In den australischen Medien hat in der vergangenen Woche ein Pressefoto für ein beachtliches Echo gesorgt. Es zeigt die "Australierin des Jahres" 2021, die Aktivistin Grace Tame, bei einem Treffen mit Premierminister Scott Morrison.
Tame, eine Überlebende von sexualisierter Gewalt, begrüßte den Politiker, schüttelte ihm die Hand und sagte "Guten Tag". Und tat dabei eines der vielleicht skandalösesten Dinge, die man als Frau – und noch dazu als junge Frau – auf einem Pressefoto machen kann: Sie hat nicht gelächelt.
Das Foto wurde geteilt, besprochen, kommentiert. Konservative australische Medien kritisierten es, Aktivistinnen in sozialen Medien verteidigten es. Bei der Kritik vorne mit dabei war der Journalist Peter Van Onselen, der Grace Tame in der reichweitenstärksten australischen Zeitung "The Australian" als "kindisch", "unhöflich" und "undankbar" beschrieb.
Kein Unbehagen bereiten - und lächeln
Heute hat sich nun die Abgebildete selbst zu diesem Vorfall und den Reaktionen geäußert. Grace Tame meint, die Kritik an ihr sei ein Symptom für systemische gesellschaftliche Probleme, die Frauen in ganz Australien betreffen.
"Das Überleben in der Missbrauchskultur hängt von unterwürfigem Lächeln und einer selbstzerstörerischen Kapitulation ab. Es ist abhängig von Heuchelei" , schrieb sie heute auf Twitter.
Und weiter: "Was ich getan habe, war kein Akt einer Märtyrerin im Kulturkampf der Geschlechter. Es ist wahr, dass viele Frauen es satt haben, dass ihnen gesagt wird, sie sollen lächeln, oft von Männern, zum Nutzen der Männer."
Bemerkenswert ist, dass ihr hier vor allem Unhöflichkeit vorgeworfen wird - was zugleich den Sexismus kaschiert, welcher der Aufforderung zum Lächeln innewohnt. Offenbar geht es darum, dass einem Premierminister kein Unbehagen bereitet werden soll. Mit der gleichen Logik wurde auch Greta Thunbergs Wut kritisiert. How dare you, little girl!
Warum wird einer Aktivistin eine kühlere Haltung verwehrt?
Die Ironie dabei ist, dass hier von einer Aktivistin eine Höflichkeit abverlangt wird, die man beispielsweise von Journalistinnen und Journalisten berufsbedingt gerade eben nicht erwartet, weshalb es seltsam ist, wenn die konservative australische Presse diese - zudem auch noch sehr harsch - einfordert.
Im besten Falle lächeln Journalisten politische Probleme nicht einfach auf Empfängen weg, sondern adressieren sie, wann immer möglich. Und sie sind auch nicht dazu verpflichtet, das Ego der Mächtigen unverletzt zu lassen.
Vielmehr ist es oftmals eine Unnachgiebigkeit, eine Nichtgefälligkeit, die politische Wahrheiten an Licht bringt. Warum wird solch eine kühlere Haltung also einer Aktivistin verwehrt, noch dazu einer Fürsprecherin für Überlebende sexueller Übergriffe?
Verweigertes Lächeln als subversive Geste
Die Antwort scheint so simpel wie ernüchternd: Weil Frauen in gesellschaftlichen wie politischen Kontexten immer noch lächeln müssen, um nicht als unverträglich zu gelten; weil alte Geschlechterklischees nachhallen; so sehr, dass sogar die Transformationsforscherin Prof. Dr. Maja Göpel im November 2020 in einem Interview noch gefragt wurde, warum sie auf ihrem Buch über die Klimakrise nicht lächelt.
Die gesellschaftliche Erwartungshaltung gegenüber Frauen, stets fraulich und freundlich zu lächeln, auch wenn sie unter dem System leiden, entpolitisiert sie. Deshalb ist es in politischen Kontexten eine subversive Geste, das geforderte Lächeln zu verweigern, und soziale Rituale dadurch zu "stören", indem man keine gute Miene zum gesellschaftlichen Spiel macht.
Tames Verweigerung erinnert mich an den Moment, in dem die Linken-Fraktionschefin Susanne Hennig-Wellsow dem mit AfD-Stimmen gewählten FDP-Ministerpräsidenten Thomas Kemmerich im Februar 2020 im Thüringer Landtag einen Blumenstrauß vor die Füße warf. Unhöflich? Ja. Und eine emblematische, zornige Geste einer politischen Haltung, die den Verrat kommentierte, der an der Regierung begangen worden war. Da gibt es nichts zu lächeln.