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Götz Aly: Hitlers Volksstaat - Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus

Über die Geschichte des deutschen Faschismus, über Massenmord und Kriegsverbrechen sei 60 Jahre nach Kriegsende eigentlich alles gesagt, könnte man meinen, doch immer noch finden Historiker neue Blickwinkel auf das Geschehen zwischen 33 und 45, und sei es nur, dass sie bekannte Fakten neu werten oder aus veränderter Perspektive betrachten. Ein solches Buch hat nun Götz Aly vorgelegt, seit langem für seine Studien zum Nationalsozialismus bekannt. Aly beschreibt darin Hitlers Volksstaat als eine rassistische Raubgemeinschaft.

Von Hermann Theißen |
    Teil des Programms, mit dem die Amerikaner die Deutschen nach dem Krieg umerziehen wollten, war Stephen Schulbergs Film "Hunger". Als in diesem Streifen Hermann Göring seine Parole "Kanonen statt Butter" ausrief, buhte das Publikum. Der Protest galt allerdings nicht dem Feldmarschall, sondern dem Regisseur. "Nie hätte Göring uns verhungern lassen", riefen die Besiegten und skandierten: "Wir wollen Hermann!" Fassungslos nahmen die Befreier Schulbergs Film aus dem Programm.

    Dass Hunger in Deutschland erst in der Nachkriegszeit akut wurde, ist in der einschlägigen Literatur dargestellt worden, aber nicht ins öffentliche Bewusstsein gedrungen. Das gilt erst recht für das Ausmaß der sozialpolitischen und materiellen Beglückungen, mit denen die Nationalsozialisten die "Volksgenossen" bei Laune hielten und Loyalität erzeugten, eine Loyalität, die vielfach sogar den "Untergang" überlebte. Die Finanzierungsmethoden dieses Wohlfahrtsprogramms wurden derart tabuisiert, dass nicht einmal die historische Forschung sie in den Blick nahm. Mit diesem Tabu räumt Götz Aly in seinem neuen Werk auf. Seine zentralen Thesen: Die enorme innere Stabilität und Integrationsleistung des NS-Systems seien weniger durch Gewalt und Repression erzwungen worden, beides sei vielmehr Resultat eines "punktuellen Mitläufertums" und genereller Zufriedenheit. Das nationalsozialistische Deutschland sei eine "Gefälligkeitsdiktatur" gewesen, eine Diktatur, die sich die Zustimmung der Volksgenossen erkaufte und die dafür erforderlichen Ressourcen mit den Mitteln des Raub- und Rassekrieges eintrieb.

    "In dem vorliegenden Buch soll die Symbiose von Volksstaat und Verbrechen sichtbar gemacht werden. Dafür gilt es, den immer noch verbreiteten historiographischen Ansatz zu überwinden, der die so offensichtlich grausame Seite des Nationalsozialismus von denjenigen politischen Aktionen isoliert, die dasselbe Regime für die Mehrheit der Deutschen so attraktiv machte."

    Dazu zählten nicht nur die Beseitigung der Arbeitslosigkeit und die Schaffung einer touristischen Infrastruktur, die Kraft durch Freude versprach und den Urlaub zur Massenerfahrung machte. Aly erinnert daran, dass die Nazis Ehestandsdarlehen und Kindergeld einführten, die Preise weitgehend stabil hielten und die Löhne erhöhten. Die sogenannten "kleinen Leute", bei denen in Weimarer Zeiten der Gerichtsvollzieher immer häufiger geklingelt hatte, jubelten, als die neuen Machthaber die Rechte der Gläubiger zugunsten der Schuldner beschränkten. Im Krieg erhielten die Familien der eingezogenen Soldaten bis zu 85 Prozent dessen, was ihre Männer in Friedenszeiten nach Hause gebracht hatten, Steuerfreibeträge wurden so definiert, dass die unteren 70 Prozent der Einkommenspyramide von jeglichen direkten Kriegssteuern frei gestellt waren. 1941, also mitten im Krieg, erhöhten die Nazis die Renten, nicht prozentual, sondern so, wie es klassenbewusste Sozialisten immer gefordert haben, pauschal: Jeder erhielt pro Monat sechs Reichsmark mehr, das entspricht immerhin 60 Euro. Im August 1939 waren die Zuschläge für Überstunden, Nacht-, Sonntags- und Feiertagsarbeit gestrichen worden, drei Monate später wurde die Entscheidung wieder zurückgenommen. Das alles zielte auf die Utopie von der Volksgemeinschaft, war aber auch gedacht als Strategie gegen die traumatischen Erinnerungen an den 1. Weltkrieg: Erinnerungen an die Hungersnot, die Inflation und die Revolution. Die Legende, dass Kriegsgewinnler und Bolschewisten die Nation 1918 um den verdienten und nahen Sieg gebracht hätten, konkretisierten die Nazis in einem alten und erprobten Feindbild: Der "plutokratische Jude" sei es gewesen, der dem gleichfalls raffgierigen "bolschewistischen Juden" in die Hände gespielt habe. Daraus ließ sich die Propaganda vom "arischen Abwehrkampf" gegen das "Weltjudentum" zimmern und die für den Nationalsozialismus konstitutive Einheit von Rasse- und Sozialpolitik herstellen.

    "Auf der Basis eines umfassenden Raub- und Rassekrieges sorgte der nationale Sozialismus für ein in Deutschland bis dahin nicht gekanntes Ausmaß an Gleichheit und sozialer Aufstiegsmobilisierung. Das machte ihn populär und verbrecherisch. Das materiell üppige Sein, der indirekte, nicht persönlich verantwortete, doch gerne genommene Vorteil aus den Großverbrechen bestimmte das Bewusstsein der meisten Deutschen von der Fürsorglichkeit ihres Regimes. Umgekehrt bezog die Politik der Vernichtung daraus ihre Energie: Sie orientierte sich am Volkswohl."

    Anders als Winston Churchill konnte sich Hitler zu keinem Zeitpunkt seiner zwölfjährigen Herrschaft eine "Blut- und Tränenrede" leisten, aber er konnte Pogrome inszenieren und daraus Kapital schlagen. So setzte das Regime die Reichspogromnacht, an die sich die Umwandlung des gesamten Vermögens der deutschen Juden in unveräußerliche Staatsanleihen anschloss, genau zu dem Zeitpunkt in Szene, als die extreme Kreditkrise das Reich in den Staatsbankrott zu treiben drohte. Den "Cash flow" hielt es mit der so genannten "Judenbuße" aufrecht. Sie erhöhte die laufenden Reichseinnahmen mit einem Schlag um gut sechs Prozent. Rechnet man die Einnahmen aus der Reichsfluchtsteuer und andere Diskriminierungsprofite hinzu, zeigt sich, dass mehr als neun Prozent der laufenden Reichseinnahmen im letzten Vorkriegshaushalt aus Arisierungserlösen stammten, also den Volksgenossen überhaupt nicht belasteten. Damit war ein Finanzierungsmuster etabliert, das man im Krieg nur noch variieren musste.

    "Enteignungen, Deportationen und Massenmorde wurden zur wichtigen Quelle der deutschen Staatsfinanzen."

    Die Kriegsfinanzpolitik der Nazis beruhte auf dem Grundsatz, dass die eroberten Länder die enorme Kriegsrechnung zu begleichen hätten. Die Wehrmacht und das Finanzministerium konfrontierten sie mit maßlos überhöhten Besatzungskosten und Kontributionen, die willige und einfallsreiche Beamte mittels Währungsmanipulationen und anderen Tricks bei Bedarf weiter nach oben schraubten. Nicht nur der Sold der Soldaten, Waffen, Rohstoffe und Dienstleistungen wurden in der Währung des jeweiligen Stationierungslandes bezahlt, sogar die Kosten der Luftangriffe auf England mussten in Francs beglichen werden, wenn sie von französischem Boden aus erfolgten.

    Der Raubkrieg füllte vor allem die Reichskasse, doch das Regime ermunterte auch seine Soldaten, die besetzen Länder leer zu kaufen. Sie mutierten zu "bewaffneten Butterfahrern" und schickten Päckchen und Pakete mit Schuhen aus Nordafrika, mit Samt und Seide, Likör und Kaffee aus Frankreich, mit Tabak aus Griechenland, mit Honig und Speck aus Russland und ganze Heringsfässer aus Norwegen. Heimaturlauber hatten nicht selten Pelze und Uhren im Gepäck, ganz Findige brachten äußerst günstig erstandene Möbel und Antiquitäten heim ins Reich. Die legalisierten Beutezüge stärkten die Kampfmoral der Soldaten und das Ansehen des Führers bei ihren so üppig versorgten Familien. Sie hatten aber noch einen anderen wohl kalkulierten Effekt: Die inländische Kaufkraft wurde abgeschöpft, Inflation, Mangel und Hunger exportiert.

    Dieser Mechanismus hätte versagt, wenn die Ausgeplünderten Zahlungsunfähigkeit hätten anmelden müssen. Doch da war das 1938 in Deutschland erprobte Modell vor. Obwohl Ungarn und Griechenland Götz Aly Akteneinsicht verwehrt haben und obwohl in der BRD wie in der DDR Dokumente vernichtet wurden, aus denen sich Restitutionsansprüche hätten ableiten lassen, kann der Historiker in detektivischer Kleinarbeit rekonstruieren, wie Beamte und Offiziere der deutschen Militärverwaltung überall in Europa dafür sorgten, dass vor den Deportationen das Vermögen der Juden erst akribisch erfasst, dann konfisziert und verkauft wurde. Die Erlöse aus dem Raub flossen in den jeweiligen Staatshaushalt, wurden nach den Regeln der Geldwäsche umgebucht und als Besatzungskosten an das Reich oder direkt an die Wehrmacht weitergeleitet. Der Mord an den europäischen Juden, das kann Aly überzeugend zeigen, folgte einer zweckrationalen Logik.

    "Am Ende hatte jeder Herrenmensch - und das waren nicht irgendwelche NS-Funktionäre, sondern 95 Prozent der Deutschen - Anteile von dem Geraubten in Form von Geld in der Tasche oder als importierte, im besetzten Ausland mit geraubtem Geld und Gold bezahlte Lebensmittel auf dem Teller. Bombenopfer trugen Kleider der Ermordeten und atmeten in deren Betten auf, dankbar, noch einmal davon gekommen zu sein, dankbar auch dafür, dass Staat und Partei so schnell geholfen hatten."

    Das ist provokant zugespitzt, aber eine Provokation, die sich auf eine schlüssige Argumentation und auf eine Auswertung von Quellen stützt, die in der ganze Bibliotheken füllenden Forschung zum Nationalsozialismus übersehen oder vernachlässigt worden sind. Wie jeder, der die herrschenden Lehren mit einem neuen Paradigma konfrontieren will, überzieht Aly in einigen Punkten. Hans Ulrich Wehler bemängelt im SPIEGEL zu Recht, dass Aly den "Führermythos" überhaupt nicht erwähnt und den "radikalisierten Antisemitismus" zu gering veranschlagt, wenn er nach Motiven für die Zustimmung zum NS-System fragt. Der britische Historiker
    J. Adam Tooze hat in der TAZ darauf hingewiesen, dass Aly den durch Raubmord und Ausplünderung der besetzen Länder finanzierten Anteil an den Kriegskosten nur deshalb auf 70 Prozent hochrechnen kann, weil er in seiner Bilanz die vom deutschen Reich aufgenommenen Kriegskredite unter den Tisch fallen lässt.

    Bei seinem Bemühen, die Volksgemeinschaft in ihrer Gesamtheit als Arisierungsgewinnlerin auszuweisen, bagatellisiert er die spezifischen und gigantischen Arisierungsgewinne der Großunternehmen und der Banken. Deren Belastungen durch Steuererhöhungen und Gewinnabschöpfung dramatisiert er dagegen in einem Maße, dass man erstaunt ist, dass Flick und Krupp nicht in den Widerstand gegangen sind. Doch solche Unstimmigkeiten wird die bereits begonnene Diskussion korrigieren. Mit "Hitlers Volksstaat" hat Götz Aly einen gewichtigen Beitrag zur Historisierung des Nationalsozialismus geleistet und neue Forschungsfelder abgesteckt. Wer künftig über die Finanzierung des 2. Weltkriegs oder über die Integrationskraft des Nationalsozialismus reden will, kommt an diesem Buch nicht vorbei.

    Hermann Theißen war das über Götz Aly: "Hitlers Volksstaat", erschienen bei S.Fischer. 444 Seiten hat der Band für 22.90 Euro.