Um es gleich am Anfang ganz klar und deutlich zu sagen: Der tätliche Angriff auf unsere Kritikerin war auch ein Angriff auf die demokratische Kultur. An die Stelle einer intellektuellen Auseinandersetzung – mit den Mitteln der Bühne und des Feuilletons – ist der Versuch getreten, eine Journalistin zu demütigen und physisch wie psychisch zu verletzen.
Goecke hat sich offenbar nicht im Griff
Wer unsere Kollegin - ebenso kompetent wie kritisch - kennt, weiß, dass es dazu mehr braucht, als ihr einen Beutel mit Exkrementen ins Gesicht zu drücken. Der Vorgang von Hannover ist aber umso ungeheuerlicher, als der Täter – immerhin der Ballettchef – zunächst keinerlei Unrechtsbewusstsein zeigte.
Ohne den laufenden Ermittlungen vorzugreifen, kann das Geschehen eigentlich nur eine Konsequenz haben: Ein Theater, das seine Arbeit als Beitrag zur Stärkung der ohnehin instabilen demokratischen Kultur begreift und das mit öffentlichen Geldern gefördert wird, kann einem solchen verantwortlichen Mitarbeiter im wahrsten Sinne des Wortes keine Bühne mehr bieten. Weder in Hannover noch in München, wo er im Frühjahr inszenieren soll. Der Mann hat sich offenbar nicht im Griff.
Journalisten sind zur Zielscheibe geworden
Nun kann man darüber nachdenken, was einem solchen Angriff den Boden bereitet – und das nicht nur im Kulturjournalismus. Auf den Kriegsschauplätzen dieser Welt sind Journalistinnen und Journalisten längst zur Zielscheibe geworden. Auch die Kolleginnen und Kollegen, die berichten, kommentieren und moderieren, werden immer wieder beschimpft, angepöbelt, bedrängt oder bedroht.
Es gibt eine zunehmende Verrohung im öffentlichen Diskurs. Zu einer Demokratie gehört aber nicht nur die Vereinbarung, dass das Gewaltmonopol beim Staat liegt. Zur Demokratie gehört auch die Fähigkeit, sachliche Kritik zu äußern und zu ertragen – und die Verständigung auf verbindliche friedliche Umgangsformen.
Kritik gehört zum Miteinander
Zurück zur Kultur: Es lohnt sich in diesem Zusammenhang auch, eine andere Frage zu stellen: Sind die Menschen im Kulturbetrieb vielleicht einfach keine echte Kritik mehr gewohnt? Weil sie nur noch viel zu selten stattfindet? Weil wir Kritiker*innen inzwischen lieber – „embedded journalism“ – nach der Premiere oder der Ausstellungseröffnung bei einem Wein mit der Intendantin oder dem Kurator zusammensitzen? Weil wir uns lieber den neuesten Gossip erzählen lassen, als den berechtigten Totalverriss zu schreiben? Affirmative Nacherzählung statt kritische Distanz – aus falsch verstandener Rücksichtnahme oder Sorge um die Fördermittel für die Kritisierten?
Der Gesellschaft tut man aber damit keinen Gefallen. Kritik erfordert Mut auf beiden Seiten: sie zu äußern und mit ihr umzugehen. Kritik gehört zum Miteinander.