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Gottesfurcht und Kirchenzucht (1/5)
Johannes Calvins erster Kontakt mit der Reformationsbewegung und die Plakataffäre in Paris

Der spätere Reformator Johannes Calvin erhielt seine Bildung in streng katholischen Einrichtungen. Dann aber kam es zu einer "unmittelbaren Verwandlung." Vor 450 Jahren starb Calvin in Genf.

Von Rüdiger Achenbach |
    Zeitgenössisches Porträt des Reformators Johannes Calvin
    Zeitgenössisches Porträt des Reformators Johannes Calvin (picture alliance / dpa)
    "Ich erinnere mich gern daran, dass ich als Knabe in eurem Hause erzogen wurde und mit dir zusammen ins Lernen eingeführt worden bin. In eurer Familie habe ich die erste Anleitung in Wissen und Lebensart empfangen."
    Schreibt der 22-jährige Johannes Calvin seinem Jugendfreund Claude d'Hangest, dem Neffen des Bischofs von Noyon. Da Calvins Vater als Generalprokurator in den Diensten des Bischofs stand, hatte sein Sohn am Hausunterricht in der adeligen Familie teilnehmen können.
    Johannes Calvin, der eigentlich Jean Cauvin hieß, wurde am 10. Juli 1509 in Noyon als zweiter von vier Söhnen des Gerard Cauvin und dessen Ehefrau Jeanne Le Franc geboren. Seinen französischen Namen hat er später ins Lateinische übersetzt. Johannes wuchs in einer klerikal bestimmten Welt auf. Noyon in der Pikardie, etwa hundert Kilometer nördlich von Paris, war seit Jahrhunderten der kirchliche Mittelpunkt in Nordfrankreich.
    Nicht nur Calvins Vater stand im Dienst der Kirche, sondern auch der ältere Bruder, der als Priester tätig war, auch für Johannes war eine kirchliche Laufbahn vorgesehen. Schon im Alter von zwölf Jahren erhielt er seine ersten kirchlichen Pfründen. Dazu Christoph Strohm, Professor für Kirchengeschichte an der evangelischen Fakultät der Universität Heidelberg:
    "Alle Einnahmen erfolgten, ohne dass Calvin irgendwelche pastoralen Dienste leistete. In seinem Fall bildeten die Pfründen - etwas verharmlosend gesprochen - eine Art kirchliches Stipendium, für das der Vater gesorgt hatte."
    Und er schickte seinen Sohn Johannes mit 14 Jahren nach Paris, um dort sein Grundstudium, also mit den Artes liberales, zu beginnen. Nach kurzer Zeit auf dem Collège du Marché wechselte Johannes Calvin dann auf das berühmte Collège Montaigu. Christoph Strohm:
    "Zu Calvins Zeiten galt es als Hochburg der Orthodoxie und Feindschaft gegen die Reformation sowie als Sinnbild einer Kärglichkeit, die an Grausamkeit grenzte. Erasmus von Rotterdam und Rabelais, die zu unterschiedlichen Zeiten im Collège Montaigu unterrichtet wurden, haben in übereinstimmender Weise beißende Kritik an Stil und Inhalt der dort ausgeübten Erziehung formuliert."
    Erste Kontakte mit dem Humanismus
    Die sich ausbreitende humanistischen Reformbewegung war im Montaigu Tabu. Hier herrschte nach wie vor die strenge mittelalterliche Scholastik. Willem Nijenhuis, Theologieprofessor an der Universität in Groningen:
    "Calvin wurde in Montaigu in Philosophie und in der Technik der Disputation geschult. Er hat dort den Nominalismus kennengelernt und Kirchenväter gelesen. Vielleicht wurden ihm durch den Unterricht des Schotten John Maior die Sentenzen des Petrus Lombardus bekannt. Sein Verkehr mit der Familie Cop und mit seinem Vetter Pierre Robert Olivétan, dem späteren Bibelübersetzer, brachte ihn nun aber auch in Berührung mit dem Humanismus."
    Im Gegensatz zu anderen hat Calvin sich kein einziges Mal negativ über diese Lehranstalt geäußert, die er um 1527 mit dem akademischen Grad eines Magisters verlässt. Nach dem Willen des Domkapitels in Noyon, das ihn finanziell mit den Pfründen unterstützte, sollte er Theologie studieren. Doch plötzlich hat der Vater seine Meinung geändert.
    "Schon seit meiner Kindheit hatte mein Vater mich für die Theologie bestimmt. Doch als er sich darüber im Klaren wurde, dass die Rechtswissenschaft ihre Jünger mit gutem Einkommen versorgte, bewog ihn solche Hoffnung sogleich, die Meinung zu ändern. So geschah es, dass ich vom Studium der Philosophie zum Erlernen der Gesetze gerufen wurde."
    Der eigentliche Grund für den Meinungswechsel des Vaters war wahrscheinlich ein Streit, den dieser inzwischen mit dem Domkapitel hatte. Dabei ging es um die Verwaltung einer Erbschaft. Der Konflikt mit dem kirchlichen Arbeitgeber wurde schließlich so heftig, dass Gérard Cauvin sogar exkommuniziert wurde.
    Johannes Calvin hätte zwar das Theologiestudium vorgezogen, aber als gehorsamer Sohn ging er zum Jurastudium nach Orléans und zeitweise auch nach Bourges. Beide Universitäten galten im Gegensatz zur Sorbonne in Paris als Zentren der humanistischen Jurisprudenz in Frankreich. Während die mittelalterliche Rechtsauffassung streng den autoritativen Rechtsquellen folgte, legten die Anhänger des Humanismus besonderen Wert darauf, das römische Recht historisch-kritisch zu erarbeiten. Calvin widmete sich dem Jurastudium mit vollem Engagement. Er war schon bald einer der erfolgreichsten Studenten. Nebenbei begann er jetzt auch bei dem Gräzisten und Juristen Melchior Volmar, der aus Deutschland stammte und ein Anhänger Luthers war, Griechisch zu lernen. Volmar hat Calvin ohne Zweifel für die humanistischen Studien begeistert. Christoph Strohm:
    "In wie starkem Maße Volmars 'evangelische Überzeugungen' auf Calvin gewirkt haben, muss offenbleiben, da dieser selbst darüber an keiner Stelle Auskunft gibt."
    Totenmesse für den Vater verweigert
    Nachdem Calvin 1531 den Grad eines Lizenziaten der Rechte erlangt hat, wird er ans Krankenbett seines Vaters nach Noyon gerufen. Als Gérard Cauvin dann am 26. Mai starb, musste Johannes Calvin miterleben, dass seinem Vater, der Jahrzehnte im Dienst der Kirche gestanden hatte, eine Totenmesse verweigert wurde, weil dieser wegen eines Streits mit seinem bischöflichen Dienstherrn exkommuniziert worden war.
    Nach dem Tod des Vaters fühlte er sich frei, selbst zu bestimmen, welche berufliche Laufbahn er anstreben wollte. Ohne die Rechtswissenschaften ganz zu vernachlässigen, entschied er sich jetzt für das Studium der alten Sprachen. Außerdem brachte er nun seine erste Veröffentlichung, einen Kommentar zu Senecas Schrift "De clementia" heraus. Es war Calvins Absicht gewesen, sich mit diesem Werk in den Kreisen der gelehrten Humanisten bekannt zu machen, doch dieser Erfolg stellte sich nicht ein. Dazu Richard Stauffer, Kirchenhistoriker an der Sorbonne in Paris:
    "Calvins Kommentar zu 'De clementia' zeugt nicht nur von Gelehrsamkeit und gutem Stil, sondern auch von der Persönlichkeit und Originalität des Autors. Trotz seiner Vorzüge wurde der Kommentar von den Humanisten jedoch mit Zurückhaltung aufgenommen. Man warf Calvin Anmaßung vor, da er es gewagt hatte, darin Erasmus zu kritisieren."
    Erasmus von Rotterdam galt überall in Europa - besonders unter den Humanisten - als die herausragende geistige Autorität. Der niederländische Gelehrte, der als erster Schriftsteller durch das neue Medium Buch international populär geworden war, wurde von seinen Anhängern als "Fürst der Humanisten" bezeichnet. Dass der völlig unbekannte Calvin es gewagt hatte, Erasmus zu kritisieren, wurde ihm deshalb in Humanisten-Kreisen übel genommen.
    Andererseits lässt sich in Calvins Seneca-Kommentar auch noch kein Hinweis darauf finden, dass er irgendeine Sympathie für die Reformation entwickelt hätte. Vielmehr stellt er sich noch ganz und gar als ein Verehrer der antiken Literatur vor. Christoph Strohm:
    "Calvin hat sich hier eindeutig positioniert, wenn er im Vorwort zu seinem Kommentar die Aktualität des Stoikers Seneca in sittlichen Fragen betont. In der Ethik, so Calvin, übertreffe Seneca alle anderen Philosophen."
    Anderseits traf Calvin gerade in der Umgebung der Humanisten auch immer wieder mit Anhängern der Reformation zusammen. Dennoch bleibt unklar, wann er begann, sich mit den Ideen der Reformation zu beschäftigen. Willem Nijenhuis:
    "Der Zeitpunkt seines Schrittes vom humanistischen Reformkatholizismus zur Reformation ist Gegenstand vieler unfruchtbarer Diskussionen gewesen. Wahrscheinlich fällt der Übergang, nach einer Periode anhaltenden Nachdenkens und inneren Kampfes in die Zeit zwischen August 1533 und Mai 1534."
    Flucht aus Paris
    Jedenfalls wurde Calvin 1533 in Paris Zeuge heftiger Auseinandersetzungen zwischen Kirchenreformern und ihren Gegnern. Am Allerheiligentag 1533 eröffnete der Rektor der Universität, Calvins Freund Nicolas Cop - dem Brauch entsprechend - den Semesterbeginn mit einer Predigt. Als darin Gedanken von Erasmus und Luther vorkamen und anderseits die scholastische Theologie angegriffen wurde, kam es zu einem Tumult unter den Zuhörern.
    Den Gegner der Reformation an der Sorbonne gelang es, die sofortige Verfolgung aller Anhänger der Reformation als Häretiker zu erwirken. Nicolas Cop konnte ins Ausland fliehen. Aber auch Calvin - es wird vermutet, dass er an der Ausarbeitung der umstrittenen Predigt mitgearbeitet haben könnte - fühlte sich bedroht. Jedenfalls floh er jetzt für einige Zeit zu seinem ehemaligen Studienfreund Louis du Tillet, der inzwischen Pfarrer und Domherr an der Kathedrale von Angoulême geworden war. Richard Stauffer:
    "Mit der Flucht Calvins nach Angoulême stellt sich ein wichtiges Problem: das seiner Konversion oder genauer seiner Zugehörigkeit zur Reformation. Als er versuchte, den nach Cops Rede plötzlich einsetzenden Verfolgungen zu entgehen, stellte er unter Beweis, dass er gewisse Beziehungen zum evangelischen Ideal unterhielt."
    Mehr als 20 Jahre später hat Calvin dann zum ersten Mal selbst über seine Hinwendung zur Reformation Auskunft gegeben.
    "Zuerst war ich dem Aberglauben des Papsttums so hartnäckig zugetan, dass es nicht leicht war, mich aus diesem tiefen Abgrund herauszureißen. Gott aber hat mein Herz, das für mein Alter schon recht verstockt war, durch eine unmittelbare Verwandlung zur Gelehrigkeit bekehrt. Sobald ich einen gewissen Geschmack an der wahren evangelischen Frömmigkeit gewonnen hatte, entflammte mich ein solcher Eifer, darin vorwärts zu kommen, dass ich zwar die anderen Studien nicht gerade beiseite warf, aber doch weniger energisch betrieb."
    Die von Calvin angesprochene "unmittelbare Verwandlung" wird tatsächlich eher ein längerer Prozess gewesen sein, in dem er sich den reformatorischen Vorstellungen angenähert hat. Zwei Jahrzehnte später in Genf verband er mit dieser Mitteilung ein anderes Interesse. Willem Nijenhuis:
    "Sprach Calvin später von einer 'unmittelbaren Verwandlung', also von einer 'subita conversione', so könnte das mehr theologisch als autobiografisch gemeint sein. Unerwartet, das heißt hier, nicht zuvor erwogen, ohne Anknüpfungspunkt im menschlichen Denken und erfahren, vielmehr ausschließlich als ein Werk des Heiligen Geistes. Mit der Wendung 'unmittelbare Verwandlung' wollte Calvin nach Analogie der Damaskus-Erfahrung des Paulus seinen Dienst auf eine besondere Berufung durch Gott zurückführen."
    Um seinen Bruch mit der römischen Kirche dann aber auch mit allen Konsequenzen deutlich zu machen, begab er sich im Frühjahr 1534 in seine Geburtsstadt Noyon und verzichtete dort offiziell auf seine kirchlichen Pfründe.
    Unter dem Decknamen Charles d'Espeville wandert Calvin jetzt einige Zeit durch Frankreich. Jetzt lernt er auch Margarete von Navarra, die Schwester des französischen Königs kennen, die sehr offen für die Anliegen der Reformation ist. In dieser Angelegenheit hatte sie eine Zeit lang auch mäßigenden Einfluss auf ihren Bruder. Doch die Tatsache, dass der König inzwischen wieder zur Politik der begrenzten Toleranz gegenüber den Anhängern der Reformation zurückgekehrt war, sodass Calvin sich wieder frei bewegen konnte, hing damit zusammen, dass Franz I. protestantische Landesfürsten aus Deutschland als seine Verbündete gegen den Kaiser gewinnen wollte. Doch schon bald sollte sich die Situation wieder drastisch verändern.
    In der Nacht vom 17. auf den 18. Oktober 1554 wurden auf verschiedenen öffentlichen Plätzen in Paris Plakate angeschlagen, auf denen das Messopfer der römischen Kirche als Blasphemie angeklagt wurde. Sogar in den königlichen Gemächern waren diese Plakate aufgetaucht. Der Kirchenhistoriker Christoph Strohm:
    "Diese sogenannte 'Affaire des placards' rief einen Sturm der Entrüstung hervor und wurde vom König und zahlreichen Vertretern des Staates und der Kirche als Angriff auf die Grundlagen des französischen Gemeinwesens wahrgenommen."
    Ermutigt von den Professoren der Sorbonne, dem Parlament und auch einigen Humanisten erlässt Franz I. von Frankreich jetzt ein Edikt, dass die Auslöschung der Häretiker verfügt. Anhänger der Reformation, die jetzt gefasst werden, werden sofort hingerichtet. Auch Johannes Calvin ist nun in Gefahr. Ihm bleibt daher nur die Flucht ins Ausland.