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"Gott behüte die Raia Mutomboki"

Fast eine halbe Million Menschen sind im Ostkongo auf der Flucht, nachdem im Mai erneut Kämpfe zwischen Armee und Rebellen ausgebrochen sind. Doch inmitten des Machtvakuums haben sich einige junge Männer entschlossen, ihre Dörfer selbst zu verteidigen.

Von Simone Schlindwein |
    Shabunda – eine Kleinstadt, in der ostkongolesischen Provinz Süd-Kiwu. Tief im Dschungel. Hierhin führt keine Straße mehr. Zwei Mal pro Woche landet ein Hubschrauber der UNO, um Vorräte anzuschaffen. Die einzigen Transportmöglichkeiten durch den Urwald sind Motorräder. Sie lassen sich über umgekippte Baumstämme hieven, sie fahren durch kleine Flüsse, die sich durch das Unterholz schlängeln. Am Ende des Trampelpfades, der sich von Shabunda aus nach Norden schlängelt, liegt das Dorf Nduma.

    Die fruchtbare Landschaft wirkt wie der Garten Eden – Guaven, Bananen, Mango hängen von den Bäumen. Doch in diesem vermeintlichen Paradies regiert der Schrecken. Dort, wo einst die Schule, die Kirche und die Hütten der Bewohner standen, befindet sich heute nur noch schwarzgraue Asche im weißen Sand. Vier Mal wurde das Dorf in den vergangenen Jahren abgebrannt: Denn hinter Nduma hausten jahrelang die Rebellen im Dickicht. Die Clanchefs haben – ganz in der Tradition des Barega-Volkes – einen Sprecher auserkoren, die für die Gemeinde sprechen darf: Priester Samuel Sambamba. Der alte Mann trägt ein edles Hemd mit Stickereien und ein hölzernes Kreuz um den Hals. In ruhigem Ton beginnt er zu erzählen.

    "Wir alle hier in Nduma sind Mutomboki. Hier in Nduma ist die Basis, der Ursprungsort. Raia Mutomboki heißt das 'wütende Volk' – wenn dich jemand ausraubt oder deine Frau vergewaltigt, dann wirst du wütend. Das ist es, was wir sind. Doch diese Wut hat eine Geschichte: Als unsere ruandischen Hutu-Brüder nach dem Völkermord in ihrer Heimat sich hierher in den Wald flüchteten, haben wir sie beherbergt – obwohl sie grausame Verbrechen an den Tutsi begangen hatten. Wir haben ihnen Land überlassen worauf sie ihr eigenes Dorf errichtet haben. Doch dann haben sie angefangen, sich gegen uns zu wenden."

    Der Völkermord in Ruanda 1994 gilt als eines der brutalsten Verbrechen in der jüngeren Geschichte Afrikas. Hutu-Milizen schlachteten über 800.000 Tutsi ab. Danach flüchteten sie in die Wälder des Ostkongo und formierten eine Miliz: die FDLR – die Demokratischen Kräfte zur Befreiung Ruandas. Sie galten bisher als die brutalste Miliz im Ostkongo. Systematisch zählt Sambanda alle Verbrechen der FDLR auf. Im vergangenen Jahr seien die Attacken besonders schlimm gewesen. Der Grund: Die Truppen der Armee wurden abgezogen. Die Menschen waren daraufhin der FDLR schutzlos ausgeliefert, sagt Sambamba.

    "Kurz nach dem Abzug der Soldaten, sind sie nachts in Nduma eingefallen. Es war im Mai vergangenen Jahres. Sie haben die Häuser geplündert. Alle Einwohner sind geflohen. Wir haben uns im Wald versteckt. Erst Tage später haben wir uns zurück getraut. Eine Woche später kamen sie wieder. Sie befahlen: Jeder Haushalt müsse von nun an Steuern an die FDLR bezahlen. Viele mussten ihre Ziegen, Schweine und Hühner abgeben. Im Juli plünderten sie uns erneut aus. Wieder brannten sie unser Dorf nieder. Daraufhin haben wir uns beraten – wir haben entschieden, die Raia Mutomboki als Verteidigungsmiliz zu gründen"."

    Die Einwohner nicken. Es ist auffällig, dass sich unter den hier sitzenden nur eine handvoll junger Männer befindet. Die Jungen leben im Wald mit ihrem Kommandanten. Ihre Anführer nennen sich selbst "die Juristen", zwei Männer, die einst in Süd-Kiwus Provinzhauptstadt Bukavu Jura studiert hatten. Sie kehrten in ihr Heimatdorf Nduma zurück, um auf ihre Art für Gerechtigkeit zu kämpfen, berichtet Sambamba.

    Eine Gruppe junger kräftiger Männer tritt aus dem Unterholz hervor. Sie positionieren sich wie Soldaten, die ihren Kommandeur beschützen müssen. Ein Mann kommt angelaufen, mit einem schweren Sack. Behutsam setzt er ihn ab und öffnet ihn. Plötzlich verbreitet sich ein fauliger Geruch. Aus dem Sack holt der Mann Totenschädel. Vizekommandeur Kikuny verneigt sich vor den Schädeln. Seine Stimme ist laut und schrill, als wolle er seine Botschaften in die Welt hinausschreien.

    ""Ich will diese Schädel der ganzen Welt zeigen. Damit die ganze Welt die Wahrheit sieht, welches Leid wir erdulden. Das sind die Schädel unserer Angehörigen, Freunde und Nachbarn, die von der FDLR massakriert wurden. Wir bewahren sie auf, weil sie uns ermahnen, Rache zu üben. Wir sind Opfer und wollen dies zeigen, damit sich die Massaker nicht wiederholen."

    Vor allem in den vergangenen drei Jahren rächte sich die FDLR gezielt an der kongolesischen Bevölkerung. Der Grund: Kongos Armee startete in den vergangenen drei Jahren mehrfach gezielte Militäroperationen gegen die FDLR. Doch stets, wenn die Militäroperationen beendet waren, kamen sie zurück – und rächten sich: an den Menschen in Dörfern wie Nduma, in welchen Soldaten stationiert waren.

    "Wir haben an die internationale Gemeinschaft und an unsere Regierung appelliert, uns zu helfen. Doch alle haben immer nur geschwiegen. Als die Soldaten hier abgezogen sind, sagten sie: 'Verteidigt euch doch selbst!' Das tun wir jetzt. Denn alle haben uns im Stich gelassen. Also haben wir Macheten, Lanzen, Spitzhaken – alles was wir an Gerät haben, um unsere Felder zu bestellen – in die Hand genommen und sind gegen die FDLR gezogen."

    Hier zeigt sich das das eigentliche Grundproblem, warum es noch immer keinen Frieden gibt im Ostkongo: Solange die Armee keine Sicherheit garantiert, werden sich stets in jedem Winkel des Riesenreiches immer wieder neue Milizen gründen, die sich ihrer Gemeinde gegenüber als Selbstverteidigungsgruppe darstellen. Gleichzeitig beanspruchen sie mit jedem Quadratmeter Territorium, das sie erobern, mehr Macht. Doch die Menschen in den abgelegenen Dörfern wie Nduma vertrauen ihren lokalen Anführern viel mehr als der Regierung in der 2000 Kilometer entfernten Hauptstadt.

    Als Kikuny sich aufmacht, in den Dschungel zurück zu kehren, singen die Frauen des Dorfes ein Loblied: "Gott behüte die Raia Mutomboki, denn sie schützen uns vor Vergewaltigungen und Plünderungen" – singen sie. Und immerhin, jetzt sind die Rebellen auf der Flucht.