Die Bundestagswahl im September 1957 war ein Wendepunkt in der Geschichte der SPD. Haushoch und zum dritten Mal in Folge wurde sie von CDU und CSU geschlagen, Bundeskanzler Konrad Adenauer saß fester im Sattel denn je. Oppositionsführer Erich Ollenhauer zog aus der Lage eine überraschende Schlussfolgerung, wie sich die Historikerin und damalige Protokollführerin der SPD-Programmkommission Susanne Miller erinnerte:
"Als Ollenhauer 1957 nach der Wahlniederlage der SPD von Journalisten gefragt wurde, welche Konsequenzen die Partei nun ziehen werde, antwortete er: ‚Wir machen ein neues Grundsatzprogramm!" Vielen von uns und vielen auch außerhalb der SPD leuchtete damals diese Antwort nicht ein.‘"
Man hatte eher eine Organisationsreform oder den Rücktritt des biederen Parteivorsitzenden erwartet. Doch Ollenhauer setzte im Parteivorstand eine Beschleunigung der Programmarbeit durch. Ausgerechnet die Programmkommission, wo nach einem spöttischen Wort Herbert Wehners "ideologische Korinthenkackerei" betrieben wurde, sollte nun den Weg zur Regierungsfähigkeit ebnen.
Marxismus fand keine Erwähnung mehr
Tatsächlich war die Programmkommission prädestiniert für die Aufgabe, der Partei ein neues Profil zu geben. Wichtige Mitglieder wie Willi Eichler, Waldemar von Knoeringen, Heinrich Deist oder Gerhard Weisser hatten bereits in der Weimarer Republik zu den Kritikern des marxistisch geprägten Heidelberger Parteiprogramms gehört, das noch immer galt.
Das im November 1959 auf einem Sonderparteitag in Bad Godesberg vorgelegte neue Grundsatzprogramm stellte einen radikalen Bruch mit der SPD-Programmtradition dar. Der Marxismus fand nicht einmal mehr Erwähnung, stattdessen wurde der demokratische Sozialismus aus Humanismus, christlicher Ethik und klassischer Philosophie hergeleitet:
"Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands ist die Partei der Freiheit des Geistes. Sie ist die Gemeinschaft von Menschen, die aus verschiedenen Glaubens- und Denkrichtungen kommen. Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität sind die Grundwerte des sozialistischen Wollens."
An die Stelle der utopischen Erlösungsformel von der "klassenlosen Gesellschaft" trat das reformistische Projekt des "Sozialismus als dauernde Aufgabe". Ziel dieser programmatischen Neuausrichtung war es, die Partei für neue Wählerschichten attraktiv zu machen, etwa für gläubige Christen, Angehörige der technischen Intelligenz, bürgerliche Intellektuelle und Selbstständige.
Traditionalisten ging der Umbau der SPD von einer Arbeiterpartei zu einer linken Volkspartei viel zu weit. Der Vorsitzende der Holzgewerkschaft, Heinz Seeger, warnte:
"Die Arbeiter, hier gemeint im weiteren Sinne als Arbeiter, Angestellte und Beamte, haben die Partei groß gemacht. Nichts wäre gefährlicher für ihren Bestand, als wenn man das Vertrauen dieser Gesellschaftsschicht in der Bundesrepublik zugunsten von Grünkramhändlern und Schrottsammlern verspielen würde."
Neues Programm: eher sozialliberal als sozialistisch
Trotz einer Intervention des mächtigen IG Metall-Chefs Otto Brenner verzichtete der Godesberger Parteitag sogar auf die alte, lieb gewonnene Forderung nach einer Sozialisierung der Grundstoffindustrien. Stattdessen wurde ein stetiges Wirtschaftswachstum, eine gerechtere Verteilung des Wohlstands und mehr soziale Sicherheit angestrebt, möglichst im Einklang mit der Marktwirtschaft:
"Freier Wettbewerb und freie Unternehmerinitiative sind wichtige Elemente sozialdemokratischer Wirtschaftspolitik." (Zitat)
Das neue Programm war eher sozialliberal als sozialistisch. Darüber hinaus enthielt es ein Bekenntnis zur Bundeswehr - eine harte Nuss für die vielen Pazifisten an der Parteibasis. Dennoch wurde es am 15. November 1959 auf dem Godesberger Sonderparteitag mit großer Mehrheit angenommen, vor allem, weil der mächtige Parteivize Herbert Wehner ins Reformlager einschwenkte. Die Partei wollte endlich an die Macht und akzeptierte die Grundentscheidungen der Adenauer-Ära: Wiederbewaffnung und soziale Marktwirtschaft.
Nun konnten die Sozialdemokraten ihr Image als wirtschaftsfeindliche Klassenkämpfer abstreifen. Ihr Hoffnungsträger Willy Brandt betonte den Nutzen des neuen Programms:
"Es ist eine zeitgemäße Aussage, die uns in unserer Arbeit helfen wird und die es unseren Gegnern schwerer machen wird, sich mit einem Zerrbild statt mit der Wirklichkeit der deutschen Sozialdemokratie auseinanderzusetzen."