Viele Christinnen und Christen gehen vor allem aus emotionalen Gründen in die Kirche. Vier Fünftel der in der Studie Befragten gaben an, dass sie besonders die gottesdienstliche Atmosphäre ansprechen müsse.
"Das Wichtigste ist für viele Menschen, dass der Gottesdienst ihrem Glauben guttut, sie ihn als spirituell wertvoll empfinden; an zweiter Stelle kommen ästhetische Aspekte, da kommen wir in einen Bereich, der schwer fassbar ist."
Sagt Julia Koll. Die Pastorin hat die Arbeitsgruppe 'Kirchgangsstudie 2019' der Liturgischen Konferenz der EKD geleitet. Ein weiteres Ergebnis: Auch die Musik ist vielen Kirchgängern wichtig, aber:
"Die Geister scheiden sich: Was dem einen liegt, missfällt der anderen. Wir stoßen hier schnell bei der Musik an ein Ausmaß an gesellschaftlicher Ausdifferenzierung, die sich mit einer Gottesdienstform nicht mehr einfangen lässt."
"Die anderen bestimmen, was relevant ist"
In die traditionellen Kirchenlieder stimmen nicht mehr alle Kirchgänger inbrünstig ein. Das zeige sich beispielsweise bei Trauerfeiern, wenn die Hinterbliebenen sich eher volkstümliche oder Poplieder von der CD wünschen würden, sagt Emilia Handke. Sie ist in der evangelischen Nordkirche Leiterin der Arbeitsstelle Kirche im Dialog.
"Das stellt uns vor Herausforderungen, weil wir wissen, das wird uns nicht nützen, zu behaupten, dass die Texte tiefsinnig sind und dass das Glaubenserfahrungen ganzer Generationen widerspiegelt; das stimmt, aber es ist heute so: die anderen bestimmen, was relevant ist. Wir sind als Kirche nicht mehr in der Position zu sagen, das hat für euch relevant zu sein, sondern die Menschen bestimmen, was für sie relevant ist und wir müssen uns danach richten, wenn wir sie erreichen wollen."
Ein anderer Punkt: die Pfarrerinnen und Pfarrer. Die Befragung habe allerdings gezeigt, so der Bonner Professor für Systematische Theologie, Michael Meyer-Blanck, dass die Menschen nicht vorrangig wegen eines bestimmten Pastors in den Gottesdienst kämen. Aber:
"Es ist mindestens ein Ausschlussgrund. Wenn der Pfarrer mit mir vollkommen contre coeur ist, dann werde ich da nicht hingehen, auch wenn die anderen Faktoren stimmen."
Sonntagsgottesdienst ist etwas für Insider
Drei Viertel der rund 10.000 Befragten geben an, ihnen sei eine gute Predigt wichtig. Die Pfarrerinnen und Pfarrer stünden allerdings meist in der Pflicht, die Bibeltexte der vorgegebenen Perikopenordnung als Grundlage für die Predigt zu nehmen, kritisiert Emilia Handke:
"Ich behaupte, die Texte sind so abständig und so weit weg von Menschen, die nicht so sozialisiert worden sind, dass das, was wir machen, nur einen Kreis von Eingeweihten erreichen wird, weil es auch die Sprache von Eingeweihten ist. Der Gottesdienst am Sonntag ist eine Veranstaltung für Mönche und Nonnen, die üben ihr ganzes Leben. Und wenn jemand dazu kommt, dann kann er nicht einsteigen."
In der Tat belegt die Studie, dass der Gottesdienst am Sonntagvormittag vor allem etwas für Insider ist. Julia Koll und Emilia Handke:
Koll: "Der Klassiker, das ist von allen Gottesdienstformen der hochschwelligste, der am voraussetzungsvollsten ist, und an dem dann anteilig, die nicht ehrenamtlich engagiert sind, am wenigsten teilnehmen. Das ist ein Zielgruppengottesdienst für Ehrenamtliche und Ältere."
Handke: "Also die Klientel, die in der Tendenz weniger wird und irgendwann ausstirbt."
Koll: "Er ist eben in seiner geprägten Form sehr voraussetzungsvoll: man muss sehr viel wissen, um ihn mit Gewinn mitfeiern zu können: das fängt bei der Eingangsliturgie an, bei den Gesängen."
Handke: "Man kann es daran sehen: Wir singen Kyrie Eleison und Gloria - die meisten Leute wissen gar nicht, wie sie das aussprechen sollen. Die sagen dann 'Kyri'. Und die Übersetzung kennen sie schon gar nicht.
Koll: "Und der wird von vielen Menschen heute, einschließlich des ordentlichen Sitzens, der frontalen Ausrichtung, der klassischen Musik, als rückständig empfunden."
Gottesdienste - wäre weniger mehr?
Die aktuellen Zahlen über den evangelischen Gottesdienstbesuch sind für die Kirche alarmierend. Von 2017 auf 2018 ist der Besuch an einem durchschnittlichen Sonntagmorgen um fast 94.000 zurückgegangen. Weniger als drei Prozent der Mitglieder gehen sonntags in die Kirche. Manchmal sitzt nur ein Dutzend Christinnen und Christen in den Kirchenbänken – inklusive Pfarrerin und Organist. Emilia Handke sagt:
"In einer Zeit, in der die Ressourcen knapper werden, müssen wir uns ganz zwingend darüber Gedanken machen, wie wir zusammen arbeiten können in der Region. Und das wird nicht umhin führen, zu sagen, es gibt das klassische Format vielleicht einmal pro Monat in einem Ort und das nächste Mal in einem anderen Ort, aber wir können unsere Mitarbeiter, die Kantoren und Pastoren, nicht ihre wertvolle Zeit dafür allein in Anspruch nehmen lassen, ein Format vorzubereiten, das mitunter von fünf Menschen besucht wird, die eine aussterbende Zielgruppe sind. Das wird nicht reichen, um ihn lebendig zu halten."
"Der Königsweg ist Partizipation"
Ein weiteres Ergebnis: Mit dem evangelischen Gottesdienst assoziieren die Kirchgänger nicht primär die Verkündigung einer Frohen Botschaft, sagt die Studienleiterin Julia Koll:
"Eine Äußerung, die uns auch frappiert hat, als Grund für einen seltenen Besuch: Alles läuft perfekt im Leben, also muss ich keinen Gottesdienst besuchen. Wir haben eben eine gewisse Schlagseite zu Traurigkeit, zu Trost, zu Jammertal auch in unserer Liedtradition."
Michael Meyer-Blanck, der Vorsitzende der Liturgischen Konferenz der EKD, betont allerdings die trostspendende Spiritualität eines evangelischen Gottesdienstes:
"Keine leere Fröhlichkeit, sondern eine spirituell gegründete. Fröhlich werde ich dann, wenn ich so mittelmäßig oder auch traurig leben kann, und sagen kann: Es ist trotzdem schön zu leben, angenommen zu sein, eine Perspektive zu haben. Ich werde fröhlich, trotz meiner Traurigkeit. Das ist ja gut evangelisch, was man mit Rechtfertigung, Erlösung, Heiligung beschreibt."
Für den Bonner Theologieprofessor hat auch der Gottesdienst am Sonntagvormittag noch eine Zukunft:
"Der Einheitsgottesdienst ist dann gut, wenn er nicht nur die versammelt, die unter sich bleiben wollen, sondern auch andere Gruppen; und der Königsweg dazu ist Partizipation: Wenn Sie einen Kinder- oder Jugendchor singen haben, die haben Familie, die haben Freunde, das interessiert auch andere. Das ist eigentlich der Königsweg: mitmachen, ansprechen auf ungewohnten Wegen."
Es braucht mehr als Glockengeläut
Es gehe um ein differenziertes Angebot: um andere Musik, einen neuen Predigtstil, eine niederschwellige Liturgie, veränderte Gottesdienstzeiten und -Orte. Und gefragt seien auch neue Werbestrategien, meint Emilia Handke von der Hamburger Arbeitsstelle Kirche im Dialog. Sie nennt als Beispiel eine kleine Gemeinde in der Nähe von Rostock:
"Die hat es geschafft, bei einem 17 Uhr-Gottesdienst am Sonntag, vor dem sie in jeden Haushalt einen Flyer gelegt hat, ganz stark die Teilnehmerklientel zu vergrößern, weil sie eben durch persönliche Ansprache kommen. Und diese Mühe, die wir sonst nicht aufwenden, also wir läuten die Glocken und warten, dass irgendjemand kommt, weil er irgendwie religiös sozialisiert ist, darauf werden wir nicht mehr warten können."
Emilia Handke hofft auf mehr Experimente und verweist auf einen Pfarrer, der jedes Mal, wenn es fünf Sonntage in einem Monat gibt, einen sehr speziellen Gottesdienst anbietet:
"Das letzte Experiment war ein eBay-Gottesdienst, bei dem er das Thema der Predigt bei eBay versteigert hat. Das sorgt für eine ganz andere Form von Öffentlichkeit für das Medium Gottesdienst."
205 Euro wurden bei der Versteigerung geboten. Gewonnen hat das Thema: Kommt man auch mit einer 4- ins Reich Gottes?