Die Liste jener Politiker, die gleichzeitig als Schriftsteller ihr Glück versuchten, ist lang. Wer Negativbeispiele sucht, der denkt unweigerlich an die drei Romane des irakischen Diktators Saddam Hussein. Positiv aufgefallen sind dagegen der frühere tschechische Botschafter Jiří Gruša, der in den 1970er-Jahren mit erotischer Lyrik für Aufsehen gesorgt hat. Und der Literatur-Nobelpreis des Jahres 1953 wurde verliehen an den britischen Premierminister Winston Churchill.
Rund sechseinhalb Dekaden später heißt der ranghöchste Minister im Vereinigten Königreich Boris Johnson, und – sic transit gloria mundi – auch er hat sich hervorgetan als Poet, mit der hierzulande im Mai 2012 erschienenen Klamotte "72 Jungfrauen". Im Original übrigens ein Jahr vor den Londoner Anschlägen des 7. Julis 2005 erschienen. In Johnsons Roman wird ein Attentat auf den amerikanischen Präsidenten angekündigt, der am Tag der Romanhandlung in London auftreten soll.
Verpeilte Terroristen, dösige Polizisten
Erzählt wird die Geschichte aus der Sicht eines Abgeordneten, der eigene Probleme hat. Er ist in einen privaten Skandal verwickelt, der ein gefundenes Fressen für die britische Yellow Press ist. Und die Veröffentlichung dieses privaten Skandals steht unmittelbar bevor. Nach Revolverblatt klingen ebenso die weiteren Figuren von "72 Jungfrauen". Es treten unter anderem auf: die verpeiltesten Al-Quaida-Terroristen seit dem Kinofilm "Four Lions". Es stümpern sich durch den Plot einige extrem dösige Polizisten, die zu allem taugen - nur nicht zur Verhinderung eines Attentats.
Bereits bei Erscheinen von Boris Johnsons Roman stellte sich die Frage, ob ein ernstzunehmender Politiker mit Ergüssen wie diesen in die Öffentlichkeit treten darf. Zur Verteidigung des neuen britischen Premiers: Johnson teilt in "72 Jungfrauen" nicht nur gegen Islamisten, Polizisten und seine eigene konservative Partei, die Tories aus, sondern auch gegen den US-amerikanischen Geheimdienst, der sich in einer Romanszene aufstacheln lässt von einem Werbefilm der Whiskey-Destillerie Jura:
"Irgendein Typ von der CIA durchsuchte das Internet nach verdächtigen Seiten und stieß auf diesen Werbefilm von Jura. Er sah, wie all diese grässlichen Flaschen mit geheimnisvoller gelber Flüssigkeit gefüllt wurden. Und wisst ihr, was passierte? Sie haben ernsthaft ein Team nach Großbritannien geschickt, in dem Glauben, es handele sich um Massenvernichtungswaffen."
Diese Szene aus Boris Johnsons satirischem Roman mag exemplarisch für den sehr schrägen Humor des britischen Premiers stehen - geschrieben vor seiner politischen Karriere, aber schon damals auf Pointe und mit zahlreichen Effekten versehen, also stilistisch nicht weit entfernt von der Art und Weise, wie Johnson sich als Politiker geriert. Der Nobelpreis, wie Winston Churchill ihn bekam für seine Tagebücher, ist für Boris Johnson in weiter Ferne – aber Gleiches galt bis vor einigen Wochen auch für den Posten des Premierministers. Man mag es sich nicht vorstellen, doch in Zeiten wie diesen scheint selbst dieser Literaturnobelpreis im Bereich des Möglichen.