Sich über die deutsche Sprache zu wundern ist nicht neu. Schon 1617 gründete sich die Fruchtbringende Gesellschaft als erste Akademie der deutschen Sprache, um sie zu beeinflussen. Dem 18. Jahrhundert war dann das Deutsche zu maskulin.
Gottsched, Lessing und Goethe kannten noch „Verwandtinnen“ und „Bekanntinnen“. „Studirende“ – bis ins 19. Jahrhundert die gebräuchliche Form –, die ein Mädchen hatten, versetzten es, das heißt sie, grammatikalisch falsch ins Feminimum. Wer wollte zürnen? Diskutierte doch schon die Fruchtbare Gesellschaft „gütig/ frölig/ lustig und erträglich in worten und wercken“.
Wissenschaftlich recherchieren – literarisch schreiben: Das kennzeichnet sowohl Angela Steideles Biografien (In Männerkleidern über Catharina Linck 2004, neu 2021; Geschichte einer Liebe über Adele Schopenhauer und Sibylle Mertens 2010; Anne Lister 2017) als auch ihr essayistisches Werk (Zeitreisen 2018; Poetik der Biographie 2019) und nicht zuletzt ihre Romane (Rosenstengel 2015, Aufklärung 2022) aus. Die Autorin, geboren 1968, wurde u.a. mit dem Bayerischen Buchpreis ausgezeichnet.
Kaum einer Erscheinung unserer Zeit begegnet so viel Hass wie dem Gendern, also dem Versuch, kuriose bis verletzende Ausgrenzungen zu vermeiden, die der Gebrauch der deutschen Sprache mit sich bringt. Dabei haben sich schon Lessing und Goethe über die Geschlechterverhältnisse im Deutschen gewundert. Und bewusst in unsere Sprache einzugreifen, ist seit über 400 Jahren eingeübte Praxis.
1617 gründete sich in Köthen, heute in Sachsen-Anhalt gelegen, die sogenannte „Fruchtbringende Gesellschaft“. Nach ihrer Mottopflanze nannte man sie auch den Palmenorden. Die Frucht, die diese erste Akademie der deutschen Sprache hervorbringen wollte, war nichts weniger als unser modernes Hochdeutsch. So nahm man sich in der Gründungsurkunde vor,
„daß man die Hochdeutsche Sprache in jhren rechten wesen und standt/ ohne einmischung frembder außländischer wort/ auffs möglichste und thunlichste erhalte/ und sich so wol der besten aussprache im reden/ alß der reinesten art im schreiben und Reimen-dichten befleißige.“
Hier ist zwar die Rede von „erhalten“, doch meinte man verändern. Ging es doch darum, die Dominanz des Lateinischen im deutschsprachigen Raum zu brechen. Gelehrte schrieben damals ganz auf Latein, juristische Urteile waren in einem kruden Mix aus lateinischen Rechtsformeln und deutscher Syntax formuliert. Behördenschreiben gehorchten den Regeln des sogenannten Kanzleistils, der unübersichtlich lange, absurd ineinander verschachtelte Satzketten produzierte. Auf Deutsch gedichtet und literarisch geschrieben wurde selten. Die Fruchtbringende Gesellschaft verfocht nun das Ziel, die deutsche Sprache so zu ertüchtigen, dass man in und mit ihr gelehrt denken und anmutig dichten konnte. Dazu versuchten sich die Mitglieder an einer verbindlichen Grammatik und definierten Dialekte und Regionalismen, um sie genauso auszuschließen wie Fremdwörter. Die Volkssprache sollte also für alle Bereiche des Lebens tauglich gemacht werden – ein überaus politisches Vorhaben in der Nachfolge von Luthers epochaler Bibelübersetzung.
Die Idee schlug ein, denn der Fruchtbringenden Gesellschaft traten in den nächsten Jahrzehnten über 800 Mitglieder bei, darunter Martin Opitz und Andreas Gryphius, die die deutsche Dichtung von der Renaissance ins Barock überführten. Die Spracharbeit all dieser Männer bewahrte also gerade nicht einen früheren, als ideal behaupteten Zustand des Deutschen, sondern schuf ein neues Stadium unserer Sprache. Frauen durften, nach den Regeln der Zeit, nicht mitdenken. Nach gut 60 Jahren plätscherte die Gesellschaft aus. Im Jahr 2007 gründete sich in ihrem Geist die „Neue Fruchtbringende Gesellschaft“ „mit dem Ziel, die deutsche Sprache als Amts-, Kultur-, Landes- und Wissenschaftssprache zu erhalten, zu pflegen, zu schützen und weiterzuentwickeln.“
Frauen arbeiten natürlich in der heutigen Gesellschaft und in ihrem Vorstand mit, dem eine Vorsitzende vorsteht.
Dass schon damals, vor 400 Jahren, Arbeit an der deutschen Sprache zu Streit führte, macht die Gründungsurkunde der Fruchtbringenden Gesellschaft ebenfalls deutlich. Noch bevor man darauf zu sprechen kam, um was man sich eigentlich kümmern wollte, legte man Regeln fest, wie man miteinander umgehen wollte:
„Erstlichen daß sich ein jedweder in dieser Gesellschafft/ erbar/ nütz- und ergetzlich bezeigen/ und also überall handeln solle/ bey Zusammenkünfften gütig/ frölig/ lustig und erträglich in worten und wercken sein/ auch wie darbey keiner dem andern ein ergetzlich wort für übel auffzunehmen/ also sol man sich aller groben verdrießlichen reden/ und schertzes darbey enthalten.“
Man wünschte sich, dass dieses Regelwerk auch heute Beachtung fände. Und wir uns darin üben wollten, über Sprache ehrbar, nützlich und ergötzlich, gütig, fröhlich und lustig miteinander zu sprechen.
Über ihre Sprache streiten Menschen vermutlich, seitdem sie sprechen können. Denn als verbales Zeichensystem verweist Sprache grundsätzlich auf etwas anderes. Sprache ist kein Zirkelschluss, sondern ein Mittel, Nicht-Sprachliches auszudrücken, unsere Welt zu verstehen, Wirklichkeit zu beschreiben und zu verändern: Die Nationalsozialisten haben alle Jiddismen aus der deutschen Sprache verbannt, in Russland kommt man derzeit ins Gefängnis, wenn man „Krieg“ sagt und nicht „Militärische Spezialoperation“. Wenn es vermeintlich um Sprache geht, geht es immer um ganz Anderes. Sprechgebote und Sprechverbote gleichen daher Stellvertreterkriegen. Über Sprache nachzudenken, ist grundsätzlich politisch.
Sprachen verändern sich im Lauf der Zeit, das ist gegebenes Faktum der Sprachwissenschaft, und seit dem Barock wird versucht, diese Veränderung aktiv zu beeinflussen. Heutige Versuche, das Deutsche gezielt zu verändern, etwa nicht nur Männer anzusprechen und zu meinen, wie noch die Fruchtbringende Gesellschaft von 1617, sind also alles andere als neu, sie stehen im Einklang mit der über vierhundertjährigen Tradition der Spracharbeit im deutschen Raum.
Und schon vor 300 Jahren fiel den Sprechenden und Schreibenden auf, wie unlogisch, irreführend, ja ausgrenzend und ungerecht die deutsche Sprache teilweise verfährt. Mit seinen gleich drei Geschlechtern ist das Deutsche eine bis in sein Genom ‚gegenderte‘ Sprache und kann vielleicht schon rein grammatikalisch nie alle meinen. Aber schon im 18. Jahrhundert griff man verändernd ein und hatte die Absicht, wenigstens auf hohem Niveau zu scheitern. So etwa der Leipziger Professor für Philosophie und Beredsamkeit Johann Christoph Gottsched, der mit seiner Deutschen Sprachkunst die Grammatik unseres Hochdeutschen entscheidend mitprägte. Er ging überaus geschlechtersensibel mit der deutschen Sprache um und ‚genderte‘ avant la lettre, so etwa in der ersten Frauenzeitschrift im deutschsprachigen Raum, den Vernünftigen Tadlerinnen. Johann Christoph Gottsched gab sie 1725/26 heraus und schrieb die Mehrheit der Artikel beider Jahrgänge selbst. Aus Besonderheiten seiner Sprache habe ich eine Szene in meinem Roman Aufklärung gewonnen.
Wir befinden uns in Leipzig im Jahr 1738. Luise Gottsched, Johann Christophs Frau und Mitarbeiterin, bereitet die zweite Auflage der Vernünftigen Tadlerinnen vor und überarbeitet hierfür die alten Artikel. Unterstützt wird sie darin von Christiana Mariana von Ziegler, der kaiserlich gekrönten Dichterin und einzigen Frau in Johann Christoph Gottscheds Deutscher Gesellschaft, einem späten Kind der Fruchtbringenden Gesellschaft. So weit so historisch. Fiktionale Zutat ist in meinem Roman die Dritte im Bunde, Johann Sebastian Bachs älteste Tochter Dorothea, die Erzählerin. Nachdem sie sich über manches Inhaltliche gestritten haben, meint Luise Gottsched:
„‚Verbessern wir also nur, was wir können, und das ist die Sprache. Ach, wo wir gerade dabei sind, ich habe ja sehr über die Verwandtinnen und Bekanntinnen gelacht. Ich nehme an, Sie haben diese Ausdrücke in Ihrem Band ebenfalls korrigiert?‘
‚Nein, und ich sehe auch keinen Grund dafür‘, sagte Mme von Ziegler.
‚Aber wir machen uns doch damit lächerlich.‘
‚Keineswegs. Dass wir Weiber nicht als gelehrt gelten dürfen, aber als tugendhaft gelten müssen, liegt auch an der Sprache, ja sogar an der Grammatik.‘
‚Ach, ich bitte Sie, Mme Zieglerin. Lernt man das in der Deutschen Gesellschaft?‘
‚Wer seine Vernunft gebraucht, kann die deutsche Sprache nicht geschlechtergerecht finden. Seine,verstehen Sie?‘
Die Gottschedin verstand nicht. Ich aber. Ich wusste sofort, was sie meinte. Es hatte mich früher schon gewundert. Und deshalb sagte ich: ‚Seine Schnürbrust soll man nicht zu eng schnüren.‘
Jetzt guckte Mme Gottschedin ganz irritiert. Ich kam in Fahrt: ‚Man kann seine Wehen beeinflussen. Niemand stillt seinen Säugling besser als die Wöchnerin selbst.‘
Die Zieglerin strahlte. ‚Verstehen Sie jetzt?‘
Mme Gottschedin schien in Gedanken Sätze zu bilden. ‚Sie haben recht. […] Das erlaubt uns jedoch nicht, einfach auf Gutdünken Neuschöpfungen in die Welt zu setzen wie Bekanntinnen.‘“
‚Nein, und ich sehe auch keinen Grund dafür‘, sagte Mme von Ziegler.
‚Aber wir machen uns doch damit lächerlich.‘
‚Keineswegs. Dass wir Weiber nicht als gelehrt gelten dürfen, aber als tugendhaft gelten müssen, liegt auch an der Sprache, ja sogar an der Grammatik.‘
‚Ach, ich bitte Sie, Mme Zieglerin. Lernt man das in der Deutschen Gesellschaft?‘
‚Wer seine Vernunft gebraucht, kann die deutsche Sprache nicht geschlechtergerecht finden. Seine,verstehen Sie?‘
Die Gottschedin verstand nicht. Ich aber. Ich wusste sofort, was sie meinte. Es hatte mich früher schon gewundert. Und deshalb sagte ich: ‚Seine Schnürbrust soll man nicht zu eng schnüren.‘
Jetzt guckte Mme Gottschedin ganz irritiert. Ich kam in Fahrt: ‚Man kann seine Wehen beeinflussen. Niemand stillt seinen Säugling besser als die Wöchnerin selbst.‘
Die Zieglerin strahlte. ‚Verstehen Sie jetzt?‘
Mme Gottschedin schien in Gedanken Sätze zu bilden. ‚Sie haben recht. […] Das erlaubt uns jedoch nicht, einfach auf Gutdünken Neuschöpfungen in die Welt zu setzen wie Bekanntinnen.‘“
In den Vernünftigen Tadlerinnen von 1725 finden sich tatsächlich die „Bekanntinnen“ und die „Verwandtinnen“, also weibliche Plurale, die in der Zwischenzeit ausgestorben sind. Würde sie heute jemand benutzen, wären Wehgeschrei und Hohngelächter von Seiten derer sicher, die nicht ehrbar und ergötzlich, gütig und fröhlich über die deutsche Sprache nachdenken wollen.
Die historische Luise Gottsched versetzte auch noch in der 3. Auflage der Vernünftigen Tadlerinnen von 1748 die Verwandte in die weibliche Form:
„Hörte gestern im Haus einer ‚Anverwandtin‘ die Erzählungen des gerade zurückgekehrten Sohns.“
Und 1767 benutzte Gotthold Ephraim Lessing noch die „Bekanntinnen“, und zwar in seiner Hamburgischen Dramaturgie in einer Besprechung des Stücks Die kranke Frau von Christian Fürchtegott Gellert:
„Ich weiß gar nicht, sagte eine von meinen Bekanntinnen, was da für ein Paar zusammen ist, dieser Herr Stephan und diese Frau Stephan.“
Lessing war auch noch das ‚Gendern‘ der weiblichen Nachnamen selbstverständlich; alles, was er praktisch-handwerklich vom Theater wusste, von Inszenierung, Bühneneinrichtung und Zugkraft von Stücken, hatte er bei Caroline Neuber gelernt, der großen Theaterprinzipalin, für ihn und alle Zeitgenossen schlicht „die Neuberin“.
Auch Johann Sebastians zweite Ehefrau genderte selbstverständlich ihren Geburts- und Ehenamen und unterschrieb mit „Anna Magdalena Bachin gebohrne Wülckin“. Nicht nur die „Capellmeisterin“ Bachin verfuhr so, auch die erwähnte Luise Gottschedin oder die Dichterin Anna Louisa Karschin. Diese Praxis, Nachnamen von Frauen ins Femininum zu versetzen, verblieb mitsamt den Kniehosen und Perücken der Männer im 18. Jahrhundert.
Im vorgetragenen Abschnitt aus dem Roman geht es darüber hinaus um eine besondere Eigentümlichkeit des Deutschen: Das Fragepronomen „wer“ sowie die Indefinitpronomen „man“, „jemand“ und „niemand“ sind nicht geschlechtsneutral, sondern männlich. Sie ziehen nämlich männliche Possessiv- und Personalpronomen nach sich. Ein Satz wie: „Wer hat ihr Grammatikbuch vergessen?“ tut sprachlich genauso so weh wie „Kann jemand ihren Verstand gebrauchen?“, selbst in einer Mädchenklasse. Im Übrigen weiß niemand, wann er sterben wird, wir Frauen auch nicht. Solchen grammatikalischen Sexismus der deutschen Sprache zu vermeiden, fällt schwer. Aber schon das Wissen darum sensibilisiert, wie sehr der korrekte Gebrauch unserer Sprache unser Denken patriarchal überformt.
Zu den geschlechterungerechten Absurditäten der deutschen Grammatik zählt auch die Versächlichung alles Kleinen. Was im Deutschen in den Diminutiv mit -chen oder -lein gesetzt wird, wird sächlich, egal, ob es sich um ein Bübchen oder ein Mädchen handelt. Bei den Buben, Knaben und Jungen war das ohne Konsequenzen, weil die deutsche Sprache gleich drei männliche Substantive für männliche Kinder parat hält. Nicht so für die Mädchen und Fräulein.
Goethe ignorierte diese grammatikalische Regel souverän und hielt sich an das wahre Geschlecht. Das „Fräulein“ war bei ihm grundsätzlich weiblich. So schrieb er 1814 seiner Frau Christiane:
„Abends bey Herrn v. Hügel. Die Fräulein spielte Hendelische Sonaten und Ouvertüren.“
Dass hier ein und nicht mehrere Fräulein Stücke von Georg Friedrich Händel spielte, macht das Verb im Singular deutlich.
Seinem Frankfurter Bekannten Johann Friedrich Heinrich Schlosser erläuterte Goethe 1811, ein gewisses Manuskript erinnere ihn an vergangene heitre Tage:
„Es ist von der Hand der Fräulein Göchhausen, welche Hofdame bey der Herzogin Mutter Durchlaucht war.“
Goethe schreibt „der Fräulein“, nicht „des Fräuleins“, und „welche“, nicht „welches“, wie es korrekt wäre.
Ähnlich verfuhr Goethe mit dem ‚Mädchen‘, das er in der Regel im Relativsatz im Femininum anband und nicht im Neutrum. So schreibt er an Charlotte von Stein 1810, bei der Arbeit am Wilhelm Meister:
„Besonders empfehle ich das Nußbraune Mädchen, welche jetzt der Favorit ist.“
Nach Duden begeht Goethe hier gleich zwei Fehler: Nicht nur zieht das Mädchen ein weibliches und nicht sächliches Relativpronomen nach sich, sondern er macht es auch noch zum männlichen Favoriten. Da er hier über die zwischen den Geschlechtern oszillierende Mignon schreibt, spielt Goethe geradezu literarisch mit den grammatikalischen Zumutungen der deutschen Sprache.
Goethes Unbehagen an grammatikalisch sächlichen Frauen war beileibe nicht singulär, sondern im 18. Jahrhundert allgemein. Auch Sophie von La Roche benutzt in Geschichte des Fräuleins von Sternheim (1776) stets das weibliche Relativpronomen, wenn sie ihre Titelheldin in einem Nebensatz nennt. Und ein Graf sagt über das Fräulein:
„Sie ist ganz dazu gemacht, um eine heftige Leidenschaft zu erwecken; aber ein Mädchen, das keine Eitelkeit auf ihre Reize hat…“
Es müsste natürlich ‚seine Reize‘ heißen, aber das hat bis ins erste Drittel des 19. Jahrhunderts niemand getan.
Man hat die deutsche Sprache, die weibliche Wesen zu Sachen macht, vor 300, 200 Jahren als komisch und irreführend empfunden und daher souverän verändert.
Die Korrektur der deutschen Grammatik im Sinne von Geschlechtergerechtigkeit oder auch nur im Dienste der Logik, ist also wahrlich kein neuer Einfall. Lessing, Goethe und Co. sind uns vorausgegangen und inspirieren uns, ihren Faden wieder aufzugreifen, einen Faden, den man im Lauf des 19. Jahrhunderts zerrissen hat. Denn am Ende der Aufklärung, beginnend mit Rousseau, suchten die männlichen Autoren Europas Wege, trotz Säkularisation die Unterdrückung der Frauen weiterhin zu rechtfertigen. In einem europaweiten Diskurs wurden um 1800 die sogenannten Geschlechtscharaktere aus der vermeintlichen Natur von Mann und Frau abgeleitet, ihren Körpern und insbesondere dem Zeugungsakt: Männer seien aktiv, Frauen passiv, hieß es da auf einmal, Männer zeugend, Frauen empfangend, Männer draußen, Frauen drinnen, Männer Geist, Frauen Materie, Männer Intellekt, Frauen Gefühl, Männer Werke, Frauen Kinder – der geballte Unsinn, der immer noch nicht ganz aus den Köpfen verschwunden ist. Weil die Argumentation behauptete, auf biologischen Tatsachen zu beruhen, hält sie sich so hartnäckig, weil eben pseudo-naturwissenschaftlich begründet. Dabei waren ausgerechnet die Naturforscher an der Konstruktion dieser fantastischen Männer- und Frauenbilder überhaupt nicht beteiligt.
Es waren Philosophen, Dichter, Pädagogen und Juristen, die sich diese Eigenschaften ausdachten. Sie wurden nie von naturwissenschaftlicher Forschung bestätigt. Die Ärzte stimmten erst sehr spät zu, gegen 1900, als etwa Sigmund Freud seine überaus misogyne Psychoanalyse vorlegte oder Paul Möbius seinen Klassiker Vom physiologischen Schwachsinn des Weibes. Mit pseudowissenschaftlichen Diagnosen sollte abgewehrt werden, was doch nicht mehr zu verhindern war: die Gleichberechtigung der Frauen.
Was haben sich Frauen, die studieren, wählen oder Fahrrad fahren wollten, von medizinischen Experten alles anhören müssen: Sie gefährdeten ihre Jungfräulichkeit, ihre Gebärfähigkeit, ihr Frausein, verschuldeten letztendlich den Untergang der zivilisierten Welt. Dennoch erstritten Frauen in der ersten Frauenbewegung ähnliche Bildungschancen wie Knaben und Männer, bürgerliche Rechte, das aktive und passive Wahlrecht. Und nach der Teilhabe erkämpften die Feministinnen auch die sprachliche Sichtbarkeit: Seit etwa 40 Jahren sind die Schülerinnen und Schüler, Bürgerinnen und Bürger, Wählerinnen und Wähler selbstverständlich. Diese Dopplungen haben uns mittlerweile jedoch auch ein wenig ermüdet, machen sie doch jeden Text und jede Rede umständlich und länger. Und trotz des sprachlichen Aufwands fühlen sich non-binäre Menschen auch mit den fraueneinbeziehenden Dopplungen nicht gemeint.
Und nun bricht mit dem Genderstern, dem großen Binnen-I und dem Doppelpunkt mitten im Wort wieder eine neue Phase an. Diesen neuesten Versuchen, unsere vertrackte Muttersprache sensibler zu sprechen, schallen derselbe Spott, dieselbe Verachtung, derselbe blanke Hass entgegen wie noch vor kurzem dem Frauenfußball oder vor Längerem Frauen auf Fahrrädern. Sachsen, Bayern, Schleswig-Holstein, Sachsen-Anhalt, Hessen und Brandenburg haben das Gendern an ihren Schulen mit unterschiedlichen Konsequenzen verboten, demnächst werden Thüringen und wohl auch Berlin folgen. In fast allen genannten Bundesländern stellt die CDU die Ministerpräsidenten, die sich auf diese Weise zu Erfüllungsgehilfen der illiberalen, antidemokratischen Politik von AfD, Freien Wähler und BSW machen.
Die rein männlichen Formen im letzten Satz waren übrigens zutreffend und gewollt. Wer wahrheitswidrig behauptet, es gebe ein definitives, absolutes, einzufrierendes Deutsch, das vor dem „Genderwahn“ bewahrt werden müsse, der will mit seiner veraltenden Sprache Frauen mindestens in die patriarchale Ordnung der Adenauer-Ära zurückdrängen, und die non-binären Menschen zumindest sprachlich auslöschen.
Kehren wir noch einmal ins erfreulichere 18. Jahrhundert zurück, das anknüpfungsfähige Leitideen wie das „hochgelahrte Frauenzimmer“ entwickelte, auch wenn sich Luise Gottsched und Christiana Mariana von Ziegler nie als ordentlich „Studirende“ an den Universitäten einschreiben durften. Ja, Sie haben richtig gehört: Als Ableitung vom lateinischen Partizip Präsens „studens“ ist die deutsche Übertragung „Studirender“ – geschrieben noch mit einfachem „i“ ohne „e“ – die ältere Form. „Studentes“ war der lateinische Plural des Partizip Präsens, zu übersetzen mit die Studierenden. Daraus entwickelten sich schließlich die Studenten und auch der Singular, der „Student“. Diese Variante setzte sich erst spät, zum Teil sogar erst im frühen 20. Jahrhundert durch. Grimms Wörterbuch vermerkt aus dem 15. Jahrhundert das Beispiel: „studens eyn studierender“, und Clemens Brentano erläutert das Wort „Student“ noch mit dem Wort „Studierender“:
„nehmen wir das wort student im weitern sinn eines studirenden, eines erkenntnisbegierigen.“
Dass sich vor vielleicht 15 Jahren die ersten Studierenden an den Universitäten wieder auf diesen früheren Wortgebrauch besannen, stellt also auf keinen Fall einen Missbrauch oder eine Vergewaltigung der Sprache dar. Wer sich an „Studierenden“ stört, stört sich daran, dass in diesem Wort die Frauen tatsächlich mitgemeint sind und auch die Non-Binären. Das ist ja sein großer Vorteil! Dabei ist es natürlich eine mehr als ironische Volte, dass die grammatikalisch geschlechtergleichgültigen „Studierenden“ bis etwa 1900 mit wenigen Ausnahmen alles Männer waren.
Die Rückkehr zu den sprachlich altehrwürdigen „Studierenden“, die aber heute auch Frauen oder Diverse sein können, scheint mir einen Weg für weitere Neuerungen im Deutschen zu Gunsten größerer Geschlechtergerechtigkeit zu weisen. Denn Ableitungen aus dem lateinischen oder deutschen Partizip Präsens sind uns vertraut, weil schon zahlreich vorhanden:
Der beziehungsweise die Vorsitzende ist altbekannt, auch, der oder die anders Denkende oder die Mitwirkenden.
Die Studierenden haben ja längst die Lehrenden nach sich gezogen, und nicht schlecht klingen Wendungen wie der blendend Aussehende, die schlecht Zuhörende, der miserabel Spielende, die oder der seit Ewigkeiten Wartende.
Die seit 100 Jahren vertrauten ‚Kunst- und Kulturschaffenden‘ könnten vielleicht die ‚Wissenschaffenden‘ einbürgern, um die ‚Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler‘ abzukürzen. Möglicherweise lösen die ‚Musizierenden‘ demnächst die ‚Musikerinnen und Musiker‘ ab, die ‚Singenden‘ die ‚Sängerinnen und Sänger‘ und die ‚Hörenden‘ die ‚Hörerinnen und Hörer‘.
Neben der Renaissance des Partizip Präsens mag auch eine neue Besinnung auf Ableitungen vom Partizip Perfekt helfen, weil das Deutsche auch hier viele schöne, gewohnte Beispiele kennt:
Da grüßen die Wahlberechtigten den oder die Abgeordnete, die Sitzengebliebene trifft auf Begeisterte und Berufene, Beteiligte fragen andere Angemeldete, Beauftragte gehen mit Aufgeschlossenen einen trinken. Wer will noch Interessentinnen und Interessenten sagen, wenn Interessierte doch ganz apart klingt?
Neben Ableitungen aus den Partizipien Präsens und Perfekt eignen sich auch viele Adjektive beziehungsweise Adverbien, aus ihnen Bezeichnungen abzuleiten, die eigentlich schon vertraut wirken.
Da wären etwa die Jüngeren und die Älteren, die Neugierigen, die Mutigen oder die Faulen, die je nach Kontext plastische Plurale bilden können und im Singular dieselbe Form haben, egal, ob femininum oder maskulinum. Dementsprechend könnten die Fachkundigen die Expertinnen und Experten überflüssig machen und die politisch Verantwortlichen die Politikerinnen und Politiker.
Zudem gibt es bereits ein Reservoir von Wörtern, die große Gruppen unspezifisch, ohne geschlechtliche Unterscheidung meinen oder ansprechen können, darunter klassische Begriffe wie Publikum, Generation, Leute, Talente, Kräfte, auch die Jugend, der Nachwuchs, aber ebenso neuere denglische Begriffe wie Boomer oder Millennials.
Vor allem schriftlich kann man auch fast ohne jedes Nachdenken sensibler vorgehen. Man alterniert einfach. Schreibt also mal nur „Holzbläserinnen“, beim nächsten Mal nur „Geiger“ und ab und an setzt man einen Genderstern. So kann man elegant auf engem Raum nicht nur für Gerechtigkeit sorgen, sondern hier und da auch einen wohlmeinenden Scherz unterbringen oder sogar eine kleine gesellschaftspolitische Utopie, wenn etwa der Kindergärtner auf die Astrophysikerin folgt.
Als leidenschaftliche Sprachhorcherin freue ich mich darauf, die Sprachdynamik in den nächsten Jahren miterleben zu dürfen. Trotz aller Anstrengungen werden wir nicht jede Eigentümlichkeit unserer herrlichen deutschen Sprache beheben können, wie etwa die sächlichen Mädchen oder die männlichen Indefinitpronomen. Manche geschlechtlich codierten Begriffe müssen auch einfach bleiben als beredte Zeugen der Vergangenheit wie Vaterland und Mutterwitz, Bruderzwist und Hausmannskost, Bürgerkrieg und Meisterwerk. Es bleibt ja uns Sprechenden überlassen, manche Begriffe einfach zu meiden. Wir Sprachinteressierte, Sprachliebende und Sprachgeplagte haben es in der Hand, nein, auf unserer Zunge, wie wir mit diesem Erbe umgehen wollen. Hauptsache ehrbar und ergötzlich, gütig, fröhlich, lustig und erträglich.