Gudrun Krämer ist Islamwissenschaftlerin an der Freien Universität zu Berlin.
I. Der Islam in der Welt
Wie jede Weltreligion ist der Islam von Vielfalt geprägt. Das gilt für seine Lehren, es gilt vor allem aber für die Art und Weise, in der Musliminnen und Muslime ihre Religion verstehen und leben. Die Unterschiede sind in vielen Fällen konfessionell bedingt, wenn der aus dem Christentum entlehnte Begriff der "Konfession" an dieser Stelle für die großen Strömungen der Sunniten, der Schiiten oder auch der Aleviten erlaubt sein mag. Die Unterschiede sind aber auch durch lokale Traditionen geprägt, durch soziales Milieu, Geschlecht, Alter und nicht zuletzt durch persönliche Präferenzen, und dies nicht erst in der Moderne mit den ihr eigenen Individualisierungstendenzen. All das betrifft das Verhältnis von Religion und Staat, Religion und Recht, Religion und Gesellschaft, das uns hier interessiert. Wie die aktuellen Auseinandersetzungen in Ägypten und Tunesien zeigen, ist das säkulare Prinzip, das in der einen oder anderen Weise zwischen Religion, Recht und Staat unterscheidet, in der islamischen Welt durchaus bekannt – und hoch umstritten. Auch die islamische Welt hat Prozesse der Säkularisierung durchlaufen, in deren Verlauf große Bereiche von Wirtschaft, Gesellschaft, Kultur und Recht der Kontrolle religiöser Normen und Instanzen entzogen wurden - selbst in Saudi-Arabien oder Iran, die sich als dezidiert islamische Staaten verstehen. Die Frage lautet daher nicht, ob islamische Gesellschaften gegenüber den globalen Prozessen der Modernisierung und Säkularisierung grundsätzlich immun sind, sondern wie diese Prozesse im Einzelnen verlaufen und inwieweit sie in den jeweiligen Gesellschaften als legitim und erstrebenswert wahrgenommen werden. Die Debatte ist lebhaft, unter gläubigen Muslimen ebenso wie unter kritischen Beobachtern. Eine gewisse Verwirrung in begrifflicher und konzeptioneller Hinsicht ist dabei nicht zu übersehen: Die Wissenschaft diskutiert über Säkularität, Säkularisierung und Säkularismus als unterscheidbare Größen. Die öffentliche Diskussion macht diese Unterscheidungen selten, und dies nicht nur in der islamischen Welt.
Um die Fäden ein wenig zu entwirren, soll hier in Anlehnung an den in den USA lehrenden Soziologen José Casanova von drei Dimensionen von Säkularität und Säkularisierung die Rede sein: Drei Dimensionen einer Unterscheidung zwischen religiösen und nicht-religiösen Feldern, die an Hand der christlich geprägten Gesellschaften Europas und Amerikas entwickelt wurden. Sie können jedoch auch für andere Kulturen und Gesellschaften relevant sein: Erstens, Säkularismus als institutionelle und konstitutionelle Trennung von Religion und Staat; zweitens, Säkularisierung als "Rückzug" oder "Verdrängung" der Religion in den privaten Raum; und schließlich – drittens -, Säkularisierung als Bedeutungsverlust von Religion, was bis zum staatlich verordneten Atheismus reichen kann.
Um die Fäden ein wenig zu entwirren, soll hier in Anlehnung an den in den USA lehrenden Soziologen José Casanova von drei Dimensionen von Säkularität und Säkularisierung die Rede sein: Drei Dimensionen einer Unterscheidung zwischen religiösen und nicht-religiösen Feldern, die an Hand der christlich geprägten Gesellschaften Europas und Amerikas entwickelt wurden. Sie können jedoch auch für andere Kulturen und Gesellschaften relevant sein: Erstens, Säkularismus als institutionelle und konstitutionelle Trennung von Religion und Staat; zweitens, Säkularisierung als "Rückzug" oder "Verdrängung" der Religion in den privaten Raum; und schließlich – drittens -, Säkularisierung als Bedeutungsverlust von Religion, was bis zum staatlich verordneten Atheismus reichen kann.
II. Zur Trennung von Religion und Staat
Entgegen einer weit verbreiteten Auffassung waren Religion und Politik in den vormodernen islamischen Gesellschaften nicht so eng miteinander verknüpft, wie zeitgenössische Islamisten glauben machen wollen. Sie behaupten, im Islam seien Religion und Staat notwendig miteinander verbunden, ja, der Islam sei überhaupt "Religion und Staat" in einem. Sieht man vom frühen siebten Jahrhundert christlicher Zeitrechnung ab, als Muhammad als Prophet in Mekka und Medina an der Spitze der muslimischen Gemeinde stand, waren Religion und Politik nicht enger verquickt als im zeitgenössischen Europa, als in Japan oder Indien. Selbstverständlich standen politische und religiöse Akteure in einem anderen Verhältnis zueinander als im zeitgenössischen Europa: Anders als das Christentum kennt der Islam keine Kirche als hierarchisch verfasste Heilsanstalt mit Dogmenkompetenz. Er kennt allerdings Religions- und Rechtsgelehrte, die sich der korrekten Interpretation der normativen Texte widmen – des Koran als Gotteswort und der Sunna als der Überlieferung vom Reden und Handeln Muhammads als Prophet, der nach muslimischer Überzeugung Gottes Gebot vorbildlich und verbindlich verkörpert hat. Es lässt sich nun argumentieren, dass die islamischen Religions- und Rechtsgelehrten, die Ulamáa, in bestimmten Gesellschaften die Rolle eines Klerus spielten: Zwar waren sie, anders als der christliche Klerus, keine Heilsvermittler, die Sakramente stiften, doch übernahmen sie kraft ihres religiösen Wissens zentrale Aufgaben - nicht nur im Gottesdienst, sondern auch im Bildungs- und im Rechtswesen. Insofern wird man heute zwar nicht nach dem Verhältnis von "Kirche" und "Staat" bei der Gestaltung einer islamischen Ordnung fragen, wohl aber nach der Stellung der islamischen Religions- und Rechtsgelehrten. Die Islamische Republik Iran mit ihrer Staatsdoktrin von der "Führerschaft des Rechtsgelehrten" und Ägypten mit seiner Diskussion um die Rolle der Al-Azhar-Universität in Rechtsprechung und Verfassung illustrieren das deutlich.
Weniger kontrovers ist heute die Rolle der politischen Autoritäten: Die Idee eines sakralen Königtums ist dem sunnitischen Islam fremd. Die Schiiten entwickelten eigene, in vollem Sinne theokratische Vorstellungen legitimer Herrschaft, die bis in die Moderne aber kaum je in die Praxis umgesetzt wurden. Die frühen Nachfolger Muhammads an der Spitze der Gemeinde, die Kalifen, verstanden sich zwar als "Schatten Gottes auf Erden"; viele spätere muslimische Herrscher vertraten unverhohlen die Idee des Gottesgnadentums, die sich mit dem Koran nicht gut begründen lässt. Wie ihre christlichen Zeitgenossen verstanden sie sich als "Verteidiger der Religion" nach innen und außen. Aber sie besaßen - von wenigen Ausnahmen abgesehen - weder religiöses Charisma noch religiöse Autorität. Machte ein muslimischer Herrscher dennoch einen Anspruch auf religiöse Autorität geltend, stieß er auf den Widerstand der Rechts- und Religionsgelehrten. Hieran hat sich auch in der Gegenwart wenig geändert.
Mit Blick auf das institutionelle und konstitutionelle Verhältnis von Religion und Staat im Islam interessiert daher weniger die Verbindung von Klerus und Staat als vielmehr die Verbindung von islamischem Recht, Verfassung und öffentlicher Ordnung. Hierin steht der Islam dem Judentum weit näher als dem Christentum.
Die Scharia umfasst die Gesamtheit der moralischen, ethischen und religiösen Vorschriften des Islam, und sie ist nicht in einem Kodex festgeschrieben. Die Scharia wird oft als "göttliches Recht" beschrieben, das sich allein aus Koran und Sunna ableitet; tatsächlich ist sie auf der Grundlage von Koran und Sunna von muslimischen Religions- und Rechtsgelehrten erarbeitet worden und daher eben nicht identisch mit göttlicher Satzung, sondern in großen Teilen Menschenwerk und als solches in bestimmte historische Kontexte eingebunden. Das, was vielerorts als Scharia beschrieben wird, ist enger mit lokalen Traditionen und Konventionen verknüpft als das vielen bewusst ist. Anders als zeitgenössische Islamisten behaupten, wurde die Scharia im Übrigen niemals "integral" angewandt: Überall galten neben ihr lokales Gewohnheitsrecht oder obrigkeitliche Satzung, nicht selten standen Scharia-Normen, Gewohnheitsrecht und fürstliche Edikte in einem deutlichen Spannungsverhältnis zueinander. Es waren daher nicht erst die westlichen Kolonialmächte, die das islamische Recht aus wichtigen Bereichen von Herrschaft, Wirtschaft und Gesellschaft verdrängten. Heute gelten islamrechtliche Regeln meist nur im Ehe- und Familienrecht; islamisches Handels- und Strafrecht wird nur in wenigen Ländern angewandt, und auch dort in einer Weise, die den klassischen Beweis- und Verfahrensregeln nicht länger entspricht. Umso dringender haben Islamisten über Jahrzehnte ihre "Anwendung" eingefordert.
Weniger kontrovers ist heute die Rolle der politischen Autoritäten: Die Idee eines sakralen Königtums ist dem sunnitischen Islam fremd. Die Schiiten entwickelten eigene, in vollem Sinne theokratische Vorstellungen legitimer Herrschaft, die bis in die Moderne aber kaum je in die Praxis umgesetzt wurden. Die frühen Nachfolger Muhammads an der Spitze der Gemeinde, die Kalifen, verstanden sich zwar als "Schatten Gottes auf Erden"; viele spätere muslimische Herrscher vertraten unverhohlen die Idee des Gottesgnadentums, die sich mit dem Koran nicht gut begründen lässt. Wie ihre christlichen Zeitgenossen verstanden sie sich als "Verteidiger der Religion" nach innen und außen. Aber sie besaßen - von wenigen Ausnahmen abgesehen - weder religiöses Charisma noch religiöse Autorität. Machte ein muslimischer Herrscher dennoch einen Anspruch auf religiöse Autorität geltend, stieß er auf den Widerstand der Rechts- und Religionsgelehrten. Hieran hat sich auch in der Gegenwart wenig geändert.
Mit Blick auf das institutionelle und konstitutionelle Verhältnis von Religion und Staat im Islam interessiert daher weniger die Verbindung von Klerus und Staat als vielmehr die Verbindung von islamischem Recht, Verfassung und öffentlicher Ordnung. Hierin steht der Islam dem Judentum weit näher als dem Christentum.
Die Scharia umfasst die Gesamtheit der moralischen, ethischen und religiösen Vorschriften des Islam, und sie ist nicht in einem Kodex festgeschrieben. Die Scharia wird oft als "göttliches Recht" beschrieben, das sich allein aus Koran und Sunna ableitet; tatsächlich ist sie auf der Grundlage von Koran und Sunna von muslimischen Religions- und Rechtsgelehrten erarbeitet worden und daher eben nicht identisch mit göttlicher Satzung, sondern in großen Teilen Menschenwerk und als solches in bestimmte historische Kontexte eingebunden. Das, was vielerorts als Scharia beschrieben wird, ist enger mit lokalen Traditionen und Konventionen verknüpft als das vielen bewusst ist. Anders als zeitgenössische Islamisten behaupten, wurde die Scharia im Übrigen niemals "integral" angewandt: Überall galten neben ihr lokales Gewohnheitsrecht oder obrigkeitliche Satzung, nicht selten standen Scharia-Normen, Gewohnheitsrecht und fürstliche Edikte in einem deutlichen Spannungsverhältnis zueinander. Es waren daher nicht erst die westlichen Kolonialmächte, die das islamische Recht aus wichtigen Bereichen von Herrschaft, Wirtschaft und Gesellschaft verdrängten. Heute gelten islamrechtliche Regeln meist nur im Ehe- und Familienrecht; islamisches Handels- und Strafrecht wird nur in wenigen Ländern angewandt, und auch dort in einer Weise, die den klassischen Beweis- und Verfahrensregeln nicht länger entspricht. Umso dringender haben Islamisten über Jahrzehnte ihre "Anwendung" eingefordert.
III. Zur Privatisierung von Religion
Zu den problematischsten Elementen westlicher Modernisierungs- und Demokratietheorien gehört die These, Religion sei im Verlauf der Säkularisierung zur Privatsache geworden und sollte dies im Sinne der Wahrung des gesellschaftlichen Friedens und der öffentlichen Ordnung auch bleiben. Klammern wir die dahinterstehenden, für eine demokratische Ordnung so grundlegenden Annahmen von der Gleichheit aller Menschen und der Gleichwertigkeit aller religiösen Überzeugungen an dieser Stelle aus. Beschränken wir uns auf ihre, wenn man so will, praktischen Aspekte. Dann gilt die Privatisierungsthese nur für Religionen, in denen sich Glaube, Zugehörigkeit und Kultus voneinander trennen lassen und in denen der Kultus, unabhängig von staatlichem Handeln, freiwillig und vollwertig ausgeübt werden kann. Das trifft auf Christentum und Islam prinzipiell zu. Aber auch in ihnen ist Religion mit gewissen Werthaltungen, möglicherweise sogar mit einer bestimmten Lebensführung verbunden, die sich nicht auf eine private Sphäre beschränken lassen - ganz gleichgültig, wie diese private Sphäre auch definiert wird. Sobald also mit der These vom Rückzug der Religion in die Privatsphäre mehr gemeint ist als die Trennung von Religion und Staat – und von dieser Dimension war bereits die Rede – , stellt sich die Frage nach dem Verhältnis von privatem und öffentlichem Raum.
Für den Islam ist diese Frage von eminenter Bedeutung: Die Mehrheit der Muslime geht davon aus, dass Islam mehr bedeutet als das Bekenntnis zu dem Einen Gott und seinem Propheten Muhammad. Islam ist für sie nicht nur Glaube, sondern Religion, die den Gläubigen "bindet". Nach islamischer Lehre fordert der Islam von seinen Anhängern, für ihren Glauben vor der Welt "Zeugnis" abzulegen. Nicht anders als in Judentum und Christentum soll sich im Islam der rechte Glaube in Taten manifestieren, ja in einer bestimmten, religiös fundierten Lebensführung.
Die sogenannten Pfeiler des Islam – das Glaubensbekenntnis, das fünfmalige tägliche Gebet, das Fasten im Monat Ramadan, die Almosengabe und die Pilgerfahrt nach Mekka – können prinzipiell unabhängig vom Staat ausgeübt werden und mit Ausnahme der Pilgerfahrt sogar in privaten Räumen; sie sind aber doch als öffentliches, sichtbares und hörbares Bekenntnis zum Islam und der Gemeinschaft der Muslime gedacht.
Wie problematisch die These von einer "Privatisierung der Religion" in den modernen muslimischen Gesellschaften ist, zeigt das Thema "Moralpolitik". Heute spielt sie in der Auseinandersetzung um Identität, Ordnung und Gerechtigkeit eine zentrale Rolle. Wo immer nach der "Anwendung der Scharia" gerufen wird, ist auch die Rede von der "öffentlichen Moral". Moral steht dabei nicht nur für die Ablehnung von Alkohol, Drogen und Prostitution, die der Islam verbietet. Sie steht für die Einhaltung bestimmter Verhaltensnormen, für "Anstand", "Sittlichkeit" und den Kampf gegen jede Form von "Korruption". Muslimische Identität und die Einhaltung bestimmter Kleidungs-, Ess- und Verhaltensnormen werden weithin gleichgesetzt. Im Verhältnis der Geschlechter haben sich in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten konservative Vorstellungen so weit durchgesetzt, dass sie öffentlich kaum mehr hinterfragt werden können.
Für den Islam ist diese Frage von eminenter Bedeutung: Die Mehrheit der Muslime geht davon aus, dass Islam mehr bedeutet als das Bekenntnis zu dem Einen Gott und seinem Propheten Muhammad. Islam ist für sie nicht nur Glaube, sondern Religion, die den Gläubigen "bindet". Nach islamischer Lehre fordert der Islam von seinen Anhängern, für ihren Glauben vor der Welt "Zeugnis" abzulegen. Nicht anders als in Judentum und Christentum soll sich im Islam der rechte Glaube in Taten manifestieren, ja in einer bestimmten, religiös fundierten Lebensführung.
Die sogenannten Pfeiler des Islam – das Glaubensbekenntnis, das fünfmalige tägliche Gebet, das Fasten im Monat Ramadan, die Almosengabe und die Pilgerfahrt nach Mekka – können prinzipiell unabhängig vom Staat ausgeübt werden und mit Ausnahme der Pilgerfahrt sogar in privaten Räumen; sie sind aber doch als öffentliches, sichtbares und hörbares Bekenntnis zum Islam und der Gemeinschaft der Muslime gedacht.
Wie problematisch die These von einer "Privatisierung der Religion" in den modernen muslimischen Gesellschaften ist, zeigt das Thema "Moralpolitik". Heute spielt sie in der Auseinandersetzung um Identität, Ordnung und Gerechtigkeit eine zentrale Rolle. Wo immer nach der "Anwendung der Scharia" gerufen wird, ist auch die Rede von der "öffentlichen Moral". Moral steht dabei nicht nur für die Ablehnung von Alkohol, Drogen und Prostitution, die der Islam verbietet. Sie steht für die Einhaltung bestimmter Verhaltensnormen, für "Anstand", "Sittlichkeit" und den Kampf gegen jede Form von "Korruption". Muslimische Identität und die Einhaltung bestimmter Kleidungs-, Ess- und Verhaltensnormen werden weithin gleichgesetzt. Im Verhältnis der Geschlechter haben sich in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten konservative Vorstellungen so weit durchgesetzt, dass sie öffentlich kaum mehr hinterfragt werden können.
IV. Die Verschiebung der Grenzen zwischen Privat und Öffentlich
Die Gleichsetzung von muslimischer Identität und öffentlicher Moral drückt sich häufig in der geradezu demonstrativen Einhaltung religiöser Pflichten, Speiseregeln und Kleidungsvorschriften aus, die – nicht immer zu Recht – auf Koran und Sunna zurückgeführt werden. Fast überall stehen im Mittelpunkt das Verbot von Alkohol und Drogen, die Geschlechtertrennung im öffentlichen Raum sowie "anständige" Kleidung im Allgemeinen und der Schleier im Besonderen. Wie im Judentum markiert die Beschneidung den Körper des männlichen Gläubigen; den weiblichen Körper markieren Kleidung und Kopfbedeckung. An dieser Stelle lässt sich die Verknüpfung von Religion, Konvention und Mode gewissermaßen mit Händen greifen, die das Phänomen der öffentlichen Frömmigkeit insgesamt charakterisiert. Spezifisch islamisch ist am ehesten deren Politisierung im Zeichen einer forcierten Identitätspolitik. Islamische Medien und soziale Netzwerke, eine eigene, kommerziell agierende und rapid expandierende islamische Konsum- und Massenkultur sorgen für die globale Verbreitung bestimmter Vorstellungen von islamischer Moral und Frömmigkeit. Sie unterstreichen zugleich die enge Verbindung von technischer Moderne und öffentlicher Frömmigkeit, die nicht nur für den Islam konstatiert worden ist.
Unter dem Oberbegriff der Moral- und Identitätspolitik lässt sich ein weiteres Thema fassen, das in der Regel getrennt betrachtet wird: die Frage der Religions- und Meinungsfreiheit. In den meisten muslimischen Mehrheitsgesellschaften ist der Islam Staatsreligion und die öffentliche Kritik an seinen Grundannahmen strikt verpönt; nicht wenige Staaten verbieten sie in aller Form, manche verfolgen sie strafrechtlich. Eine liberale Politik, die eine öffentliche Auseinandersetzung mit religiösen Wahrheiten in Kunst, Kultur, Medien und Wissenschaft duldet, ja regelrecht fördert, findet in der islamischen Welt heute wenig Unterstützung. Die liberale, säkulare Linie hat zwar durchaus ihre Anhänger, lauter und durchsetzungsfähiger sind derzeit aber ihre Gegner, die fordern, die Religion im öffentlichen Raum von Staats wegen zu schützen.
Die Betonung lag jedoch nicht umsonst auf "öffentlicher Moral" und "öffentlicher Diskussion": Gerade im Zusammenhang von Moral und Meinungsfreiheit wird durchaus zwischen privat und öffentlich unterschieden. So energisch der Staat auf seine Pflicht hingewiesen wird, für die Einhaltung von Moral, Religion und Anstand im öffentlichen Raum zu sorgen, so verpönt sind alle staatlichen Eingriffe in die Privatsphäre der Bürger. Schon in früheren Jahrhunderten duldete die Regierung oft genug Alkohol, Drogen und auch die Prostitution hinter verschlossenen Türen. Ähnliches gilt noch heute, und zwar gerade in Staaten wie Iran und Saudi-Arabien, die den öffentlichen Raum nach Kräften unter Kontrolle halten. Solange der Schein gewahrt bleibt, soll, so lautet die Maxime, der Staat sich nicht einmischen: "my home is my castle."
Das stellt das Prinzip des Säkularismus gewissermaßen auf den Kopf: Die öffentliche Sphäre wird von einer religiös begründeten, konservativen Sozialmoral und zumindest in gewissen Feldern auch von der Scharia bestimmt. Die Privatsphäre hingegen ist frei, aber sie dient nicht als Refugium der Religion, sondern als Freiraum für jene, die dem religiösen Konformismus, wenn nicht sogar der Religion entkommen wollen.
Die Ausweitung sozialer Netzwerke und des Cyberspace unterhöhlt die Zweiteilung in privat und öffentlich allerdings mehr und mehr. Gerade in Staaten wie Saudi-Arabien, Iran oder Pakistan artikulieren sich im Netz kritische Stimmen, und zwar gerade auch weibliche, die nichts mehr unangetastet lassen und offen von all dem sprechen, was in der Gesellschaft bislang tabu war: Macht, Sex und selbst die Religion. Ob und wann die Netzöffentlichkeit in eine gesellschaftliche Debatte übergeht, die an öffentlichen Plätzen frei geführt werden kann, ist offen – und enorm spannend. Von einem Niedergang der Religion kann in den muslimischen Gesellschaften jedenfalls ungeachtet unübersehbarer Säkularisierungsprozesse keine Rede sein.
Zu den weiteren Beiträgen der "Wegmarken"-Reihe
Unter dem Oberbegriff der Moral- und Identitätspolitik lässt sich ein weiteres Thema fassen, das in der Regel getrennt betrachtet wird: die Frage der Religions- und Meinungsfreiheit. In den meisten muslimischen Mehrheitsgesellschaften ist der Islam Staatsreligion und die öffentliche Kritik an seinen Grundannahmen strikt verpönt; nicht wenige Staaten verbieten sie in aller Form, manche verfolgen sie strafrechtlich. Eine liberale Politik, die eine öffentliche Auseinandersetzung mit religiösen Wahrheiten in Kunst, Kultur, Medien und Wissenschaft duldet, ja regelrecht fördert, findet in der islamischen Welt heute wenig Unterstützung. Die liberale, säkulare Linie hat zwar durchaus ihre Anhänger, lauter und durchsetzungsfähiger sind derzeit aber ihre Gegner, die fordern, die Religion im öffentlichen Raum von Staats wegen zu schützen.
Die Betonung lag jedoch nicht umsonst auf "öffentlicher Moral" und "öffentlicher Diskussion": Gerade im Zusammenhang von Moral und Meinungsfreiheit wird durchaus zwischen privat und öffentlich unterschieden. So energisch der Staat auf seine Pflicht hingewiesen wird, für die Einhaltung von Moral, Religion und Anstand im öffentlichen Raum zu sorgen, so verpönt sind alle staatlichen Eingriffe in die Privatsphäre der Bürger. Schon in früheren Jahrhunderten duldete die Regierung oft genug Alkohol, Drogen und auch die Prostitution hinter verschlossenen Türen. Ähnliches gilt noch heute, und zwar gerade in Staaten wie Iran und Saudi-Arabien, die den öffentlichen Raum nach Kräften unter Kontrolle halten. Solange der Schein gewahrt bleibt, soll, so lautet die Maxime, der Staat sich nicht einmischen: "my home is my castle."
Das stellt das Prinzip des Säkularismus gewissermaßen auf den Kopf: Die öffentliche Sphäre wird von einer religiös begründeten, konservativen Sozialmoral und zumindest in gewissen Feldern auch von der Scharia bestimmt. Die Privatsphäre hingegen ist frei, aber sie dient nicht als Refugium der Religion, sondern als Freiraum für jene, die dem religiösen Konformismus, wenn nicht sogar der Religion entkommen wollen.
Die Ausweitung sozialer Netzwerke und des Cyberspace unterhöhlt die Zweiteilung in privat und öffentlich allerdings mehr und mehr. Gerade in Staaten wie Saudi-Arabien, Iran oder Pakistan artikulieren sich im Netz kritische Stimmen, und zwar gerade auch weibliche, die nichts mehr unangetastet lassen und offen von all dem sprechen, was in der Gesellschaft bislang tabu war: Macht, Sex und selbst die Religion. Ob und wann die Netzöffentlichkeit in eine gesellschaftliche Debatte übergeht, die an öffentlichen Plätzen frei geführt werden kann, ist offen – und enorm spannend. Von einem Niedergang der Religion kann in den muslimischen Gesellschaften jedenfalls ungeachtet unübersehbarer Säkularisierungsprozesse keine Rede sein.
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