„Mutter fühlte sich entsetzlich allein. Früher als alle hatte sie gespürt, wie eine Dunkelheit aufzog, während andere unbeirrt nur Licht sahen. Sie brach jeden Tag aufs Neue zusammen, als sie merkte, wie ihre Liebsten sich veränderten, als sie merkte, wie ihr der Boden unter den Füßen entglitt, als sie merkte, wie sie ihr Land und ihr altes Leben verlieren würde. Was sie vorhatte, war gefährlich. Aber die Vorstellung, dass ihre fünfjährige Tochter bald mit Kopftuch und Mantel zur Schule gehen musste oder als Kind verheiratet werden konnte, quälte sie noch mehr als die Angst.“
Golineh Atai beginnt ihr Buch mit ihrer eigenen Geschichte, die 1980, anderthalb Jahre nach der Machtergreifung Ayatollah Khomeinis, eine Wendung nehmen sollte. Ihre Mutter floh mit ihr aus dem Iran – weg aus einem System, das schon damals zunehmend repressiv wurde, vor allem, was die Rechte der Frauen betraf. Schon wenige Monate nach der Absetzung des Schahs begannen Frauen im Iran, zu demonstrieren:
„‚Die Freiheit der Frau ist die Freiheit der Gesellschaft‘, hatten die Demonstrantinnen […] gerufen. ‚Unsere Freiheit ist universell, weder westlich noch östlich‘, hatten sie im Chor geschrien.“
Ein Porträt mutiger Frauen
Das Buch „Die Freiheit ist weiblich“ ist gleichsam eine Geschichtsstunde, eine soziologische Untersuchung und ein Porträt mutiger Frauen im Iran. Golineh Atai, langjährige Nahost- und Russland-Korrespondentin der ARD, die bald nach Kairo wechseln wird, hat mit neun Frauen gesprochen. Jede für sich hat eine dramatische Geschichte hinter sich: Jede von ihnen hat aufbegehrt, demonstriert, öffentlich kritisiert, auf der Straße oder in Social Media- Netzwerken. Was die Frauen berichten, handelt von Erniedrigung, Inhaftierung, Gewalt, verbaler und physischer und ist für westliche Leser und Leserinnen ein wahre „Tour de force“ durch vier Jahrzehnte Klerikal-Diktatur im Iran. Und doch: Gebrochen hat es all diese mutigen Frauen nicht.
Gleich in der ersten Geschichte geht es um Fatameh, die Tochter eines Geistlichen, die sich zunehmend von der Religion entfernt und dadurch zu einer Oppositionellen wird. Fatameh sieht einen direkten Zusammenhang zwischen dem allgemeinen politischen und wirtschaftlichen Niedergang im Land und der Unterdrückung der Frauen:
„In dieser Misere besteht das einzig konsequente politische Handeln in der Bekämpfung der Frauen. Wissen Sie, seit wie vielen Jahren in Isfahan und woanders Säureanschläge auf Frauen stattfinden? Hunderte. Aber kein einziger Täter wurde gefunden. Kein einziger. Warum wohl nicht? Weil die Männer an der Macht selbst dahinterstecken.“
Die Grüne Revolution und ihre Folgen
Als ganz entscheidenden Punkt in der Geschichte des Iran sieht Golineh Atai das Jahr 2009. Viele Geschichten der Frauen in ihrem Buch kreisen um jenes Jahr, in dem die Hoffnungen vieler Iraner und Iranerinnen zerschlagen wurden. Damals kam es zur sogenannten „Grünen Revolution“ im Land. Hunderttausende, vor allem junge Menschen demonstrierten wochenlang auf den Straßen Teherans und anderer Städte. Sie vermuteten Wahlfälschung bei der Präsidentenwahl, bei der der damalige Amtsinhaber Ahmadinedschad zum Sieger erklärt wurde.
Atai schildert in ihrem zweiten Kapitel die wohl eindrucksvollste Frau ihres Buches: Shiva Nasi Ahari. Shiva ging auf die Universität, fühlte sich schnell als Dissidentin, gründete eine Gruppe von „Menschenrechtsreporterinnen“ und sah sich 2009 überwältigt von der Menge an Demonstranten und Demonstrantinnen auf den Straßen.
„Es ist noch immer aufregend, wenn ich davon erzähle. Die Grüne Bewegung und die Hoffnungen auf die Reformer wollte ich keine Sekunde verpassen. Ich ging abends von meiner Arbeit in einem Ingenieurbüro direkt auf die Straße. Du konntest nicht fahren, so voll war es! Wir liefen Kilometer zu Fuß, ohne die geringste Müdigkeit zu verspüren. […] Die Leute hielten an, hörten uns zu, machten uns Mut und klatschten für uns.“
Doch was dann folgte, waren Verhaftungen, Folter, Todesurteile, Polizei und Armee auf den Straßen. Eine Frau, die Golineh Atai porträtiert, riss sich vor allen Leuten das Kopftuch herunter und kam dafür ins Gefängnis. Und manch mutige Frau kam sogar um: Eines der bekanntesten Opfer war die Philosophiestudentin Neda Agha-Soltan, die bei einer der Demonstrationen hinterrücks erschossen wurde. Noch heute ist auf YouTube ein Video jener dramatischen Momente zu sehen, in denen Neda auf der Straße niedergestreckt wurde. 2010 war die Bewegung verschwunden – erstickt durch die Repressalien des klerikal-diktatorischen Systems.
Die Geschichten jener neun Frauen in Golineh Atais Buch, die die Willkür-Maßnahmen überlebt haben, ähneln sich in vielen Punkten: Nach der Hoffnung auf Veränderung, nach dem Mut zu Dissidenz und Widerstand folgte die unmenschliche, harte Reaktion des Regimes.
Golineh Atais sehr eindringliches Buch, das nah dran an ihren Protagonistinnen ist, macht leider wenig Hoffnung auf ein Ende des Regimes, zumal mit dem neuen Präsidenten Raisi ein weiterer Hardliner ins Amt gekommen ist. Und dennoch lohnt es sich, die Lebensläufe jener mutigen Kämpferinnen für Veränderung zu lesen, auch wenn die Veränderung wohl noch lange auf sich warten lassen wird. Golineh Atai beschreibt es in ihrem Nachwort so:
„Die Geschichten der neun Frauen erzählen die Geschichte einer Wandlung, einer Überwindung. Die Geschichte eines Wachstums, einer ungeahnten Kraft, eines unheimlichen Mutes. […] Vielleicht legt sie der Schmerz erst frei – oder das wachsende Bewusstsein, die Machtverhältnisse mehr und mehr, bis ins Innerste, zu erkennen. Die Kraft und Bewegung der Frauen wird niemand aufhalten.“
Golineh Atai: „Iran - Die Freiheit ist weiblich“
Verlag Rowohlt Berlin, 320 Seiten, 22 Euro.
Verlag Rowohlt Berlin, 320 Seiten, 22 Euro.