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Glücksfall für Brecht-Fans

Wie Bertolt Brecht die Notizbücher 1 bis 3 verwendet hat, das lässt sich anhand dieser vorbildlichen Edition, die durch ihre überaus informativen Erläuterungen besticht, sehr anschaulich nachzuvollziehen.

Von Michael Opitz |
    Bertolt Brechts Notizbücher 1 bis 3 sind jetzt beim Suhrkamp Verlag erschienen. Wie Brecht seine Notizbücher benutzte, lässt sich anhand dieser vorbildlichen Edition, die durch ihre überaus informativen Erläuterungen besticht, sehr anschaulich nachzuvollziehen.

    "Was wir bisher nicht unterstützt haben, ist Literatur."

    Doch dann entschied sich die Otto Wolff Stiftung, zu deren Vorstand Claudia Oetker gehört, anders und finanzierte den ersten Band von Brechts Notizbüchern – wobei es nicht blieb.

    "Wir haben von der Stiftung bewilligt, dass wir auch den zweiten Band finanzieren."

    Dr. Winfried Benz:

    ""Allerdings ist die Otto Wolff Stiftung eine relativ kleine Stiftung und [...] insofern hoffen wir schon, dass die Otto Wolff Stiftung mit der Finanzierung [...] Anstoß gibt für [...] weitere gute Donationen, die den gesamten Weg dann weiter mitverfolgen."

    Die Ausgabe von Brechts Notizbüchern ist ein Glücksfall für die Brecht-Interessierten und die Brecht-Forschung und es wäre fatal, würde diese wichtige Edition aus finanziellen Gründen auf der Strecke bleiben.

    "Es ist eine der wichtigsten Funktionen von Neueditionen [...] in die Auseinandersetzung mit einem Autor neue Anstöße hineinzubringen."

    Professor Roland Reuß von der Universität Heidelberg, dessen zusammen mit Peter Staengle herausgegebene Kleist und Kafka Editionen die Editionspraxis maßgeblich veränderten

    "Und das ist genau das, was wir jetzt haben. Diese Anstöße lassen sich, weil sie der Sache nach radikalphilologisch sind: Es werden die Dokumente erläutert, es wird den Leuten nichts aufs Hirn gedrückt, was sie dabei zu denken haben, sondern es wird versucht, ihnen die Möglichkeit zu geben, sich selber Gedanken zu machen. Dadurch bekommen sie in die Bildung eines neuen Brecht-Bildes auch Bewegung hinein. Das scheint mir extrem wichtig."

    54 Notizbücher Brechts finden sich im Bertolt-Brecht-Archiv in Berlin. Um eine Neuentdeckung handelt es sich nicht. Dass es sie gibt, wusste man seit Jahren. Aber erst jetzt werden sie in einer eigenen Edition als Ergänzung zur dreißigbändigen Berliner und Frankfurter Brecht-Ausgabe publiziert und nun erst wird einsichtig, welche immense Bedeutung sie für die Brecht-Forschung darstellen. Brecht hatte immer ein Notizbuch dabei, um spontane Einfälle festzuhalten, um Ideen zu skizzieren und erste Überlegungen für Gedichte und Stücke festzuhalten. Die ersten drei Notizbücher, die jetzt erschienen sind, stammen aus den Jahren von 1918 bis 1920.

    "Biografisch gehören sie in eine sehr bewegte Zeit. Es ist die Zeit, wo die revolutionären Unruhen von Spartakus auch nach Augsburg kommen und er als Augenzeuge dabei ist."

    Martin Koelbel, zusammen mit Peter Villwock Herausgeber der Notizbücher Brechts:

    "Es ist aber auch die Zeit der ersten Liebe, des ersten Beischlafs, der ersten Vaterschaft und insofern ist es nicht überraschend, wenn in diesen Notizbüchern sehr viele Liebesgedichte zu finden sind, zum Teil sehr erotische, zum Teil sehr zur Sache gehende bis hin zur Pornographie. Es ist aber auch die Zeit, in der er sehr viel mit seinen Freunden zusammenarbeitet. Er ist also nicht ein Autor, der in seiner Schreibstube alleine sitzt, sondern der sich in Augsburg einen Kreis von Freunden schafft, mit denen er dann auch direkt im Gespräch über seine Texte die Texte weiter entwickelt. Also das sind vor allem Caspar Neher und Hans Otto Münsterer."

    Zwar studierte Brecht zu dieser Zeit an der Ludwig-Maximilians-Universität in München Medizin, aber er besuchte auch geisteswissenschaftliche Vorlesungen und Seminare. Dass er auch daran gedacht hat, sich im Fach Germanistik mit einer Arbeit über "Die Kritik im Lichte unsrer Klassiker" zu promovieren, hat Brecht seinem Notizbuch anvertraut. Bei der Auswahl seiner Notizbücher hatte Brecht bestimmte Vorlieben. Ende der zwanziger Jahre verwendet er schwarze Efalin Hefte, von denen sich neun erhalten haben. In den 1930iger Jahren griff er auf rosafarbene Celka-Transparent Blöcke zurück. Die Notizbücher mussten in die Jackentasche passen, und dass er sie dort verstaut hat, darauf weisen deutlich sichtbare Knickstellen hin. Brecht nummerierte die Notizbücher und er versah einige auch mit seinem Namen, den er entweder selber herausriss oder herausreißen ließ, als er gezwungen war zu emigrieren. Die beiden Herausgeber leisten bei der Sichtung, Entzifferung und Kommentierung der Notizbücher Grundlagenarbeit. Die Resultate dieser Arbeit sind erstaunlich, denn selbst wenn die Ausgabe auf Texte verweist, die man zu kennen glaubt, werden sie in einem überraschenden Kontext präsentiert und es ergeben sich neue, verblüffende Zusammenhänge. Das zeigt sich auch an der Urfassung eines der berühmtesten Brecht-Gedichte mit dem Titel "Erinnerung an die Marie A.", das zum ersten Mal in dieser Notizbuchausgabe abgedruckt wird. Peter Villwock:

    "Er schreibt das Gedicht in einem Zug, relativ reinschriftlich nieder. Und er schreibt es [...] witziger Weise auch in einem Zug und zwar auf seiner ersten Zugfahrt von Augsburg nach Berlin [...]. Das wissen wir, weil er unter das Gedicht eingerahmt geschrieben hat: ‚abends 7 h im Zug nach Berlin’. [...] Das ist ein sehr filigranes Gebilde und dann kommt die erste Distanzierung im Zug nach Berlin – eingerahmt darunter, datiert, lokalisiert. Danach, als nächster Schritt, schreibt er oben darüber, in den kleinen Freiraum, der oben noch geblieben ist: ‚Sentimentales Lied’. Das heißt, er ironisiert die Emotionalität des Gedichts. Immer noch nicht genug: Als nächster Schritt schreibt er – wahrscheinlich ziemlich bald – hinten ‚dran: ‚No 1004’ – ‚Sentimentales Lied No 1004’. Das ist eine Mozartparodie auf Mozarts ‚Don Giovanni’ und die berühmte Registerarie des Leporello. Der Diener von Don Giovanni führt ja Buch über Don Giovannis Eroberungen und der Höhepunkt des Registers ist: In Spanien sind es schon 1003. Und da setzt Brecht jetzt noch einen darauf: ‚1004’. Und dann, wiederum einen Schritt später, schreibt er noch unter das Gedicht in den Freiraum der da auf der Notizbuchseite noch geblieben ist ein fiktives Zitat von einem Geheimrat Kraus: ‚Im Zustand der gefüllten Samenblase sieht der Mann in jedem Weib Aphrodite.’ Und das wiederum ist eine Parodie auf den Geheimrat Goethe: ‚Du siehst mit diesem Trank im Leibe / Bald Helenen in jedem Weibe."

    Brecht verwahrte ein Notizbuch in der Rock- oder Jackentasche auf der linken Seite. Es lag ihm am Herzen. Es steckte dort gleich weit entfernt von Kopf und Bauch. Genutzt hat Brecht die Notizbücher als Privatarchiv, um Gedankendichtungen und Herzensangelegenheiten ebenso festzuhalten wie Bauchgefühle. Was ihm einfiel, etwa ein Satz wie "Der freie Wille – das ist eine kapitalistische Erfindung!’, wurde im Notizbuch zwischengelagert, um jederzeit darauf zurückgreifen zu können. Wie er die Notizbücher 1 bis 3 verwendet hat, das lässt sich anhand dieser vorbildlichen Edition, die durch ihre überaus informativen Erläuterungen besticht, sehr anschaulich nachzuvollziehen. Deutlich wird aber auch, dass die Herausgeber manchmal mit detektivischem Gespür vorgehen mussten, um herauszufinden, worauf sich ein bestimmter Eintrag von Brecht bezieht.

    "Die Notiz fängt an: ‚Bachanale. Zuviel Schreie: Jedermann." Und das Stichwort ‚Jedermann’ ist dann das, was am Ende des ganzen Entzifferungsprozesses bei uns dann die Brücke zum Hofmannsthalschen Theaterstück geschlagen hat. Die Notiz selbst ist über zwei Notizbuchseiten verteilt und sie ist sehr schwer entzifferbar [...]. Man sieht am Schriftbild doch sehr deutlich, dass es sehr schnell und auf instabilem Untergrund geschrieben sein muss. Für einen Schreibtischtext hätte Brecht eine reinere Schrift gewählt und auch nicht einen so großen Zeilenabstand gelassen wie jetzt in dieser Notiz. Sodass wir von daher auf den Gedanken kamen, noch einmal nachzuschauen, ob es in der Zeit, in der das NB datierbar ist, nicht doch eine Aufführung des ‚Jedermann’ im Augsburger Stadttheater stattgefunden hat. Wir haben daraufhin den ‚Volkswillen’ durchgeschaut und sind tatsächlich auf eine anonym erschienene Kritik gestoßen, die uns erlaubte, einerseits dieses Aufführung zu rekonstruieren, aber auch andererseits einen Text zu finden, der vielleicht von Brecht stammen könnte. Das wäre eine bisher unbekannte Theaterkritik. Es ist nicht eindeutig zu entscheiden, weil der Autorname fehlt, aber es gibt durchaus inhaltliche Berührungspunkte, die darauf schließen lassen, dass hier ein neuer Brecht-Text gefunden wurde."

    Das macht diese Ausgabe so spannend und so unverzichtbar: Sie bietet eine Vielzahl von neuen Texten und unbekannten Zusammenhängen. Das betrifft sowohl das Werk als auch die Person Brechts. In den Notizbüchern, gerade in diesen ersten drei jetzt vorliegenden, tritt uns Brecht als junger Autor gegenüber, der noch am Anfang seiner dichterischen Karriere steht. Wie er diesen Anfang für sich kommentiert hat, in welche Bahnen er ihn lenkt, wer ihn dabei begleitet hat, das kann man in der Ausgabe nachlesen, die als hilfreiche Ergänzung auch die Tagebuchnotizen aus dieser Zeit von Caspar Neher und Otto Münsterer, Brechts vertrauten Freunden, enthält. Die Nachwelt schaut diesem jungen Mann noch nicht über die Schulter, er muss zunächst die Gegenwart dazu bringen, von ihm Notiz zu nehmen. Dem Selbstlauf überlässt Brecht nichts. Vieles versucht er. Immer wieder stößt man bei der Lektüre auf wenig oder überhaupt nicht bekannte Stückentwürfe und jeder Blick in den Apparateteil verdeutlicht einem, welche ungeheure Arbeit die Herausgeber geleistet haben und hoffentlich weiterhin leisten können.

    "Ein anderes Beispiel: Im Stückentwurf ‚Die Bälge’ da kommt in der bisherigen Entzifferung das Wort ‚Tolumbine’ vor. Und dann gibt es einen Kommentar dazu: Vielleicht eine parodistische Verfremdung von Kolumbine (Figur der italienischen Commedia dell’ Arte). Wenn man aber das Notizbuch nimmt und einige Seiten weiter vorne einen Gedichtentwurf liest, kommt das Wort ‚Johimbim’ vor. Und Yohimbim das ist ein Potenzmittel. Das ist das Viagra vom Anfang des 20. Jahrhunderts und das heißt nicht ‚Tolumbine’, sondern ‚Yohimbim’. Es geht um Potenzmittel und um ungewollte Schwangerschaft. Erst wenn man das richtig entziffert, kommt man auf die richtige Schiene."

    Geilheit und Sexualität sind in diesen Jahren für Brecht ein zentrales Thema. Einerseits interessiert er sich für potenzsteigernde Mittel, andererseits hat er höllische Angst vor Geschlechtskrankheiten – heißt es vorsichtig zu sein, um eine ungewollte Schwangerschaft zu verhindern. Der junge Mann, der in dem Gedicht "Ich Jüngling sage mir:" unter einer Bettdecke liegt, die "einen Spitz" bildet, ist vertraut mit den Nöten, von denen Brecht und seine Freunde zu dieser Zeit umgetrieben werden. Dabei, so heißt es in dem Gedicht, "denke ich nur ganz wenig!" Die Betonung liegt auf ‚dabei’, denn ansonsten hielt Brecht das Denken für eine nicht zu vernachlässigende Notwendigkeit. Welche Spuren es hinterlassen hat, darüber geben die Notizbücher in ihrer ganzen Vielfalt Auskunft.

    "Anhand dieser drei Notizbücher kann man wirklich drei Entwicklungsschritte Brechts nachvollziehen. Notizbuch 1 heißt ‚Lieder zur Klampfe’. Das ist in erster Linie eine Sammlung von Liedern von 1918 [...]. Brecht fing als Liedermacher an. Vor seinen Freunden in den Lech-Auen, nachts, wurde da musiziert, geschrien, bis zum Duellsingen, wie sie das nannten [...]. Dieses Notizbuch zentriert sich um einen Typus, den man mit einem Namen ‚Baal’ nennen könnte – das ist das erste große Theaterstück von Brecht. Dieser Baal ist ein vulkanischer Künstler. Er ist ein Frauenverschlinger, ein Weltverschlinger, ein Alleskonsumierer, ein quasi expressionistischer Antityp gegen die Bürgerlichkeit. Im Notizbuch 2 von 1919 ist es – fast dialektisch – ein Gegentyp zu diesem Baal, eben der Kaufmann. Der Sachliche. Wenn man so will: Ein neusachlicher Typus, der moderne Mensch. Und Anfang 1920, in Notizbuch 3, ist es dann eine Art Synthese, die Brecht erreicht. Diese Synthese von Vitalismus und Sachlichkeit, von Kultur und Kapital, die nennt er zu dieser Zeit, auch überraschend, noch nicht Dialektik – das wird dann später sein Begriff dafür sein –, sondern Humor. Auch das wird in diesem Notizbuch deutlich, wie wichtig eigentlich der Humor für Brecht ist."

    Der Band mit den Notizbücher 1 bis 3 hält, was sich mit dem in Band 7 enthaltenen Notizbüchern bereits ankündigte. Man wird alles, was bisher über Brecht geschrieben worden ist, kritisch sichten müssen, wenn die Ausgabe der Notizbücher gesammelt vorliegt. Das betrifft auch die Kommentare und Erläuterungen der dreißig Bände umfassenden Berliner und Frankfurter Brecht-Ausgabe. Die Notizbücher werden diese Ausgabe zunächst noch ergänzen und gleichzeitig stellen sie sie, mit jedem neuen Band der erscheint, infrage.

    Literaturhinweis:

    Bertolt Brecht: Notizbücher 1 – 3 (1918 – 1920). Hrsg. v. Martin Kölbel und Peter Villwock. Band 1. Suhrkamp Verlag. Berlin 2012, 481 Seiten, 32,95 Euro.