Rainer-Berthold Schossig: Der Gotthard – Zentrum der Alpen, Wasserscheide, Wiege der Eidgenossenschaft, Symbol des Willens zur schweizerischen Unabhängigkeit und Einheit. Kein anderer Ort der Alpen spielte und spielt eine derart wichtige symbolische Rolle wie das Gotthard-Massiv – Massiv ja, weil es tatsächlich keinen Berg dieses Namens gibt. Frage an Adolf Muschg, Schweizer Schriftsteller und Europäer, und ihn erreiche ich zurzeit in Berlin: Herr Muschg, Sie sind gebürtiger Zürcher. - Eine Großstadt. Welche Beziehung haben Sie als Großstädter zum Gotthard?
Adolf Muschg: Ich bin mit dem Gotthard als Festung, als Idee der uneinnehmbaren Schweiz aufgewachsen. Im Krieg war er ja das. Da gab es die Doktrin, dass das Militär sich in die Gotthard-Festung zurückzog, und die Kinder und Frauen wurden dann den Invasoren, also den Deutschen, den Armeen Hitlers preisgegeben. Insofern hat sich in manchen Köpfen, unter anderem auch in denjenigen unserer rechtskonservativen Volkspartei, der Gotthard als Festung gehalten.
Schossig: Das ist ja nun schon länger her, Herr Muschg. Andere in Europa bauen ja nun wieder Grenzzäune und die Schweiz hat einen Basistunnel gebohrt. Sinnbild für die Innovationskraft vielleicht und den Mut einer ganzen kleinen Nation?
"Der Bau ist eine europäische Angelegenheit"
Muschg: Wissen Sie, schon im 19. Jahrhundert war die Eröffnung des Gotthard-Tunnels und schon sein Bau eine europäische Angelegenheit und die Finanzierung ist zum großen Teil von Italienern und Deutschen besorgt worden. Der Escher in Zürich war gewissermaßen der Kassenverwalter eines Großunternehmens, das von vornherein natürlich diese europäische Dimension hatte. Aber Sie haben recht, es ist ein Paradox. Man muss sich gewissermaßen entscheiden, ob man den Gotthard als Berg, als Festung oder als Kanal, als Durchlauf verstehen will, als Passage. Ich bin gespannt, was das kulturhistorisch in den Köpfen macht jetzt. Natürlich feiern wir jetzt eine technische Errungenschaft. Das ist ein Brauch, dass alles zusammenläuft, was sich betroffen oder begünstigt fühlt. Aber eigentlich ist natürlich, wenn der Gotthard kein Berg mehr ist, das auch ein enormer Schwund an Substanz.
Schossig: Der Basistunnel unter dem Gotthard-Massiv, so muss man ja sagen, ist der längste und tiefste Bahntunnel der Welt, ein toller Rekord. Er wird jetzt eröffnet. 57 Kilometer in 20 Minuten, da taucht man durch 3500 Meter Fels. Ist da ein Mythos durchbohrt wie ein Schweizer Käse?
"Die Frage ist: Wozu gewinne ich meine Zeit?
Muschg: Wissen Sie, im Grunde kommen wir ins Kulturphilosophieren. Das ist natürlich am Eröffnungstag dieses Tunnels nicht angebracht und auch nicht taktvoll. Aber eigentlich ist es ja ein humoristischer Vorgang. Die Schweiz, die sich abschottet, die nicht zur EU gehören will, mehrheitlich und wahrscheinlich zunehmend weniger, die öffnet sich zugleich auf der technischen Ebene, natürlich nicht um der technischen Errungenschaft, sondern um des Gewinns willen, des Gewinns an Zeit, des Gewinns an Kunden und so weiter. Der Widerspruch der ganzen monetär gesteuerten Gesellschaft wird in diesem einen Projekt deutlich. Klar, jetzt kann ich eine halbe Stunde früher nach Lugano, aber die Frage, die nun wirklich die ernsthafteste Frage ist an der Geschichte: Wozu gewinne ich meine Zeit? Das ist wie bei allem, was man mit Wachstum und Gewinn verbindet, die unausgesprochene Frage: Wozu brauchen wir einerseits immer weniger Zeit und wofür verwenden wir sie? Und diese Frage kann man natürlich nicht heute beantworten. Sie muss jeder für sich und sie hat auch das Zeug, so etwas wie einen Gotthard-Tunnel ein bisschen kurios oder komisch zu machen.
Schossig: Ich möchte doch noch etwas bohren, Herr Muschg. Sie haben, das habe ich gelesen, dissertiert über Ernst Barlachs Dichtungen.
Muschg: Ja.
Schossig: Das war ja der große dunkle deutsche Schnitzer und Dichter. Und der Gotthard-Tunnel, der führt vom Kanton Uri durch die Dunkelheit direkt in den hellen Kanton Tessin. Da sind ja für jeden, der dort einigermaßen kulturell unterwegs ist, Wilhelm Tell und der Rütlischwur ganz nahe. Schmerzt Sie das nicht doch etwas?
"Der Berg wird im Grunde wegretuschiert"
Muschg: Nein. Wissen Sie, der Witz ist ja, dass der Berg im Grunde wegretuschiert wird durch den Tunnel und damit auch ein Stück Geschichte und vor allem auch der Wohlstand, der bisher vom Gotthard, vom Überqueren oder auch noch vom Scheiteltunnel gelebt hat. Dieser Wohlstand verschwindet, die Alpengegend verödet und man kann nur wünschen, dass sich für Airolo ein chinesischer Investor findet so wie für Andermatt ein ägyptischer. Eigentlich ist die Bilanz, wenn man sie kulturgeschichtlich ansieht, sagen wir mal vorsichtig, gleich null. Und wenn ich mit dem Gotthard ein Bahnerlebnis verbunden habe, dann war es dasjenige der Kehrtunnels. Die Schienen wanden sich um die Kirche von Wassen hoch und tauchten erst ganz oben bei Göschenen dann in den Berg. Das alles fällt jetzt weg und es zeigt sich wahrscheinlich eine Wahrheit, die schon zur Postkutschenzeit richtig war: Schwere Wege sind günstig für die Einheimischen. Je schlechter die Straße, desto öfter muss man absteigen, desto mehr haben die Wirte davon. Wir haben ja nicht genug mit diesem Eisenbahntunnel. Wir haben jetzt gerade einen Straßentunnel mit zwei Röhren bewilligt, von denen wir die zweite angeblich nur im Notfall benutzen. Also das Paradox dauert fort, um es höflich zu bezeichnen.
Schossig: Mein Gott, der Gotthard - der Schweizer Schriftsteller Adolf Muschg über die kulturellen Folgen der Untertunnelung des eidgenössischen Alpenmassivs.
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