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Gorki mit Stars

Im Jahr 1905 kam Maxim Gorki im Alter von 37 Jahren in Festungshaft. Während dieser Zeit schrieb er das Stück "Kinder der Sonne", das den Geist der kommenden Revolution atmete. Dieses lange vergessene Stück kommt im Deutschen Theater Berlin auf die Bühne. In der Hauptstadt hat sich Stephan Kimmig des eher fortschrittspessimistischen Textes angenommen.

Von Michael Laages |
    Alle Theater-Welt staunte, als vor zwei Jahren "Eine Familie" auf deutsche Bühnen kam, der himmelsstürmerische Broadway-Erfolg des US-Dramatikers (und gelernten Schauspielers) Tracy Letts; in einer "Best of"-Montage unterschiedlichster Theater-Motive, von Tschechows "Drei Schwestern" bis zu O’Neills "Langen Tages Reise in die Nacht", war das ein Text, in dem quasi jeder Part eine Hauptrolle und beinahe jeder Satz eine zündende Pointe war. Wer jetzt in Berlin und am Deutschen Theater "Kinder der Sonne" sieht, und vor allem auch hört, könnte sich glatt versetzt fühlen in die Fortsetzung des Letts-Erfolges: "Eine Familie II" sozusagen hat sich in Stephan Kimmigs Inszenierung versammelt. Über die Fernsehspiellänge von 100 Minuten hin hauen sich sieben Personen unablässig nichts als kluge Gedanken oder finstre Zynismen, zukunftsfrohe Träumereien oder schmerzgesättigte Verzweifelungsphantasien um die Ohren, jeder und noch der beiläufigst hingemurmelte Satz öffnet eine neue Wendung im Spiel oder einen neuen Abgrund im chaotischen Zusammenklang einer modernen, offenbar dem Untergang geweihten Gesellschaft. Manchmal ist der Abgrund nur ein kleiner Stolperstein, und wer da hinfällt, ist nur komisch; manchmal taumeln Gorkis Figuren wirklich am Rand. Und Am Ende hängt einer tot im Flur. Draußen beginnt derweil gerade das wirkliche, das klassenhasserfüllte Leben zu toben.

    Kurz zur eigentlichen Sache: Herr Protassow ist Wissenschaftler und sonst gar nichts; er erfindet Glück für die goldene, sonnendurchflutete Zukunft. Derweil kommt ihm aber die schöne Gattin abhanden, sie ist nebenbei einem Künstler bedenklich nahe. Und jeder in der Großfamilie weiß das auch – außer Protassow. Dessen Nähe sucht dagegen eine reiche, einigermaßen aufdringliche Witwe - deren Verehrung der Kopfmensch aber kaum recht wahrnimmt. Blind vom Blick in Bücher und Tabellen, harmlos Früchte löffelnd aus dem Glas, tappt er ahnungslos durchs Leben – unheimlich nett, ein wirklich guter Mensch. Und auch als solcher eigentlich ganz unerträglich.

    Noch eine unglückliche Liebe rankt sich um seine psychisch labile Schwester und den Tierarzt von nebenan; er will, sie nicht – bis kurz vor Schluss. Da gibt sie nach – sein Leben aber verdunkelte sich schon so sehr ins Überflüssige, dass er sich einfach erhängt hat. Diesen sogenannt "besseren Kreisen", ziellos umherwandernd in der halb fertig - oder hypermodern - nur aus Latten zusammen gezimmerten Wintergarten-Phantasie, steht mit dem finstren Jegor die Unterschicht in Reinkultur gegenüber: Der schlägt seine Frau, der neigt zu Suff und Gewalt, der hasst bestimmt auch Ausländer und will deren ungeregelten Zuzug stoppen. Dem ist nicht zu helfen, schon gar nicht von den abgehobenen Gutmenschen, diesen "Kindern der Sonne". Am Zusammenprall dieser Schichten –der unausweichlich ist bei schwindendem sozialen Zusammenhalt- werden beide Seiten dieser Welt zu Grunde gehen. Und so gegenwärtig, wie Kimmig diesen Zustand der Entfremdung zeigt, kann dieser Crash nicht mehr sehr lange ausbleiben.

    Stark gerafft hat Kimmigs Team den Text, hat ihn auch bearbeitet, wo das nötig war; denn natürlich spricht Gorkis Original-Personal nicht von Genmais, und es hat auch keinen Computer. Aber der Wodka ist noch da, die Axt des Hausmeisters Jegor, das Glas mit den Früchten. Erstaunlicherweise ist auch ein Handlungsstrang gekappt, der besonders modern wirkt – ein Geschäftemacher nämlich taucht auf im Original und will Herrn Protassow das Labor abkaufen, um den Wissenschaftler dann als Angestellten weiter zu beschäftigen ... Aber das hätte womöglich nicht recht gepasst zu Kimmigs Idee von der Großfamilie, die sich hier gemütlich mit dem eigenen Untergehen beschäftigt: Satz um Satz haut sie jedem und jeder ein Stück Boden weg unter den Füßen.

    Hinzu kommt Gorkis fabelhafte Verständlichkeit in allen verhandelten Fragen – in der Übersetzung von Ulrike Zemme und in der Bearbeitung von Kimmig und Sonja Anders gewinnt das Stück die Qualität eines angeschärft-zugespitzten Alltagsdiskurses; kein Wort zu wenig, keins zu viel. Auch deshalb sieht das nach aller klügstem Broadway aus .

    Fälschlicherweise war übrigens im Vorfeld von einer "Star-Besetzung" die Rede; nichts ist falscher als das. Nina Hoss, Katharina Schüttler und Ulrich Matthes, die wohl gemeint waren mit diesem Unsinnsprädikat, sind Teil eines Ensembles, das, wenn denn dieser Begriff überhaupt benötigt wird, der Star des Abends ist. Katrin Wichmann, Alexander Khuon, Sven Lehmann und Markus Graf markieren ein Ensemble-Spiel, wie es keines sonst gibt in der Hauptstadt; und auch sonst im Land nur sehr selten. Da mag einer der besonders glücklichen Momente für den Regisseur lange vor der Premiere liegen – wenn er sich nämlich so ein Ensemble aussuchen kann.
    Für so ein Stück. 105 Jahre alt. Aber wie von heute. Und mit Sicherheit eines der wirklich großen Ereignisses dieser Saison.