Archiv

Gräueltaten in der Weimarer Republik
"1919 war ein Wendepunkt in der Gewaltgeschichte"

Der Historiker Mark Jones hat in einem Buch die Gräueltaten rund um das Jahr 1919 untersucht. Seine These: Deutschland sei bereits in den Gründungsjahren der Weimarer Republik auf den Kurs eingeschwenkt, der später in den Nazi-Horror mündete. So habe damals beispielsweise eine Mehrheit der Deutschen hinter dem Schießbefehl gestanden.

Mark Jones im Gespräch mit Birgid Becker |
    Bewaffnete Truppen während der Revolutionswirren nach dem Ersten Weltkrieg 1919 in München.
    Bewaffnete Truppen während der Revolutionswirren nach dem Ersten Weltkrieg 1919 in München. (picture-alliance / dpa / Ullstein)
    Birgid Becker: Die Weimarer Republik, diese 14 Jahre zwischen Erstem Weltkrieg und Nationalsozialismus, die ihren Anfang nahm mit der November-Revolution und ihr Ende fand mit der Machtübernahme Hitlers im Januar '33, diese Weimarer Republik hat einen guten Ruf, wenn Epochen so etwas haben können, einen guten Ruf. Die Goldenen 20er verbindet man damit, diese kurzen fünf Jahre, die im kulturellen Gedächtnis eine um das Vielfache längere Dauer haben, und schließlich Brecht, Döblin, Valladares, Feuchtwanger, Hesse, Kästner, Thomas Mann, Heinrich Mann – alle waren sie Zeitgenossen dieser ersten Demokratie auf deutschem Boden.
    Ein junger irischer Historiker, Mark Jones, zeichnet nun ein ganz anderes Bild dieser Weimarer Republik, vor allem ihrer Gründungsphase. Mit Mark Jones habe ich vor der Sendung gesprochen und ihn zunächst auf seine Kernthese angesprochen. Er sagt nämlich, dass die Auswüchse mörderischer Gewalt, die die deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert geprägt haben, nicht in den 30er-, nicht in den 40er-Jahren begannen, sondern schon in den Gründungsjahren der Weimarer Republik. Hier bereits sei Deutschland auf den Kurs eingeschwenkt, der später in den Horror Nazi-Deutschlands münden würde. Wie begründet er das? Das war meine erste Frage an Mark Jones.
    Mark Jones: Das Ziel dieses Buches ist es, die Gewalt am Anfang der Weimarer Republik sichtbarer zu machen, als es bis jetzt der Fall ist. Warum? – Ich denke, dass 1919 ein Wendepunkt in der Gewaltgeschichte Deutschlands ist. Dazu lese ich einen sehr kurzen Teil meines Buches, der das ins Licht bringt:
    "Gleich nach Ankunft im Gefängnishof wurden die beiden Männer von einer Gruppe außer Kontrolle geratener, wutentbrannter Regierungssoldaten brutal zu Tode geprügelt. Ein 20-jähriger Soldat schlug mit seinem Gewehrkolben mehrmals auf einen der beiden Gefangenen ein, bis er aufhören musste, weil das Gewehr entzwei ging. Ein anderer verstümmelte mit einem schweren Holzhammer die Körper der Männer. Soldaten, die bei dieser atavistischen Gewaltorgie zusahen, feuerten die Täter mit Rufen wie "schlag ihn!" an."
    Becker: Das war eine Passage aus Ihrem Buch, Herr Jones. Auf welcher Quelle fußt das?
    "Ich will mit diesem Buch, dass Gewalt sichtbar wird"
    Jones: Das ist von einer Quelle aus einem Prozess. In diesem Fall war die Gewaltorgie so schlimm, dass es tatsächlich einen Prozess gegeben hatte. Die Augenzeugenberichte sind überliefert und wir können durch diese Augenzeugenberichte genau lesen, was an dem Tag – und das war am 9. März 1919 – stattgefunden hat.
    Becker: Nun weiß man ja, dass die frühen Jahre der Weimarer Republik nicht besonders friedlich waren. Wir hatten die Räterepublik, wir hatten den Kapp-Putsch, wir hatten kommunistische Aufstände dann als Reaktion, die Ermordung von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg, die Ermordung von Matthias Erzberger, von Walther Rathenau und der Anschlag auf Philipp Scheidemann. Dass die Weimarer Republik in den ersten Jahren ein instabiles Gebilde war, das wusste man auch vorher. Was, glauben Sie, wusste man nicht?
    Jones: Wie ich am Anfang gesagt habe: Ich will mit diesem Buch, dass Gewalt sichtbar wird. Und die Gräueltaten, die um 1919 stattgefunden haben, sind bis jetzt von keinem anderen Werk der Geschichtsschreibung genau untersucht worden. Ich habe viel Mühe und viel Arbeit gegeben, um genau zu rekonstruieren, wie Menschen umgebracht wurden in der Zeit und wie Gräueltaten stattgefunden haben. Die Frage für mich war, wie ist die Gesellschaft und wie sind politische Akteure zu der Zeit mit Gewalt umgegangen, und von daher habe ich eine Reihe Quellen, die von anderen Historikern bis jetzt nicht benutzt wurden, gefunden und evaluiert und dadurch eine neue historische Darstellung der Revolution von 1918/19 schreiben können.
    Becker: Sie kritisieren in Ihrem Buch, dass in Deutschland die gewaltsame Niederschlagung der November-Revolution kaum zur Kenntnis genommen werde, und Sie sagen, da handele es sich um einen Verdrängungsprozess. Wer verdrängt da und wer ist verantwortlich für diesen Verdrängungsprozess?
    "Eine komplette Kehrtwende in ein paar Monaten"
    Jones: Das ist eine gute Frage. Ich sage "Prozess", weil ich sehe das als einen Begriff, der uns erlaubt, etwas zu verstehen, ohne zu sagen, dass es einen Einzeltäter gibt, der gesagt hat, wir sollen das nicht mehr erwähnen. Es ist ein Prozess mit vielen Teilen, vielen Komponenten in Bezug auf die Gewaltgeschichte. Die haupthistorischen Arbeiten zum Thema Revolution 1918/19 wurden in den 60er- und 70er-Jahren geschrieben und zu der Zeit wurde die Gewaltgeschichte in Deutschland sehr anders gesehen und verstanden als die Gewaltgeschichte von heute. Ab Mitte der 90er-Jahre gab es eine allgemeine Wende in der Gewaltgeschichtsschreibung in Deutschland und in Europa. Es gab neue theoretische Ansätze und es war auch für die Deutschen und die deutschen Historiker auch vielleicht einfacher, ab Mitte der 90er über die Gewalt des Zweiten Weltkrieges zu sprechen. Aber vielleicht sollten Sie die Frage an Heinrich August Winkler stellen und ihn fragen, warum er in einem Buch zum Thema deutsche Revolution oder zum Thema des Anfangs der Weimarer Republik, in einem Buch von mehr als 700 Seiten, nur ein paar Zeilen zum Thema Gewalt erwähnt.
    Becker: Sie gehen davon aus, dass eine zunehmende Brutalisierung – und jetzt zitiere ich – "aus der Interaktion politischer, militärischer und kultureller Faktoren erwachsen ist." Und über all dem auch aus der populären Forderung, der Staat müsse hart durchgreifen. Jetzt frage ich Sie: War das nicht der Zeitgeist damals? Woher sollten nach dem Weltkrieg, nach einer Monarchie moderne Werte der Rechtsstaatlichkeit kommen?
    Jones: Die Frage ist für mich schwer. Auch vor dem Ersten Weltkrieg gab es klare Versuche, die Gewalt der Kriege zu regulieren, und diese Normen gab es zu der damaligen Zeit. Wir dürfen nicht vergessen, dass die meisten Soldaten in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg, die überwiegende Mehrheit der Soldaten am Ende des Krieges nicht weiterkämpfen wollten. Sie wollten nach Hause. Sie hatten keine Lust mehr auf Gewalt. Das ist dann die Frage, wie ist es dann, dass eine Revolution, die im November 1918 stattgefunden hat, mit wenig Gewalt stattfand, ein fast friedlicher Umsturz? Aber dann nur ein paar Monate später ist es zu Gewaltausbrüchen gekommen, die eine völlig neue Dimension hatten in der deutschen Geschichte bis zu dem Punkt.
    Um die Frage zu personalisieren: Wie war es möglich, dass kurz vor Weihnachten, Dezember 1918, Friedrich Ebert plädierte, dass Gewalt nicht zum politischen Mittel benutzt werden sollte? Aber dann, nachdem mehr als tausend Menschen in Berlin im März 1919 ihr Leben verloren haben, dass er dann in Bezug auf die bevorstehende Operation gegen die Münchener Räterepublik sagte, dass die Erfahrung andernorts uns zeigt, je harscher die Mittel, desto schneller der Erfolg. Das ist eine komplette Kehrtwendung, die in diesen paar Monaten stattgefunden hat, und mit dem Buch versuche ich zu erklären, warum das stattgefunden hat, und versuche ich zu erklären, warum die Normen, die wir heute gegenüber Gewalt haben, warum die Befürworter dieser Normen zu dem Zeitpunkt den politischen Kampf verloren haben.
    Becker: Überhaupt kommen ja sozialdemokratische Politiker in Ihrem Buch nicht gut weg, namentlich Friedrich Ebert nicht. Sie verweisen darauf, dass es eine sozialdemokratisch geführte Regierung war, die unter anderem ja standrechtliche Erschießungen erlaubte. Wenn ich Ihre These von der Weiterführung der Gewalt ganz überspitzt formuliere, dann sagen Sie ja, dass eine Brücke führt von Friedrich Ebert zu Adolf Hitler. Oder ist das jetzt zu überspitzt?
    "Buch sollte nicht als Kritik an der Sozialdemokratie gelesen werden"
    Jones: Das ist zu überspitzt. Das muss man sagen. Was ich in dem Buch versucht habe ist zu erklären, warum die Sozialdemokraten so gehandelt haben, wie sie gehandelt haben. Und ich will das jetzt sehr klar sagen: Das Buch sollte nicht als eine Kritik an der Sozialdemokratie gelesen werden. Das Buch sollte gelesen werden als ein Versuch eines Historikers, alle die vielen Prozesse, die es damals zu der Zeit gab, zu erklären. Zu sagen, dass es von dem Schießbefehl und von der sozialdemokratischen Gründungsgewalt der Weimarer Republik einen direkten Bruch zu der Gewalt der Nationalsozialisten gibt, geht mir zu weit, weil es ist eine komplizierte Geschichte. Was ich stattdessen sagen will ist: In Deutschland und auch in Europa gibt es in jeder Bücherei sehr viele Bücher zum Thema Zweiter Weltkrieg, zum Thema Nationalsozialismus und zum Thema Holocaust und die Rolle, die Gewalt in all diesen Themen gespielt hat. Ich finde es nicht recht, dass diese Diskussion geführt wurde, ohne dass die Gewaltextreme von 1919 je ans Licht gebracht wurden. Die Diskussion geht weiter ohne eine wichtige Komponente ihrer Vorgeschichte. Wenn wir die Gesellschaft von 1919 besser verstehen, wenn wir verstehen, warum eine Mehrheit der Deutschen hinter dem Schießbefehl stand, dann werden wir auch besser verstehen, wie es möglich war, in den 30er-Jahren gewisse sozialen Gruppen auszugrenzen, bis zu dem Punkt, dass diese Menschen nicht mehr leben konnten.
    Wenn man mein Buch genau durchliest und wer die Geschichte des Dritten Reiches gut kennt, der wird sehen, dass die Prozesse ziemlich ähnlich sind. Ich gebe Ihnen ein Beispiel. Die Idee, dass die Menschen Ostberlins unter den Arbeitern Tiere waren, dass die Menschen in biestigen Gestalten waren, das wird im März 1919 von allen Seiten gesagt, und das war ein Ausgrenzungsprozess, der nicht ungleich mit den Ausgrenzungsprozessen ist, die später in den 30er-Jahren stattgefunden haben.
    Becker: Weil ich eingangs sagte, dass die Weimarer Republik ein gutes Image hat, wenn man das von Epochen sagen kann. Sie gilt ja als das gute Deutschland. Ihr Buch genommen, muss man dann nicht eventuell doch die zivilisatorischen oder kulturellen Errungenschaften dieser ersten Demokratie in Deutschland etwas anders, etwas düsterer sehen, als das gemeinhin gesehen wird?
    "Dürfen nicht vergessen, dass damals die Demokraten verloren haben"
    Jones: Ja und nein. Ein Ziel dieses Buches ist, die Gewalt, die am Anfang der Republik stattgefunden hat, sichtbar zu machen. Und wenn die Feiern für das Jubiläumsjahr der Eröffnung der Nationalversammlung in 2019 stattfinden, will ich auch sagen, wir sollten es nicht vergessen, dass es in der Nationalversammlung gefeiert wurde, dass Menschen in den Straßen Berlins kurzerhand erschossen wurden von Soldaten, auch wenn diese Menschen unschuldige Zivilisten einschließlich Frauen und Kinder waren. Das heißt aber nicht, dass wir die Errungenschaften Weimars vergessen sollten. Für mich ist die Frage vielleicht wichtiger, was lehrt uns heute die Weimarer Republik. Als ich dieses Buchprojekt vor mehreren Jahren angefangen habe, hätte ich niemals gedacht, dass am Ende mein Buch politisch so relevant wäre wie heute, weil als dieses Buch auf Englisch erschien, wurde Donald Trump zum Präsidenten der Vereinigten Staaten. Ein Amerikaner, der mein Buch auf Englisch liest, schreibt mir, we're living in Weimar, wir leben jetzt in Weimar. Wir mögen seinen Punkt diskutieren, ob wir wirklich in Weimar leben, aber was ich sage ist, dass wir jetzt in einer Lage sind, die Geschichte der Weimarer Republik gut zu kennen und die Auseinandersetzung zwischen den kulturellen Errungenschaften, zwischen den Ursprüngen des Nationalsozialismus in der Weimarer Zeit, zwischen den politischen Debatten in der Weimarer Zeit, dass wir alle diese Prozesse besser verstehen müssen, um die Herausforderungen der heutigen Politik zu überwinden. Wir dürfen es nicht vergessen, dass damals die Demokraten verloren haben.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.