Archiv

”Golfi d’ombra” von Simone Beneventi
Das Schlagzeug als Klanginstrument

"Golfi d'ombra" lautet der Titel der CD mit Werken von Hugues Dufourt, Fausto Romitelli, Andrea Agostini, Raffaele Grimaldi und Stefano Trevisi, die der junge italienische Perkussionist Simone Beneventi 2015 beim Label Stradivarius eingespielt hat.

Von Barbara Eckle |
    Das Schlagwerk eines Sinfonieorchesters
    Das Schlagzeug blüht erst Mitte des 20. Jahrhunderts als Soloinstrument so richtig auf. (Deutschlandradio - Bettina Straub)
    Die vorgestellte CD ist einem Instrument gewidmet, das relativ selten im Mittelpunkt steht und erst seit Mitte des 20. Jahrhunderts als Soloinstrument so richtig aufgeblüht ist: Es handelt sich um das Schlagzeug.
    Das Mächtigste aller Instrumente
    Das Wort Schlagzeug sagt es schon: Musik wird hauptsächlich durch Schläge erzeugt. Das macht es natürlich zum quintessenziellen Rhythmusinstrument. In allen Musikstilen obliegt es meist dem Schlagzeug, dem Stücks seinen Beat, seinen Puls zu geben. Es ist vielleicht überhaupt das Mächtigste aller Instrumente: Rhythmische Schläge können so intensiv körperlich wahrgenommen werden, dass sie im Menschen kaum unterdrückbare Bewegungsimpulse auslösen – oder einfacher gesagt: die Lust zu tanzen wecken. Sie können einen mithin bis in die Ekstase befördern. In der neuen Musik haben Komponisten wie Iannis Xenakis oder auch Helmut Lachenmann diese Seite des Instruments mit komplextesten rhythmischen Strukturen ad extremum geführt. Von dieser Seite des Schlagzeugs ist auf der CD "Golfi d'ombra" allerdings wenig zu hören. Simone Beneventi präsentiert dem Hörer hier das andere Extrem, nämlich das Schlagzeug als explizites Klanginstrument. Alle fünf Werke dieser Platte versinken regelrecht im unerschöpflichen Klangpotenzial der bis zu 50 Schlaginstrumente, die hier zum Einsatz kommen.
    Membranofonen und Idiofonen
    Bei Perkussionsinstrumenten wird unterschieden zwischen den Membranofonen und den Idiofonen. Bei den Membraphonen, wie zum Beispiel der Trommel, wird durch den Schlag eine gespannte Membran zum Schwingen gebracht. Bei den Idiofonen, übersetzt Selbstklingern, wird der ganze Instrumentenkörper in Schwingung versetzt. Ein Beispiel wäre der Gong oder der Triangel. Die Werke, die Simone Beneventi für seine Solo-CD ausgewählt hat, verbindet eine große Präsenz von metallenen Selbstklingern asiatischen Ursprungs. Charakteristisch für diese Instrumente ist ein heller, aber doch voller, sehr tragender Klang, der auch die Atmosphäre der gesamten CD bestimmt. Die fünf Stücke bilden aber nicht nur klanglich eine Einheit. Wie man aus dem Booklettext von Alessandro Arbo erfährt, verbindet sie auch eine gemeinsame Geschichte, die bei dem Perkussionisten Thierry Miroglio ihren Anfang nahm. Dieser beauftrage Anfang der Neunzigerjahre einige Komponisten mit neuen Stücken für Schlagzeug.
    "Plus oultre" von Hugues Dufourt
    Der 1943 geborene französische Spektralist Hugue Dufourt gehörte zu den ersten, die daraufhin eine Komposition auf den Tisch legten. Sie trägt den Titel "Plus oultre". Dufourt hat die Instrumente dafür so gewählt, dass sie ihm einen fast ungebrochenen Klangfluss ermöglichen und zugleich kongeniale, materialsinnliche Mischungen von extremen Gegensätzen zulassen, denen er in einem schon fast rituell wirkenden langsamen Puls unendlich viel Raum zum Aus- und Nachklingen schenkt. Zwischen den unterschiedlichen Klängen, selbst im Bereich des Geräuschs, gibt es kaum Brüche, was ein sonderbares Gefühl von Instabilität und Rätselhaftigkeit hervorruft.
    "Golfi d'ombra" von Fausto Romitelli
    Ein paar Jahre nach Dufourts Stück "Plus oultre" für Perkussion solo folgte 1993, im Rahmen von Miroglios Auftrag, eine Komposition von Fausto Romitelli. Der 1963 geborene Italiener hatte zunächst in Mailand und Siena Komposition studiert, bevor er an der berühmten Pariser IRCAM Musikinformatik besuchte. Seine Leitsterne waren neben Ligeti und Scelsi vor allem die Spektralisten Gérard Grisey und Hugues Dufourt, die auch zu seinen Lehrern in Paris zählten. Aber sein Interesse reichte weit über den kleinen Kreis der etablierten musikalischen Avantgarde hinaus. Seine Faszination galt ebenso der Rock-, Elektronik-, und DJ-Szene, sodass er diese für die Neue Musik abseitigeren Welten klanglich erforschte und mitunter in seinem eigenen Schaffen verarbeitete.
    Eine ähnliches Mikroskopieren von Klang und Timbre wie sie auch Dufourts Stück bestimmt, ist in Fausto Romitellis Stück "Golfi d'ombra", übersetzt Schattentale, zu erkennen. Der Titel bezieht sich auf einen Vers aus Arthur Rimbeaus Gedicht "Voyelles", in dem er den Vokalen Farben zuordnet und ihnen ihren Ursprung offenbart. Das sieht im Falle des Vokals A in Stefan Georges Übersetzung folgendermaßen aus: "A: schwarzer Panzer samtiger, dichter Mückenscharen, die über grausem Stanke schwirren, Schattentale." Die starken und doch mysteriösen Bilder dieses Gedichts finden in dem uneindeutigen Schwebezustand, der "Golfi d'ombra" von Anfang bis Ende bestimmt, eine Art sinnliche Entsprechung. Der poetische Umgang mit dem Klang lässt nicht zuletzt auch eine Verwandtschaft zu Dufourts Stück erkennen.
    Simone Beneventi, 1982 in Reggio Emilia geboren, gilt als einer der herausragendsten jungen Perkussionisten seiner Generation. Als Solist und Ensemblemusiker hat er bereits eine beträchtliche Karriere mit Auftritten bei den meistens einschlägigen Neuen-Musik-Festivals hinter sich. Ihm liegt als Interpret viel an der engen Zusammenarbeit mit den Komponisten, um ihre musikalischen Vorstellungen genau umsetzen zu können. Im Falle von Romitelli, der schon 2004 im Alter von 41 Jahren gestorben ist, war ihm dies nicht mehr möglich. Um dessen poetisch kreisende Komposition "Golfi d'ombra" aufführen und aufnehmen zu können, musste Simone Beneventi einiges an musikwissenschaftlicher Arbeit leisten. Das Stück wurde nämlich unmittelbar nach seiner Entstehung einmal aufgeführt, danach aber nicht verlegt und nicht wieder gespielt. Deshalb rekonstruierte Beneventi das lückenhafte Manuskript, dem vor allem einige Instrumentierungs- und Dynamik-Angaben fehlten, und stellte eine aufführbare Partitur her. Bei seiner Rekonstruktionsarbeit hat sich Beneventi ganz an der charakteristischen Musiksprache Romitellis in diesen Jahren orientiert, die in "Golfi d'ombra" zum Beispiel durch den Einsatz von Instrumenten wie Plattenglocken oder dem Chinesischen Gong ihre ganz eigene Farbe und Beweglichkeit gewinnt.
    "In a Circle" von Andrea Agostini und "Figurazione della freccia" von Stefano Trevisi
    Zwanzig Jahre nach der Entstehung von Hugue Dufourts und Fausto Romitelli Schlagzeugkompositionen erneuerte Simone Beneventi Thierry Miroglios Auftrag von damals und regte Komponisten seiner eigenen Generation zu neuen Schlagzeugwerken an, nun mit einem expliziten Fokus auf metallene Selbstklinger. Das Resultat ist zumindest bei Andrea Agostini und Stefano Trevisi weniger poetisch-mystisch, weniger verträumt als vor 20 Jahren, doch fügen sich die fünf Stücke dank der außerordentlich starken Klangatmosphäre der Instrumente zu einer überzeugenden Einheit zusammen. Andrea Agostini arbeitet in seinem Stück "In a Circle" von 2012 mehr mit Kontrasten und extremen Registern dieser Schlaginstrumente. Er gibt den hellen, silbernen Klangqualitäten in der Mitte des Stücks große Präsenz und der Rhythmik schärfere Konturen. Dem anfänglich dumpferen Grundtimbre im tiefen Register fügt das einen zwingenden Vitalitätsschub hinzu, bevor das Stück in einen zeitlosen Schwebezustand langer Resonanzen mündet.
    "Primal - Hypnagogical extended space" von Raffaele Grimaldi
    Raffaele Grimaldi, 1980 geboren und somit der jüngste der fünf Komponisten, schlägt in seinem neuen Werk "Primal – Hypnagogical extended space" wieder einen Bogen zurück zu Dufourts und Romitellis enigmatischem Ansatz. Das klangliche Potenzial dieser Metallinstrumente schöpft Grimaldi auch auf assoziativer Ebene aus: Die Mischung von fixen und beweglichen Tonhöhen suggerieren ein hohes Maß an Ungewissheit und das enorm lange, sonore, oft gleichzeitige Ausklingen der verschiedenen Instrumente verbreitet eine Aura von sanftem Kontroll- und Orientierungsverlust - so, als führten die einzelnen Klänge ein Eigenleben. Auf diese Eigenschaften verweist Grimaldi indirekt, wenn er in der Partitur folgende Spielanweisung gibt: "...come in sogno.... perciso, ma non meccanico." – Wie im Traum. Präzis, aber nicht mechanisch.
    Eine Reise in eine ungekannte, reine Welt
    Abgesehen von der äußeren musikhistorischen Sinnfälligkeit, diese Stücke quasi als lose Werkfamilie zu präsentieren, steckt rein ästhetisch gesehen auch ein wenig Mut dahinter, sich auf dieser CD ausschließlich dieser ruhig fließenden Musik zu verschreiben und nicht dem klassisch dramaturgischen Kontrast- und Spannungsprinzip von schnell-langsam und laut-leise zu verfallen. Simone Beneventi verlangt dem Hörer eine innere Ruhe und Geduld ab, eine Konzentration auf die langen, langsamen Wege eines Klangs. Ist man bereit, sich in diesen klanglichen Mikrokosmos zu versenken, sich dem Klang ganz hinzugeben, wird man allerdings reich belohnt, nicht mit Steigerungen und Höhepunkten, sondern mit einem Gefühl, eine Reise in eine ungekannte, reine, reiche Welt unternommen zu haben, in der das gewohnte kurzatmige Zeitempfinden sich gänzlich verabschiedet.
    Interpret: Simone Beneventi
    Album: Golfi d'ombra
    Label: Stradivarius, STR 33998