Das Angebot des Deutschlandfunks an Online-Texten ist groß - unser Archiv reicht über zehn Jahre in die Vergangenheit. Und so kommt es hin und wieder vor, dass auch ältere Beiträge viel gelesen werden, obwohl sie von uns nicht erneut verbreitet wurden. So war es auch in den letzten Tagen: Ein Interview, das der Deutschlandfunk im Mai 2009 mit dem letzten Staatspräsidenten der Sowjetunion, Michail Gorbatschow, geführt hatte, steht seit einigen Tagen auf den ersten Plätzen unserer Liste der meistgelesenen Online-Beiträge. Wie kommt es dazu?
1. Worum geht es in dem Gespräch?
Gorbatschow sprach mit unserer damaligen Russland-Korrespondentin Sabine Adler unter anderem über die deutsche Presse. Er sagte:
"Wir müssen uns dafür einsetzen, dass Europa beginnt, Russland zu verstehen. Das verhindern übrigens Sie und Ihre Kollegen. Die deutsche Presse ist die bösartigste überhaupt. Als Präsident Putin in München auftrat, hat er nichts Neues verkündet. Dass er das aber mit ziemlich vielen Emotionen verband, war vielleicht das einzig Neue. Und wie empfindlich haben darauf die Politiker reagiert. Russland will niemanden bekämpfen. Wozu auch? Russland hat alles, was es braucht."
In den vergangenen Monaten und Jahren gab es immer wieder Kritik an der Berichterstattung über Russland - nicht nur der des Deutschlandfunks, sondern auch der vieler anderer Medien. Zudem sprechen viele Leute den Medien insgesamt eine Glaubwürdigkeit ab. In Zeiten von "Lügenpresse"-Vorwürfen und "Fake News" verkauft sich das damals von uns für die Schlagzeile gewählte Zitat aus dem Interview, "Die deutsche Presse ist die bösartigste überhaupt", offenbar sehr gut.
Selbstkritisch betrachtet, lässt sich rückblickend über unsere onlineredaktionelle Auswahl der nunmehr acht Jahre alten Schlagzeile diskutieren. Im Interview waren sicher auch andere Aspekte wichtig - dazu unten mehr.
2. Wie also kommen die Nutzer auf das acht Jahre alte Gespräch?
Die "Meistgelesen"-Box auf der Deutschlandfunk-Startseite hilft dabei, zu erkennen, wie es zum erneuten Erfolg des Interviews kam. Was ist die Meistgelesen-Box?
Als Service und zur Orientierung für die Nutzer stellt der Deutschlandfunk auf seiner Startseite in der Box jeden Tag die meistgelesenen Beiträge seines Online-Angebots zusammen. Darin finden sich in der Regel Beiträge desselben Tages oder auch des Vortages, die in den letzten Stunden am häufigsten von unseren Nutzern aufgerufen wurden.
Das sind Beiträge, die aktuell im Programm gelaufen sind, sich auf das aktuelle Tagesgeschehen beziehen und von uns dementsprechend an diesem Tag auch über unsere Website hinaus verbreitet wurden - etwa auf sozialen Netzwerken.
Wichtiger ist jedoch die Frage, wie die Box entsteht: Der Deutschlandfunk nutzt - wie die meisten anderen großen Medienhäuser auch - ein Analysetool für sein Online-Angebot. Das erfasst, wie die Nutzer sich auf unseren Seiten verhalten. Unter anderem zählt es, wie oft eine bestimmte Seite - in diesem Fall das Gorbatschow-Interview - aufgerufen wurde. Die Seite mit den meisten Aufrufen steht dann logischerweise an Platz 1 der Liste.
Zusätzlich tut das Tool aber noch etwas anderes: Es erkennt, wie die Nutzer auf das Interview gestoßen sind. Sprich: Wo im Netz sind die Nutzer gewesen, als sie die Seite aufgerufen haben? Haben Sie das Thema zum Beispiel gegoogelt und haben auf das entsprechende Suchergebnis geklickt? Oder wurde es ihnen bei Facebook angezeigt und sie haben dort drauf geklickt? Im Fall des Gorbatschow-Interviews zeigte sich ein klares Ergebnis: Fast alle Aufrufe kamen aus den sozialen Medien, über 90 Prozent davon über Facebook, ein kleinerer Teil über Twitter.
3. Wer hat das Gespräch verbreitet?
Verschiedene Organisationen (mitunter mit extremer politischer Ausrichtung) haben das Interview nun also verstärkt über die Sozialen Medien verbreitet. Wo das vergleichsweise alte Gespräch zuerst gepostet wurde - zum Beispiel, ob eine bestimmte Facebook-Seite Auslöser für den "neuen Erfolg" des Beitrags war, lässt sich nur schwer zurückverfolgen. Denn einige Facebook-Nutzer haben ihre Profile gesperrt - haben sie den Link zu dem Interview gepostet, lässt sich das von außen nicht feststellen. Es lässt sich jedoch ein Teil der Verbreiter recherchieren. Diejenigen mit der größten Reichweite waren:
Auf der Facebook-Seite namens "Gegen die Destabilisierung Deutschlands - GDD" wurde das Interview am 18. Januar gepostet - und von dort aus über 300 Mal geteilt.
Die Facebook-Seite namens "AfD Freunde Kinzigtal" postete ebenfalls den Link auf unser Interview aus dem Jahr 2009. Von dort aus wurde es über 200 Mal geteilt.
Eine andere Facebook-Seite, die sich den Namen "Wachsamer Nachbar Seligenstadt und Umgebung" gibt, postete das Interview ebenfalls. Von hier aus wurde es bislang 44 Mal geteilt.
Durch das Teilen des Beitrags bei Facebook kommt es zu einem Schneeball-Effekt. Jeder Nutzer, der den Link auf das Interview teilt, zeigt es damit seinen Facebook-Freunden. Wurde das Interview 300 Mal geteilt, heißt das also: 300 Nutzer haben es potenziell all ihren Freunden gezeigt. So wird das Interview in seiner Reichweite schnell potenziert - und schafft es so auf unsere Meistgelesen-Liste.
Verlinkt wurde es aber nicht nur in Sozialen Medien, sondern auch auf reichweitenstarken Blogs:
4. Die unbeachteten Aspekte des Interviews
Die Kommentare, die sich unter den jeweiligen Posts befinden, beziehen sich meist auf das bereits erwähnte Zitat in der Überschrift sowie auf den ersten Satz unseres Teasers, welcher lautet: "Nach Ansicht von Michail Gorbatschow verhindert vor allem die deutsche Presse einen gerechten Umgang mit Russland und seiner Politik."
Darauf, dass in dem Interview auch um die Abrüstungsverträge gesprochen wurde, die Gorbatschow 1991 unterzeichnete, wird beispielsweise nicht eingegangen. Deutschlandfunk-Journalistin Sabine Adler stellte dem ehemaligen Präsidenten der Sowjetunion zudem die Frage, wie er mit dem in Russland häufig geäußerten Vorwurf umgehe, ein Vaterlandsverräter zu sein. Auch dazu finden sich keine Kommentare unter den Facebook-Posts.
Ebenfalls weitgehend unkommentiert bleibt die Tatsache, dass Gorbatschow den damals neuen russischen Präsidenten Medwedjew lobte: "Er gibt sich Mühe. Er ist interessiert an der weiteren demokratischen Entwicklung."
Am Ende bleibt: Wir haben vor acht Jahren ein starkes Zitat aus dem Interview gewählt, das in der heutigen Diskussion ganz offensichtlich einen Nerv getroffen hat.
(cvo/jma)