Gisa Funck: Lieber Herr Hof, ich grüße Sie. Es gibt ja schon so einige frühere Briefsammlungen von Gottfried Benn, darunter etwa den Briefwechsel mit Thea Sternheim, mit seinem alten Verleger Max Niedermayer, mit Tilly Wedekind, mit Ernst Jünger, um nur so einige Namen zu nennen. 2016 haben Sie außerdem auch schon den Briefwechsel von Gottfried Benn mit Friedrich Wilhelm Oelze herausgeben. Warum jetzt noch mal eine neue Sammlung mit Gottfried-Benn-Briefen?
Holger Hof: Ja, wissen Sie, mein Ziel war, in diesem Briefband so viel neues Material zu präsentieren, wie möglich. Und jetzt wissen alle eingefleischten Benn-Leser, dass es so einen Band ja schon einmal gab. Gemeint sind die ausgewählten Briefe von 1957. Also unmittelbar nach Benns Tod. Und das war ein Meilenstein für die Forschung. Der einzige Makel, den dieser Band hatte, war, dass diese Briefe nur ganz spärlich kommentiert waren.
Funck Und das tun Sie jetzt noch mal, in dem neuen Band?
Hof: Genau! Die Idee, die mir vorschwebte, war die, dass alle die Briefe, die im Laufe der Zeit in größeren, kommentierten, gut kommentierten Ausgaben erschienen waren, die konnte ich auslassen. Und nur die, die nur 1957 einmal ediert waren, die wollte ich hinüberretten und mit einer großen Auswahl neu gefundener Briefe ergänzen. Beziehungsweise: Eigentlich die neu gefundenen Briefe ergänzen mit dieser kleineren Auswahl von 1957.
Funck Es sind jetzt in diesem neuen Band insgesamt 293 Briefe. Und von denen sind 179 Briefe bislang noch nicht bekannt gewesen. Erfährt man in den neuen Briefen denn auch etwas ganz Neues über den Dichter?
Hof: Na klar, für den Biografen sind natürlich alle Details unglaublich wichtig. Und wenn Sie jetzt darauf anspielen, ob das vielleicht so etwas Ähnliches wie ein Tagebuch ersetzen könne, dann würde ich sagen, dass Benn, der ja tatsächlich im eigentlichen Sinne kein Tagebuch schrieb, dann bekommt man einen Eindruck davon, welche eminente Bedeutung die Korrespondenz für Benn hatte. Das war eine täglich geübte Praxis für ihn, viele Briefe zu empfangen und sehr viele Briefe zu schreiben.
Funck Warum war dieses Briefeschreiben für Gottfried Benn so wichtig?
Hof: Im strengen Sinne dienen Briefe natürlich immer der Kontaktpflege. In Benns Fall umso mehr, denn er war ja die meiste Zeit seines Lebens ein Alleinschaffender, sei es als Arzt oder auch als Dichter. Und auch, wenn Benn beteuerte, dass ihm seine Briefe literarisch nichts wert schienen, stimmt das natürlich nicht.
Funck Sie erwähnten ja gerade das Tagebuchschreiben: War dieses Briefeschreiben für Gottfried Benn denn so eine Art Ersatz für das Tagebuchschreiben?
Hof: Ja, so kann man das sagen. Also, wenn man diese Briefe auf sich wirken lässt, dann stellt man doch fest, dass sich in ihnen das ganz große existenzielle Drama von Benn entfaltet. Dieses immerwährende Hin und Her, einerseits von Rückzügen, die er vornimmt, und andererseits von dem Willen, immer wieder an etwas anzuschließen, an Menschen anzuschließen.
Funck Gottfried Benn gilt bis heute als einer der wichtigsten, wenn nicht als der wichtigste deutsche Dichter des 20. Jahrhunderts. Und doch gilt der 1956 verstorbene Gottfried Benn ja gleichzeitig bis heute auch immer noch als der große Außenseiter und der große Umstrittene der deutschen Literatur. Und das liegt vor allem an – ich nenne es jetzt mal lax – seinem Nazi-Sündenfall. Denn Gottfried Benn zeigte sich von 1933 bis 1934 zunächst tief beeindruckt vom Nationalsozialismus. Und in den Briefen liest man dann ja auch, dass er Hitler zunächst durchaus "für einen großen Staatsmann" hielt. 1933 glaubte er offenbar sogar, dass mit dem Dritten Reich, so wörtlich in einem Brief, eine gloriose "neue Welt", eine revolutionäre "Wendung der abendländischen Geschichte" angebrochen sei. Wie erklären Sie sich als Benn-Biograf und Briefherausgeber diese Begeisterung des Dichters am Anfang für den Nationalsozialismus?
Benns Nazi-Sündenfall
Hof: Ja, viel besprochen. Ja, Benn hat 1933 als Aufbruch empfunden. Nicht weniger als eine anthropologische Wende hat er sich sogar erhofft. Aber die Wende, die dann kam, die war nicht nach seinem Geschmack, ganz im Gegenteil. Und merkwürdigerweise gibt es ja aus dem Jahr 1933, also diese Hochblüte des Sündenfalls, gibt es ja nur ganz wenige Briefe, die überliefert sind. Aber von einer Faszination, von einer Nazi-Faszination bei Benn zu sprechen, das halte ich für einigermaßen unangemessen.
Funck Also Sie würden nicht sagen, dass er fasziniert war von Hitler und vom NS-Staat?
Hof Doch, es gab eine Hoffnung auf Änderung. Aber das, was da eintrat, das war in vollem Umfang für ihn einfach nicht abzusehen. Das hat er auch nicht abgesehen. Denn wenn die Briefe etwas jetzt näher beleuchten, dann ist es doch gerade, dass die Akademie, in die Benn Anfang '32 hineingewählt war, das war für ihn der Ort, an dem die Kunst ihren alles überragenden Wert der Autonomie institutionell gewahrt wissen wollte. Und mein Eindruck ist so ein bisschen, dass er sich auf eine etwas weltfremde Weise mit dieser Frage beschäftigte und seine ganz Kraft vor allem darauf verwendete, seine Einflussmöglichkeiten im Zuge der Gleichschaltung zu verteidigen.
Rätselhafte antisemitische Ausfälle Benns
Funck Erschütternd lesen sich trotz allem auch ein paar antisemitistische Zeilen in diesem Briefband aus den 30er-Jahren. Da schrieb Gottfried Benn etwa an seine Schauspielfreundin Elinor Büller 1935: "Mein Bedarf an Juden ist gedeckt, es ist eine dreckige Rasse." Oder an anderer Stelle spricht er auch mal vom "schwierigen Judenproblem". Das sind antisemitische Äußerungen, die einen ja doch sehr überraschen, weil Gottfried Benn gleichzeitig Zeit seines Lebens immer mit jüdischen Intellektuellen befreundet war. Wie verträgt sich das?
Hof: Das verträgt sich natürlich im Grunde überhaupt nicht. Und das ist für unsere Wahrnehmung auch schlimm. Ich würde trotzdem davor warnen, daraus den Schluss zu ziehen, dass Benn Antisemit war. Denn, Sie sagten es ja gerade, Erich Reiss war...
Funck ...Erich Reiss, sein Verleger.
Hof: Ja, sein jüdischer Verleger. Das war wirklich sein bester Freund. Und Elinor Büller war als Adressatin dieses Briefes und auch dieses antisemitischen Ausfalles seine Geliebte. Und wenn Sie jetzt den Briefwechsel mit Elinor Büller lesen, dann werden Sie entdecken können, dass sie häufiger Adressatin dieser gefärbten Haltung war, sodass für mich als Biograf nicht ausgeschlossen ist, dass sie auch eine Adresse war, der man das auch sehr gut schreiben konnte.
Funck Aber warum äußert er sich so?
Hof: Ich will nicht behaupten, dass sie das ganz gerne gehört hat. Aber das ist nach meiner Auffassung so schwierig zu entscheiden, welche Grauzone an Privatheit hier erreicht ist. Wie die Motivationslage ist. Sie dürfen ja nicht vergessen, das entspricht ja auch einem gewissen Habitus dieser Zeit. Also, so sprach man ja auch. Immer nur aus einzelnen Formulierungen, dann den Schluss zu ziehen, hier haben wir es mit einer antisemitischen Äußerung zu tun, also haben wir einen Antisemiten vor uns. Den will ich nicht mitgehen.
Funck Die Geschichte geht ja dann so weiter, dass Gottfried Benn dann relativ schnell selbst zur Zielscheibe von SS- und Nazi-Attacken wurde und als expressionistischer Dichter unter sogenannten Kulturbolschewismus-Verdacht geriet. Und diese Angriffe von NS-Ideologen, die führten 1938 dann zu seinem Ausschluss aus der Reichsschrifttumskammer und zu einem generellen Publikationsverbot unter den Nazis. Und auch diese Verleumdungskampagne gegen Benn wird im neuen Briefband ja doch recht genau dokumentiert. Wie existenzbedrohlich waren diese Nazi-Attacken in den 30er-Jahren für ihn persönlich?
Als "Kulturbolschewist" verfolgt und verboten
Hof: Die waren ganz eminent existenzbedrohend! Benn hatte sich seit Ende der 20er, seit '26/'27, ein drittes Standbein aufgebaut, das waren die Rundfunkvorträge und Lesungen. Da ist er relativ häufig aufgetreten. Und bereits im Sommer '33 war das für ihn vorbei. Denn Auftritte wurden kommentarlos abgesagt. Später wurde auch seine ärztliche Tätigkeit eingeschränkt. Also er durfte bestimmte Atteste nicht mehr ausstellen. Und er hatte begründete Befürchtungen, seine Praxis zu verlieren. Sein ganzes literarisches Umfeld brach zusammen. Die meisten seiner Freunde sind ins Exil gegangen. Und er hat die Entscheidung getroffen, Ende '34 in die Armee zurückzukehren, um sich dort außerhalb Berlins zurückzuziehen, um sich neu zu erfinden, würde man heute sagen. Diese Gelegenheit hat er wahrgenommen. Und dann ging es tatsächlich los mit einigen Fehden. Der berühmt-berüchtigte Balladendichter von Münchhausen hat Ende Oktober 1933 damit begonnen, ihn zu verunglimpfen. Und als Deserteur und Verbrecher im Zusammenhang mit seinen expressionistischen Dichtungen bezeichnet. Und später behauptete von Münchhausen sogar, Benn sei wider besseres Wissens "reinrassiger Jude".
Funck Warum geriet er plötzlich so ins Kreuzfeuer der Nazi-Ideologen?
Hof Das hat vor allem mit seiner expressionistischen Vergangenheit zu tun. Die Expressionisten standen ja alle unter Generalverdacht, Revolutionäre zu sein, Pazifisten zu sein. Stichwort: Entartete Kunst.
Funck Das bezog sich ja glaube ich vor allem auf seine frühen "Morgue"-Gedichte. Warum kam eine Emigration für Benn aus Deutschland damals nicht in Frage?
Außenseitertum "war für ihn eine existenzielle Erfahrung"
Hof Das ist eine ganz simpel zu beantwortende Frage. Denn Deutsch war die einzige Sprache, der er so mächtig war, dass er seiner Berufung nachkommen konnte, zu dichten. Das war das, was er wollte. Abgesehen davon, dass Benn das Außenseitertum liebte. Er brauchte es. Es war für ihn eine existenzielle Erfahrung, sich immer wieder aus allem, was ihm begegnete, wieder zurückzuziehen. Also, das ging ja los mit der Kindheit, raus aus der dörflichen Enge, dann raus aus der Armee, die ihn ausgebildet hatte. Dann raus aus dem Ersten Weltkrieg, aus dem er sich ein Jahr früher hat befreien lassen. Raus aus der ersten Ehe, raus aus der Vaterschaft. Er hat sein Kind weggeben nach Dänemark. Und dann raus aus Berlin. Und raus aus dem Freundes- und Bekanntenkreis. Das mag freiwillig-unfreiwillig gewesen sein, aber man muss sich mal vorstellen, Ende der 20er-Jahre waren die Briefpartner Döblin, Brecht. Heinrich Mann und Hindemith. Und danach heißen Sie auf einmal Hans Friedrich Blunck, Werner Beumelburg und Hanns Johst. Aber ich denke, er hat das auch gebraucht im Sinne der Loslösung und des Sich-Beziehen-Könnens nur auf sich selbst und auf seine neuen Erfahrungen, um daraus wieder die Kraft der Neuproduktion schöpfen zu können.
Funck Könnte man vielleicht sogar in gewisser Weise fast von einem Glücksfall sprechen, dass er von den Nazis dann so verfolgt wurde? Weil er dann ja auch am eigenen Leibe zu spüren bekam, wie brutal das Hitler-Regimes war?
Hof: Wenn Sie das so sehen wollen, können Sie das so sehen. Ich würde von Glücksfall nicht sprechen, dafür sind die Dinge zu...
Funck: ...brutal gewesen?
Hof Ja, zu brutal, zu real..., also Glück finde ich die falsche Kategorie.
Funck Gottfried Benn wählte unter den Nazis dann eine sogenannt "aristokratische Form" der inneren Emigration: Er tauchte als Militärarzt bei der Wehrmacht unter. Und er blieb danach lange, ein politisch – ich nenne es mal – "ruchbarer" Autor, der auch nach 1945 noch ständig auf irgendwelchen "grauen oder schwarzen" Verbotslisten auftauchte. Und dann wird er nach 1945 in seinen Briefen ja auch nicht müde, sich selbst immer wieder als den großen Ausgestoßenen, den großen Unerwünschten im deutschen Literaturbetrieb darzustellen: "Damals unerwünscht, heute unerwünscht", so fasst Gottfried Benn das 1945 einmal zusammen. War er nach Kriegsende denn wirklich so unerwünscht, so isoliert im bundesdeutschen Literaturbetrieb?
Hof: Ja, das ist so. Ich glaube, man muss sehen, dass Benn sein Comeback nicht einfach nur so in den Schoß fiel. Ihm war es irrsinnig wichtig, wieder gedruckt zu werden. Nur, das war nicht so einfach. Das dauerte über Jahre. Es waren einige Angebote, und das verlief im Sande. Weil: Dann wurde den Verlegern kein Papier zugewiesen, oder es wurde sehr deutlich angezeigt, dass das unerwünscht sei oder geradezu verboten sei, sodass es tatsächlich so lange dauerte, bis '48, ehe er dann wieder publizieren konnte.
Funck Vor allem von den zurückkehrenden deutschen Emigranten, da erwarteten ja einige nach '45 doch ein öffentliches Reue-Bekenntnis von Gottfried Benn wegen seines Nazi-Sündenfalls. Klaus Mann fällt mir da zum Beispiel ein. Warum hat Gottfried Benn das nie geleistet? Das hätte ihm die Rückkehr in den Literaturbetreib doch wahrscheinlich sehr erleichtert, oder?
Kein Reue-Bekenntnis
Hof: Das ist ganz bestimmt so. Aber das hat er wohl aus dem Grund, über den wir vorhin sprachen, nicht machen können. Und das ist sein notorischer Hang zum Außenseitertum. Also, er hat sich gefallen in dieser Rolle des Hiergebliebenen, aber desjenigen, der wusste, er hat scharfe Texte in der Schublade, die sich mit dem Regime auseinandergesetzt haben. Und das war gewissermaßen sein Außenseiterstolz, der ihm gesagt hat: Nein, hier gibt es nichts zurückzunehmen. Hier gibt es keine Entschuldigung zu leisten. Das hat möglicherweise auch etwas mit seiner Sozialisation noch im Kaiserreich zu tun, dass man Härte beweist und keine Weichheit vor dem Feind usw.
Funck Wie erstaunlich ist denn eigentlich sein Comeback in den 50er-Jahren? 1951 bekommt er den Georg-Büchner-Preis. Der Durchbruch war ja eigentlich 1948 die Veröffentlichung der "Statischen Gedichte" beim Arche Verlag, und eben nicht bei Rowohlt oder Suhrkamp. Also, wie erstaunlich ist das, seine Wiedergeburt als Stardichter, kann man fast sagen?
Fulminantes Comeback in den 50er-Jahren
Hof: Ich denke, dass ihm geholfen hat, dass er weitgehend sich mit dem neuen Adenauer-Regime angefreundet hat. Also nicht in dem Sinne, dass er auf einmal politisch engagierter gewesen wäre. Nein, das auf keinen Fall. Aber er sagte: Na, unter den gegebenen Umständen machen die das wohl am besten. Also, diese Ungefährlichkeit auf der einen Seite, gesellschaftlich gesehen. Aber trotzdem künstlerisch auf seiner radikalen Position weiterhin bestehend, die Autonomie der Kunst betonend. "In jedem Satz muss alles stehen!" Also berühmte Sätze von ihm. Das war erstmal unglaublich attraktiv für die nachfolgende Dichtergeneration.
Funck: Ich würde gerne noch weiter über diesen Aspekt diskutieren, aber wir müssen unbedingt auch noch auf den Frauenliebhaber und Schwerenöter Gottfried Benn zu sprechen kommen, den man in Ihrem neu veröffentlichten Briefband nun ebenfalls deutlich herauslesen kann. Dreimal war Gottfried Benn verheiratet, hatte daneben aber immer wieder zahlreiche Affären, etwa mit der Dichterin Else Lasker-Schüler oder den Schauspielerinnen Elinor Büller, Tilly Wedekind. Und das, obwohl er ja äußerlich nicht unbedingt der attraktivste Mann war, dazu phasenweise hochdepressiv, launisch, eigenbrötlerisch. Ja, was hatte dieser ja doch ziemlich egomane und durchgehend untreue Dichter eigentlich an sich, dass ihm die Frauen so zu Füßen lagen?
Frauenliebhaber patriarchaler Prägung
Hof: Er hatte eine Eigenschaft, und die wird in den gesammelten Briefen jetzt äußerst deutlich, er hatte die Eigenschaft, unglaublich gut zuhören zu können. Sich nicht in den Vordergrund zu stellen. Wenn Sie diese Briefe lesen, ist es für mich sehr bewegend, immer wieder festzustellen, wie sehr er von sich absehen kann. Und die andere Person vollständig ins Zentrum der Gefühlslage, die in einem Brief aufgebaut wird, zu stellen. Und ich denke, dass das ihm im persönlichen Gespräch genauso gut gelungen sein wird.
Funck: Gleichzeitig kam mir das Verhältnis zu Frauen bei ihm etwas zwiespältig vor. Denn er bespricht einerseits offen mit Frauen seine Seelennöte und politischen Ansichten und andererseits präsentiert sich Gottfried Benn in den Briefen durchaus auch als patriarchaler Pascha, sage ich mal. Also er heiratete ja offenbar vor allem deshalb, damit eine Frau ihm den Haushalt führte. Oder er nennt seine zweite Ehefrau, Herta Wedemeyer, einmal "einen reizenden Gebrauchsgegentand". Also: Wie gleichberechtigt sah Gottfried Benn die Frauen eigentlich gegenüber den Männern?
Hof: Ich denke, das ist auch eine Zeitfrage: Die waren für ihn nicht gleichberechtigt. Und wenn man das analysieren will, könnte man sagen, dass sie auch von ihm instrumentalisiert wurden. Denn Benn war ja zeitlebens ein von Depressionen geplagter Mensch. Und dieses Hin und Her, dieses In-Die-Depression-Fallen, Wieder-Rauskommen, Wieder-Euphorisch-Werden, das ist fast immer von Frauengeschichten begleitet. Also, das war ein für ihn erprobtes Mittel, sich aus Zuständen zu befreien, die unangenehm waren, die auch künstlerisch unergiebig waren. Früher hätte man gesagt: Na, das waren seine Musen. Und so etwas Ähnliches waren seine Frauen auch für ihn.
Funck Die wahrscheinlich wichtigste Frau in seinem Leben war seine 1915 geborene Tochter Nele. Und die hatte Gottfried Benn ja als kleines Mädchen abgegeben an dänische Adoptiveltern 1923. Trotzdem kam mir dieses Verhältnis zwischen Vater und Tochter erstaunlich innig in den Briefen vor. Wie würden Sie dieses Vater-Tochter-Verhältnis charakterisieren?
Hof: Ja, Benns Briefe an seine Tochter Nele finde ich auch ganz wunderbar! Darin wird deutlich, in welch' ganz außergewöhnlicher Weise er in der Lage war, in seinen Briefen eben sich und seine Probleme rauszuhalten. Es sind Briefe von allergrößter Aufmerksamkeit und im ganz ehrlichen Bedürfnis, etwas vom anderen zu erfahren.
Holger Hof (Hrsg.): "Gottfried Benn: 'Absinth schlürft man mit Strohhalm, Lyrik mit Rotstift!' Ausgewählte Briefe 1904-1956"
Klett-Cotta/Wallstein Verlag 2017, 623 Seiten, Preis: 39,90 Euro
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