Silvia Engels: Man traut sich als Moderatorin kaum noch, eine weitere entscheidende Woche für den Brexit anzukündigen, denn wir haben in den letzten Monaten ja immer wieder wichtige Entwicklungen in London oder Brüssel gesehen. Es gab immer neue Erkenntnisse. Aber die entscheidende Kernfrage, ob, wann, wie Großbritannien aus der EU austritt, die blieb am Ende immer offen. Deshalb Zurückhaltung; es ist wohl besser, nur von einer weiteren wichtigen Woche zu sprechen, und in dieser Woche liegt immerhin ein EU-Sondergipfel und das aktuelle britische Austrittsdatum, was ja noch für den 12. 4. Festgeschrieben ist. Den Rest besprechen wir mit Alexander Graf Lambsdorff, ehemaliger Vorsitzender der FDP-Gruppe im Europäischen Parlament und seit 2017 stellvertretender Vorsitzender der FDP-Bundestagsfraktion, zuständig für Außenpolitik. Guten Morgen, Herr Lambsdorff!
Alexander Graf Lambsdorff: Guten Morgen, Frau Engels!
Engels: Ihre Liberalen setzen sich ja seit langem dafür ein, dass die Briten in einem zweiten Referendum über den Brexit abstimmen können. Aber auch das hat bislang im Unterhaus – Sie wissen es – wie so vieles keine Mehrheit. Ist das überhaupt noch realistisch, oder sollte man jetzt einfach auch diese Vielzahl von Optionen mal vom Tisch nehmen?
Graf Lambsdorff: Ich glaube, jede Option ist auf ihre Art und Weise realistisch und unrealistisch zugleich, ob das nun der Verbleib in der Zollunion ist, ob das der Verbleib im Binnenmarkt ist, ob es ein harter Brexit ist, aber auch, ob es ein zweites Referendum ist. Zurzeit laufen die Gespräche zwischen Tories und Labour, den Sozialdemokraten, und was dabei herauskommen wird, das wird die nächsten Tage dann auch dominieren. Das kann nichts sein. Sie haben es ja eben schon angedeutet. Es ist sehr schwierig zu wissen, wann wirklich die letztgültige Entscheidung gefällt wird. Es kann aber auch eine Einigung sein, beispielsweise auf ein zweites Referendum. Und tatsächlich, Sie haben recht: Die Schwesterpartei der Freien Demokraten in Großbritannien, die Liberaldemokraten dort sind sehr stark dafür, dass es zu einem zweiten Referendum kommt.
"Niemand will den harten Brexit"
Engels: Im Moment sieht es ja noch nicht einmal danach aus, dass Theresa May mit irgendeiner klaren Entscheidung oder gar einer, durch das Unterhaus abgesegneten Entscheidung zum EU-Gipfel nach Brüssel kommen kann, sondern dass sie lediglich einmal mehr mit dem Wunsch kommt, mehr Zeit zu bekommen, ohne dafür tatsächlich eine, schon konkrete Angabe machen zu können, wie denn der Kurs in London jetzt weitergeht. Jetzt will sie eine Frist bis zum 30. Juni. Sollte sie die bekommen?
Graf Lambsdorff: Ich glaube, eine Verlängerung für nichts und wieder nichts darf die Europäische Union dem Vereinigten Königreich nicht einräumen. Wir würden ja in die Institutionen, in dieses doch delikate Institutionengefüge der Europäischen Union dann all die Probleme importieren, die zurzeit in Großbritannien ausgetragen werden, und das wäre der falsche Weg. Deswegen: Wenn Großbritannien mit einem Vorschlag kommt, mit einer der Optionen, über die wir gerade geredet haben, dann kann man natürlich verlängern, denn niemand, niemand will den harten Brexit. Und wenn sich eine Perspektive abzeichnet, dann wird man auch konstruktiv sein müssen. Aber eine Verlängerung für nichts und wieder nichts, das darf nicht in Frage kommen. Das würde Europa ganz schwer beschädigen. Wir sehen ja, was in London passiert, gerade wie sich dort das politische System, die politische Klasse zerlegen. Das können wir uns ja für den Kontinent nicht wünschen.
Engels: Auch der Staatsminister im Auswärtigen Amt, Michael Roth, klingt ähnlich. Er sagte am Sonntag der "Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung", eine kurze Verlängerung komme nur dann in Betracht, wenn es eine neue Entscheidungssituation gibt, also bis 12. 4. Die Mehrheit für ein Austrittsabkommen stehen würde. – Liegen Sie da genau auf einer Linie?
"Durchwursteln ist manchmal ein probates Mittel"
Graf Lambsdorff: Wenn es die Einigung auf das Austrittsabkommen gäbe, dann wäre natürlich die Situation leicht. Aber ich glaube, dass Herr Roth da etwas zu optimistisch ist, wie ja insgesamt die Bundesregierung immer noch davon ausgeht, dass das Abkommen verabschiedet wird, und ihre Vorbereitungen auch daran ausrichtet. Das ist ein Punkt, den wir kritisiert haben. Man muss die Vorbereitungen für die Bundesrepublik, für den Rest der Europäischen Union natürlich auch vor der Annahme treffen, dass es eben nicht zu einem Austrittsabkommen kommt, dass der Deal nicht ratifiziert wird. Da sind wir ein bisschen auseinander, denn ich glaube, es ist wichtig, dass die Vorbereitungen für beide Szenarien gemacht werden.
Was Herr Roth allerdings richtig sagt, ist – und da würde ich ihm zustimmen -, eine Verlängerung ohne irgendein neues Element, wie gesagt, Zollunion, Binnenmarkt, zweites Referendum, was es da alles gibt, die darf es nicht geben. Da sind wir auf einer Linie.
Engels: In anderen EU-Mitgliedsstaaten, beispielsweise in Frankreich und auch in Österreich ist die Skepsis groß, den Briten überhaupt noch mal eine Fristverlängerung zu gewähren. Beim EU-Gipfel am Mittwoch würde hier das Veto eines einzelnen Mitgliedsstaates dafür reichen, dass das abgelehnt würde, und dann käme der harte Brexit Ende der Woche. Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit Ihrer Einschätzung nach?
Graf Lambsdorff: Aus meiner Erfahrung in der europäischen Politik ist das Durchwursteln manchmal ein ganz probates Mittel. Und natürlich gibt es unterschiedliche Positionen, übrigens auch nachvollziehbare unterschiedliche Positionen in der Frage. Aber dass man jetzt wirklich schon den Stecker zieht und sagt, am 12. 4. Ist endgültig Schluss, das glaube ich nicht so ganz. Es gibt ja noch die Möglichkeit, anders als Frau May es beantragt hat, nicht bis Ende Juni eine Verlängerung zu gewähren, sondern bis vor der Europawahl, also bis zum 22. Mai. Es gibt noch Kompromisslinien, es gibt noch Möglichkeiten, etwas zu tun, sofern die Briten etwas auf den Tisch legen. Das ist ja die Voraussetzung, von der wir ausgehen müssen. Wie gesagt: Für nichts und wieder nichts kann man es auch nicht verkürzt machen.
"Tusk treibt unglücklich motiviertes politisches Spiel"
Engels: Durchwursteln ist ein gutes Stichwort. Auf dem Tisch liegt ja auch ein Vorschlag von EU-Ratspräsident Tusk, das Austrittsdatum um zwölf Monate zu verlängern und flexibel zu halten. Was halten Sie davon?
Graf Lambsdorff: Nichts! Ich halte das, ehrlich gesagt, für einen erstaunlichen Vorschlag des höchsten Vertreters einer der Institutionen der Europäischen Union. In meinen Augen macht Donald Tusk hier polnische Innenpolitik. Im Herbst wird in Polen gewählt. Es gibt Hunderttausende von polnischen Staatsbürgern, die in Großbritannien leben. Die sind unmittelbar betroffen von diesen ganzen Fragen. Seine Partei, die Platforma, kämpft darum, dass sie der PiS einige Prozentpunkte abnimmt in den Wahlen im Herbst in Polen. Ich kann mir das nur so erklären, denn der Vorschlag, einfach so jetzt ein Jahr draufzulegen, Großbritannien als Mitglied zu behalten, mit vollen Rechten und Pflichten, mit allen Entscheidungsbefugnissen, vor dem Hintergrund, dass Theresa May vermutlich irgendwann zurücktreten wird, oder aber auch abgewählt wird von ihren eigenen Parteifreunden, und dann jemand ans Ruder kommt in Großbritannien, dessen Programm darin besteht, es der Europäischen Union so schwer wie möglich zu machen, irgendwas zu entscheiden, das kann ja nicht im Ernst der Vorschlag des Präsidenten des Europäischen Rates sein. Was Donald Tusk hier treibt, ist in meinen Augen ein ganz unglückliches, innenpolitisch motiviertes Spiel.
Engels: Das heißt, eine lange Verlängerung unter den jetzigen Bedingungen, bei denen dann ja auch die Briten an der Europawahl teilnehmen müssten, lehnen Sie konsequent ab?
"Ein Vorschlag aus polnischer Perspektive"
Graf Lambsdorff: Na ja. Die müssten ja nicht nur an der Europawahl teilnehmen. Die würden auch die nächste Kommission mit benennen. Sie würden mit entscheiden über den mehrjährigen Finanzrahmen, den Haushaltsrahmen für die nächsten sieben Jahre. Und wenn Sie die Mitglieder der European Research Group hören, der wirklich härtesten Brexitiers unter Jacob Rees-Mogg; die sagen ganz klar: Wenn wir länger drin bleiben, dann werden wir "the most difficult member" sein müssen, das schwierigste, mühsamste Mitglied von allen, und die waren ja in der Vergangenheit schon manchmal mühsam. Was sich Donald Tusk dabei gedacht hat, ich glaube wirklich, es ist ein innenpolitisch motivierter Vorschlag aus polnischer Perspektive. Der Europäischen Union würde er schaden. Ich wäre jedenfalls strikt dagegen.
Engels: Sie haben Jacob Rees-Mogg zitiert, der einflussreiche britische Brexit-Befürworter. Der hat aber auch die eigene Agenda, weil ihm wahrscheinlich ein harter Brexit Ende der Woche am liebsten wäre. Das heißt, spricht er denn wirklich für die britische Politik, oder muss man nicht weiter auf diejenigen zugehen, die moderat sind?
Graf Lambsdorff: Ich würde mir sehr wünschen, dass Jacob Rees-Mogg eine Randfigur bleibt. Aber die Voraussetzung dafür ist, dass sich die Tories mit den Sozialdemokraten, mit der Labour-Partei auf etwas einigen, denn ohne eine solche Einigung werden auch Rees-Mogg und seine Leute für eine Mehrheit gebraucht. Insofern: Ich bin ganz bei Ihnen, wenn es darum geht zu sagen, um Gottes Willen, bloß keinen harten Brexit. Aber dazu braucht es eine Einigung und solange die Labour Party nicht bereit ist, sich zu bewegen, solange auch die Tories nicht beispielsweise in der Frage Zollunion flexibler sind, als sie es im Moment noch sind, solange sehe ich nach wie vor, dass Frau May auf Leute wie Rees-Mogg angewiesen bleibt.
"Meine Vermutung ist, es wird zu einer kürzeren Verlängerung kommen"
Engels: Herr Lambsdorff, Ihr Blick in die Kristallkugel: Worauf einigt sich der Gipfel am Mittwoch?
Graf Lambsdorff: Frau Engels, ich habe mir vor ein paar Wochen irgendwann mal abgewöhnt, Prognosen über den Brexit abzugeben. Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht. Meine Vermutung ist, es wird zu einer kürzeren Verlängerung kommen, dass Frau May jetzt einfach noch mal dasselbe beantragt, was sie schon mal beantragt hat. Das kann sich der Rat in der Form ja eigentlich nicht gefallen lassen. Ich befürchte, die lange Verlängerung von Tusk wird ernsthaft diskutiert. Das wäre ganz falsch. Und ich glaube, dass am Ende eine kurze Verlängerung dabei herauskommt, in der man noch mal versucht, eine Lösung herbeizuführen, die auf einer Einigung zwischen Tories und Labour beruht.
Engels: Alexander Graf Lambsdorff, stellvertretender Vorsitzender der FDP-Bundestagsfraktion und mit langer Expertise in Außenpolitik und europäischen Fragen ausgestattet. Vielen Dank für das Gespräch.
Graf Lambsdorff: Danke Ihnen! – Tschüss!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.