigantischen Geheimgaunereien hier bitterlich zu schweigen – indes schließlich jener kolossale Satz heraus, den Sky-Reporter Sebastian Hellmann am 22. Dezember vor der Begegnung Frankfurt – FC Bayern aus den Katakomben des Waldstadions in die Erdumlaufbahn jagte: "Ribéry zieht sich noch mal die Jacke an."
    Doch, doch – "Ribéry zieht sich noch mal die Jacke an." Auf einen ebenbürtigen Kracher werden wir 2019 gewiss vergeblich warten. "Ribéry – zieht sich – noch mal – die Jacke an." Nee, für diesen Hammer, den Sportsatz des Jahres 2018, ist der Claas-Relotius-Preis fällig. Howgh! So sei es. Zum heiligen Hoeneß aber auch!