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Grafiker und Illustrator Christoph Niemann
"Das Persönliche ist literarisches Mittel für das Gemeinsame"

Er bringe viel Energie auf, um auf Dinge zu starren, sagte der Grafiker und Illustrator Christoph Niemann im Dlf. Sein eigenes Sehen versuche er ständig neu zu erfinden. Entstanden sind so neben einem Formel-1-Helm und einer Bahnunterführung in Berlin auch Kinderbücher.

Christoph Niemann im Gespräch mit Ute Wegmann |
2 Bücher von Christoph Niemann
Einblick in das Schaffen von Christoph Niemann (Knesebeck Verlag / Diogenes Verlag)
Ute Wegmann: Christoph Niemann, Sie sind derart vielseitig, dass man gar nicht weiß, wo man beginnen soll, deshalb hab ich mir einen Stichwortkatalog ausgedacht – von Auftragsarbeit über Blog und Blick zu Youtube und "Zeit", an dem wir uns nun assoziativ entlang arbeiten können.
Betrachtet man das Buch "Abstract City", dann entwickeln Sie viele Ideen aus dem eigenen Alltag: Es geht um die Liebe zum Kaffeetrinken, das New Yorker-U-Bahn-Netz, das Ihre Kinder in und auswendig kennen, um verhasste Kabelsalate, um Musik, Filme, Welt – die Niemann-Welt. Es erweckt den Eindruck, dass ein Bild einen zufälligen Anfang nimmt, angestoßen von außen, und Sie sich dann assoziierend weiterbewegen?
Christoph Niemann: Tatsächlich ist es so, dass das Persönliche für mich eher literarisches Mittel ist für das Gemeinsame. Denn die Welt, die ich da beschreibe, da geht es ja nicht um meine, sondern um die Schnittmenge meiner Erfahrungen und der der Leser, anders würde das überhaupt nicht funktionieren. Denn in die Idee der U-Bahn, des Kaffeetrinkens kann ich mich als Leser nur hineinarbeiten, wenn ich die Obsession bis zu einem gewissen Grade auch teile. Und ich erzähle das zwar extrem aus der Ich-Perspektive, aber mit dem einzigen Ziel, bei den Betrachtern, die Schubladen, in denen die eigenen Geschichten drin sind, aufzumachen und neu zu verknüpfen.
Christoph Niemann, geboren 1970 in Waiblingen, ging mit Mitte 20 nach einem Studium an der Staatlichen Akademie der Künste in Stuttgart nach New York. Er arbeitete dort – und das tut er immer noch – für den New Yorker und für das "New York Times Magazin", kehrte aber nach elf Jahren nach Deutschland zurück und lebt in Berlin. Er hat Kunden in der ganzen Welt, von der Modebranche über Stiftungen bis zu Formel-1-Pilot Sebastian Vettel, dessen Helm-Design er entwarf. Für die New York Times schreibt er einen Blog, Abstract Sunday. 2010 wurde er in die Art Directors Club Hall of Fame aufgenommen. Seit letztem Jahr ist er der Protagonist der eigenen Youtube-Serie 360° Q & A, Questions & Answers, in der er sich an Menschen wendet, die sich für seine Kunst interessieren. Außerdem hat er im letzten Jahr eine Bahnunterführung in Berlin gestaltet, und er macht Bücher. Im Jahr 2014 war das Bilderbuch "Der Kartoffelkönig" für den DJLP nominiert.
Wegmann: Auf Ihrer Webseite findet man eine Vielzahl Landschaftsaquarelle und freie Arbeiten, die lassen wir jetzt mal außen vor. Sondern wir betrachten die Bilder, die in Büchern zusammengefasst wurden. Alltagsdinge oder Wesen werden in neue Zusammenhänge gebracht und dadurch erzielen Sie eine besondere Aufmerksamkeit, aber auch oft genug einen Lacher, denn die Verbindungen sind amüsant ungewöhnlich. Oft kombinieren Sie in Ihren Bildern reale Alltagsgegenstände - abfotografiert Kamm, Brötchen, Stift –, mit Gezeichnetem. Bekanntes wird auf Unbekanntes loslassen oder Gegenstände umgedeutet, das ist Ihre Spezialität. Ich denke an ein Bild aus dem Buch "Sunday Scetching", auf dem sich ein Mann, eine Porträtzeichnung, rasiert. Der Bart ist das geschickt positionierte Foto eines Mohnbrötchens. Das heißt, Sie kombinieren Zeichnung mit Fotografie, wie kamen Sie zu dieser Arbeitsweise?
Niemann: Tatsächlich war diese Serie eine kreative Übung, mein eigenes Sehen auch ständig neu zu erfinden. Das Zeichnen ist eine sehr wiederholende Angelegenheit und nach einer Weile schleifen sich gewisse Dinge ein, wie man zeichnet, aber auch wie man sieht. Man sucht natürlich immer nach dem Vertrauten, so geht es auch als Zeichner, und da ist es natürlich sehr wichtig, aus dem auszubrechen, einen anderen Blick für Dinge zu kriegen. Und dann kam diese Idee, sich als Spielerei ein Objekt zu nehmen und die Dinge sehen vielleicht so aus, als ob ich durch die Gegend laufe und sehe eine Kaffeetasse und denke, ach hoppla, das sieht ja aus wie ein Zebra, ein Hubschrauber oder sonst irgendwas. Genauso funktioniert es nicht. Ich nehme mir die Kaffeetasse, stell die vor mich und starre drei bis vier Stunden drauf. Der Unterschied zwischen Ihnen und mir ist weniger, dass mir sofort was einfällt, sondern dass ich vielleicht die größere Energie habe, so lange drauf zu starren, bis ich etwas sehe. Und dann eben nicht die Kaffeetasse zu nehmen, die ich im Kopf abgespeichert habe, diese Art Stockfoto-Kaffeetasse, sondern wirklich das Objekt vor mir zu nehmen, bei dem ein Schatten, ein Lichteinfall, eine gewisse perspektivische Verkürzung ungewöhnlich aussieht. Die sieht natürlich auch vertraut aus und gleichzeitig ist ein bestimmter Winkel ... offenbart irgendwas, was neu ist. Und ich glaube, der Moment der Verblüffung beim Betrachter, oder in dem Fall auch bei mir selber, ist weniger, dass ich auf so eine tolle Idee kam, sondern ich sehe was da drin, was ich eigentlich gar nicht sehen dürfte, weil die Menge Information mathematisch eigentlich zu wenig ist und trotzdem ist das Bild total klar, dieser Bildwitz entsteht einzig und allein im Kopf der Betrachter.
"Es fing an mit einem Schlüsselbund"
Wegmann: Erinnern Sie sich noch an das erste Bild oder erste Objekt, das Sie so entwickelt haben?
Niemann: Zum einen muss ich sagen, diese Art, collagenartig zu zeichnen, habe ich weder erfunden, noch perfektioniert. Was bei mir anders ist als das, was man so kennt von Steinberg oder Ungerer, dass ich nicht mit Fotos arbeite, sondern mit Objekten. Und es fing an mit einem Schlüsselbund, den ich auf meinem Schreibtisch hatte, den hab ich so gedreht, dass ein Schlüsselkopf aussah wie ein Vogelkopf mit Schnabel und der Rest wie ein verrückter Federbusch, sah ein bisschen aus wie ein Wiedehopf, und hab dann den Körper drunter gezeichnet, ohne die Absicht, eine Instagram-Serie daraus zu machen. Und war dann verblüfft, wie toll die Reaktionen darauf waren. Das Schönste an der ganzen Serie war, zu sehen, dass die visuelle Intelligenz bei Lesern viel, viel größer ist, als man das in Vor-Internet-Zeiten angenommen hätte.
Einer der absoluten Leuchttürme dieser Welt
Wegmann: Nun haben Sie Saul Steinberg, den großen rumänisch-amerikanischen Künstler erwähnt (Red: 1914-1999). Ist er eine Art Inspirationsquelle gewesen?
Niemann: Ich muss zu meiner Scham gestehen, dass ich Steinberg erst im Studium durch meinen Professor Heinz Edelmann kennengelernt habe. Steinberg ist natürlich einer der ganz großen visuellen Erfinder, der so viele verschiedene Stile, und vor allem auch das Spiel mit den Stilen als erzählerisches Mittel mehr ins Leben gebracht hat als andere Leute, die mir jetzt einfallen würden. Da sehe ich eher eine Verwandtschaft auch zu Hockney und zu Picasso im Sinne von Virtuosität und auch von der Art der Uneitelkeit, wie er seinen eigenen Stil zurücknimmt, um verschiedene Dinge zu nehmen, und damit neue Geschichten entstehen zu lassen. Da ist er einer der absoluten Leuchttürme in dieser Welt.
Wegmann: Es gibt dieses bekannte Bild, wo er eine Frau in eine Badewanne hineingezeichnet hat ...
Niemann: ... und wahrscheinlich die meist kopierte Illustration, dieses New-Yorker-Cover View from 9th Avenue, bei dem man die erste Straße ganz groß sieht und dann werden die Straßen nach hinten immer kleiner und am Horizont seh ich nur noch drei Halbkreise, auf denen steht glaube ich Russland, China und New Jersey oder so was in der Art. Dieses Bild gibt es ja wirklich von Stuttgart, Hamburg, Paris, Wladiwostok – von jeder Stadt. Da hat er schon eine absolute Ikone geschaffen.
"Die Schmerzresistenz ist wahrscheinlich nicht trainierbar"
Wegmann: Jetzt haben Sie vorhin gesagt, Sie sitzen unter Umständen drei Stunden vor einem Objekt. Kann man diesen Blick trainieren, ist das eine Sehübung? Und ich sprach ja vorhin auch schon davon, dass die Motive, die Bilder sehr amüsant sind. Ist das Niemannscher Humor, die Dinge genauso zu entdecken?
Niemann: Es ist auf jeden Fall trainierbar. Die eine Sache, die nicht trainierbar ist, ist wohl die Energie oder, dass man so begeistert von der Grundidee ist, solche Bilder zu machen, dass einem die Frustration egal ist. Ich glaube, das Gleiche gilt für Pianisten und Tänzer und Fußballspieler.
Die Sache, die letztendlich den Unterschied macht, ist, ob ich so lang dran bleibe, dass ich für diese ganzen Ideen, die nicht funktionieren, ob ich da weitermache. Die Schmerzresistenz ist wahrscheinlich nicht trainierbar, alles andere ist trainierbar. Das, was am Schluss passiert, dass sich beim Betrachter der Moment von Verblüffung hoffentlich einstellt, der hat natürlich nichts mit dem Entstehungsprozess zu tun. Ich glaube, das ist oft eine große Quelle von künstlerischer Frustration, dass man den Moment des Kunsterfahrens verwechselt – also ein Buch lesen und das Feuerwerk geht im Kopf ab – im Gegensatz zum Entstehen des Buches, das darin besteht, dass ich das gleiche Wort dreißig Mal im Satz vor, im Satz zurück(schiebe), das Komma dahin, das Adverb rein, das Adverb raus. Das ist ja die Realität des Kreierens. Die Realität des Lesens kann ja ganz emotional, spontan und ganz wild sein, aber das Entstehen eben nicht. Und ich glaube, oft ist dann die Schwierigkeit, wenn man schreibt, zeichnet, dass man denkt: Ich mach was falsch, denn das Lesen fühlt sich doch so toll und so emotional an, warum kann das Kreieren denn nicht genau so sein?
"Ich muss zuerst die emotionale Bindung zum Leser schaffen"
Wegmann: Das Durchhaltevermögen, der kreative Schaffensprozess ist die eine Sache, aber Humor spielt doch auch eine entscheidende Rolle?
Niemann: Einerseits ist der Humor sehr wichtig ...der Humor ist ein tolles Mittel, weil ich dann merke, da hat was funktioniert. Aber ich muss ja zuerst die emotionale Bindung zum Leser schaffen, und dann etwas machen, was der Leser weder erwartet noch haben will. Und da geht es beim Humor nicht ums Lustige, sondern um das Packen des Lesers, dass die Leser selber so sehr in die Geschichte investiert sind, dass sie bereit sind für den emotionalen Moment, wenn etwas Ungewöhnliches passiert.
Wegmann: Sie arbeiten ja auch in verschiedenen Stilen. Ganz anders: Eins meiner Lieblingsbilder: Eine Zahnbürste, darauf ein Streifen rosa Zahnpasta, die wie ein weiches Wesen die Borsten liebevoll umarmt und sich daran festklammert. Und von den Borsten ebenfalls umarmt wird ....
Niemann: Ich denke: Ein Bild, dass etwas absurder oder lustiger ist als andere, da ist ein kalter Stil besser. Das ist wie eine bestimmte Art von Witz, der muss mit einer trockenen Stimme erzählt werden. Da überlege ich mir schon sehr genau, wie ich meine Stile einsetze, fast wie ein Instrument, das einen bestimmten Ton machen soll, um dann eine Melodie zum Klingen zu bringen.
Vernünftige und unvernünftige Selbstzweifel
Wegmann: Auf Ihrem Youtube-Kanal 360° geben Sie zehn Regeln preis, nach denen Sie arbeiten, wie Sie sich vor einem leeren Blatt konzentrieren. Eine lautet "no fear", eine andere "no pity", eine weitere "I’m God". Welche ist die wichtigste: angstfrei, ohne Selbstmitleid oder kurzzeitig ein bisschen größenwahnsinnig zu sein?
Niemann: Dazu muss ich sagen: Was ganz wichtig ist, sind die Momente, wenn ich am Schreibtisch sitze, am Zeichnen bin. Die Selbstzweifel sind unglaublich wichtig und ich bin überhaupt nicht Gott, aber in dem Moment, wenn ich mich an die Zeichnung setze, muss ich all das ignorieren: die Zweifel und die Unzulänglichkeiten. Ich glaube, tatsächlich all die Dinge sind wichtig. Mich hinzustellen und ein Bild zu zeichnen, das ich dann theoretisch jedem Menschen der Welt vor die Nase halten will, ist ein Akt einer solch unglaublichen Hybris. Wenn ich das durchdenken will, vor allem in Anbetracht all der tollen Bilder, die es schon gibt. Wie kann ich es wagen, mein eigenes oben drauf setzen zu müssen? Das heißt, ich muss eigentlich die gesamte kulturelle Weltgeschichte in dem Moment komplett ignorieren. Und mir sagen: das wird schon so wichtig und toll sein, dass ich das ohne Peinlichkeit den Leuten zeigen kann. Da muss man aushaken, was man sonst an vernünftigem Selbstzweifel hat und sich sagen: Jetzt mach ich einfach, als ob das das letzte Bild wäre, was die Menschheit je zu Gesicht bekommt.
Wegmann: Eine weitere Regel lautet: "judge tomorrow", ein Plädoyer für den zweiten Blick, für das Einmal-drüber-Schlafen.
Niemann: Ja, nicht nur das, sondern da geht es um das Trennen von bestimmten Sachen. Das harte Betrachten der eigenen Arbeit ist, glaube ich, extrem wichtig. Es ist nur schwer, wenn ich beim Arbeiten schon versuche, gleichzeitig zu kontrollieren. Dann hab ich für mich entdeckt, dass es manchmal leichter ist, einfach mal Dinge rauszulassen. Nicht zu überlegen: Ist es jetzt zu peinlich? War das schon mal da? Hab ich das schon mal gemacht? Sondern einfach zu sagen: Ich mach es jetzt einfach, und kann morgen noch mal drüber schauen und entscheiden: Ist es vielleicht unerwartet gut? Ist etwas anderes Gutes dabei rausgekommen? Oder auch zu sagen: Nein, das war zu lau!
Wegmann: Sie haben einmal in einem Interview gesagt: "Ich glaube nicht in dem Sinne an Talent, dass Leuten die Ideen leichter zufliegen. Talent ist vielleicht, inwiefern man mit der Frustration als elementarem Prozess umzugehen versteht." Heißt das: Alles ist erlernbar. Man muss beim Zeichnen in ein Training gehen, wie jeder Musiker oder jeder Tänzer. Üben, üben, üben! Was hat Christoph Niemann mitgebracht, was hat er sich erarbeitet?
Niemann: Frustration, das klingt so wahnsinnig nach Selbstkasteiung. Der Prozess ist nicht furchtbar, aber es ist schon ein ständiges Auseinandersetzen mit Dingen, die nicht funktionieren. Erst, wenn der letzte Strich gemacht ist, ist das Bild fertig. Jeder Strich davor kann ich es immer noch ruinieren. Und wahrscheinlich ist es noch nicht perfekt, sonst müsste ich ja nicht noch weiterzeichnen. Das heißt, ich lebe die ganze zeit mit dem Unfertigen, mit dem nicht Guten. Und jeder Beruf hat schöne und weniger schöne Seiten und das ist etwas, womit man sich nicht nur abfinden muss, sondern vielleicht ist das eine Sache, die in einem selbst schon vorhanden sein muss. Eine schwere Sache, an der Leute verzweifeln, ist ja das Immer-wieder-Neues schaffen. Wenn mir etwas gelingt, ist es für einen kurzen Moment toll, und dann ist es auf alle Zeit der Welt nicht mehr zu machen. Ich darf ja das gleiche Buch nicht zweimal schreiben. Und wenn das ein Talent ist, dann ist es schon ein sehr großes und sehr wichtiges Talent.
Über Talent, Training und "Helden"
Wegmann: Trainieren Sie, ich nenne es jetzt mal trainieren, sie nach wie vor so wie in den ersten Jahren?
Niemann: Vielleicht sogar ein bisschen mehr. Ich finde es verblüffend, dass man in meinem Beruf, aber das gilt sicher auch für andere kreative Berufe, im Studium sehr viel übt, man bekommt Dinge beigebracht, bringt sich selber Dinge bei, dann kommt der Beruf und dann bin ich nur am Arbeiten. Arbeit hat natürlich auch einen Trainingseffekt. Aber ich habe das zehn Jahre bis auf ein zwei technische Dinge nicht gemacht, und versuche es jetzt eher bewusster zu machen, sowohl was technische Innovationen angeht, als auch was das Zeichnen betrifft. Dass ich mir zwischendurch mal überlege: Es hakt immer mit bestimmten Dingen, perspektivisch bestimmte Sachen zu zeichnen. Tiere sind wahnsinnig schwer, das menschliche Gesicht. Und dann geht es nicht nur darum, Dinge besser zu zeichnen, sondern vielleicht einfach anders zu zeichnen, zu schauen: Bin ich da in eine Form hineingerutscht, meine Autos sehen alle gleich aus? Muss ich das einmal komplett hinterfragen, wie ich diese dreidimensionale Form zweidimensional auf das Blatt bringe?
Wegmann: Sie sind heute Vorbild für viele junge Designer. Wer sind Ihre Heroes gewesen?
Niemann: Aufgewachsen bin ich mit Ungerer, der war in meinem Kinderzimmer zum Glück sehr stark vertreten. Dann sprang das über auf Asterix. Ich spreche mit meiner Frau immer, die sagt, es gibt die Hergé-Kids, und es gibt die Asterix-Kids. Ich kannte Hergé, aber mir war Asterix präsenter. Und dann mit zwölf, dreizehn Jahren kam Mad Magazin. Und das hab ich mir vielleicht etwas länger als unbedingt gesund sehr intensiv zu Gemüte geführt. Vor allem Don Marten und Mort Drucker, die ich nach wie vor für absolute Genies halte, vom Erzählerischen als auch vom Zeichnerischen.
Wegmann: Sie haben als die Einstiegsdroge für jeden Künstler das eigene Kunst erleben definiert. Wie wichtig ist die Kunst, vor allem die moderne Kunst für Ihr eigenes Schaffen?
Niemann: Extrem wichtig ist mir das Betrachten und das Erleben von Sachen. Wenn ich zeichne, stell ich Marken aufs Blatt, brauche einen visuellen Wortschatz und den muss ich ja auch auffüllen, der hat ja was mit Jetztzeit zu tun. Bilder heute sollen ja anders aussehen als noch vor zehn Jahren. Damit muss ich mich auseinandersetzen: Wie wird heute visuelle Kultur neu verhandelt. Das passiert zum großen Teil in zeitgenössischer Kunst, aber es passiert auch in der Werbung, im Fernsehen, in Film, in anderen Medien. Für mich ist da Kunst ein wichtiger Teil.
Wegmann: Gibt es einen modernen Maler, der für Sie besonders wichtig ist?
Niemann: Raymond Pettibon ist für mich ein grandioser, ganz grandioser Zeichner. Hockney selbstverständlich. Elisabeth Peyton ist für mich ein absolutes Genie. Die Umsetzung des Dreidimensionalen ins Zweidimensionale ist bei all denen auf eine ganz andere Art so inspirierend, weil wirklich Universen aufstehen und ich wirklich bei jedem der dreien – es gibt natürlich noch wesentlich mehr – das ich das Gefühl habe, das Blatt ist ein Fenster in ein Universum. Es ist nicht nur das eine Bild, sondern es ist wie eine Parallelwelt, in der ich die jetzige Welt meistens besser verstehen kann als wenn ich die echte Welt anschaue.
"Dann hab ich zum Glück mein Gelübde gebrochen"
Wegmann: Heute zu Gast im Büchermarkt ist der Grafiker, Illustrator und Künstler Christoph Niemann. Alle Angaben zu seinen Büchern finden Sie auf unserer Webseite deutschlandfunk.de. Wie kamen Sie, Christoph Niemann, zum Kinderbuch?
Niemann: Ich hatte mir eigentlich während des Studiums vorgenommen, keine Kinderbücher zu machen. Weil ich immer dachte, ein Illustrator, der Kinderbücher macht, ist wie ein Mädchen, das sagt, ich will Doktor für Pferde werden. Das ist so unglaublich naheliegend. Und da hab ich gesagt: Das werde ich nie tun. Und dann war es so, als wir Kinder hatten, entstand aus einer Gutenachtgeschichte das erste Buch "Die Polizeiwolke". Und es war so, ich hatte die Geschichte und die machte Sinn. Dann hab ich zum Glück mein Gelübde gebrochen, bin über meinen Stolz gesprungen. Es ist ein tolles Medium.
Wegmann: Entstanden sind bisher fünf oder sechs Bilderbücher, einige sind ins Deutsche übertragen: "So funktioniert das!", "Der kleine Drache", "Der Kartoffelkönig" – diese drei sind bei Jacoby & Stuart erschienen. Zuletzt "Wörter" bei Diogenes. "Der kleine Drache", in China angesiedelt, spielt mit chinesischen Schriftzeichen, die Sie in die Bilder eingearbeitet haben und die aber auch noch mal separat aufgeführt sind. "Der Kartoffelkönig" erzählt die Geschichte der Kartoffel, die anfangs von Bauern abgelehnt und durch eine psychologische List des Alten Fritz eingeführt werden konnte. Hier arbeiten Sie mit einer Kartoffeldrucktechnik. Was war zuerst da: Die Gestaltungsidee für den Kartoffeldruck oder die Geschichte der Kartoffel?
Niemann: In dem Fall war es die Geschichte der Kartoffel. Aber dann war schnell klar, dass ich das nicht unbedingt zeichnen wollte, sondern einen Stil finden wollte, der der Geschichte auch gerecht wird. Beim Zeichnen geht es immer um Abstraktion. Es geht ja um das Verknappen der echten Welt auf ein Blattpapier, und manchmal ist es gut, wenn man sich selber zu noch größerer Abstraktion zwingt. Und da ein Kartoffeldruck sehr grob ist, muss man da sehr viele Kompromisse eingehen. Aber die Kompromisse sind dann die Dinge, die dann vielleicht eher verblüffende Bildideen bringen, als wenn ich jetzt mit dem 3H-Pinsel ein perfekt detailiertes Bild zeichne.
Wörter und Bilder
Wegmann: "Wörter" – ein 353 Seiten starkes Bildwörterbuch, letztes Jahr auf den Besten 7, der Deutschlandfunkbestenliste. Eine Seite, ein Wort, ein Bild – ein Zusammenspiel. Das Bild mit dickem schwarzem Stift oder Tusche mal auf weißem, mal auf farbigem Grund. Sehr unterschiedliche Wörter sind hier ins Bild gesetzt.
Beispiele: "zuletzt" – ein letztes Ei in einer Zehnerschachtel, "jeder" – eine Hand lackiert Fußnägel, "Schlange" – eine Menschenschlange und in der Reihe, aufrecht eine echte Schlange. Man findet unter den 300 Wörtern auch "doppeltgemoppelt", aber es sind nicht Niemanns Lieblingswörter, sondern es ist die Liste der sogenannten Sichtwörter von Dr. Edward Fry. Was hat es mit den Wörtern auf sich?
Niemann: Das Projekt fing an mit einer Buchidee in NY, für Kinder mit nicht englisch-sprachigem Hintergrund, denen einen leichteren Zugang zur Sprache zu vermitteln. Und da gibt es, was ich verblüffend finde, diese Fry-Liste, dass man mit den häufigsten 500 Wörtern der englischen Sprache wohl schon 80% der ganzen Kommunikation abdecken kann. Die Basiswörter erlauben einem einen wahnsinnigen Schritt, am sozialen Leben teilzunehmen. Die häufigsten Wörter sind nicht Hund, Katze, Auto sondern und, aber, ist, er, sie, es. Also die einfachen Worte, bei denen nicht sofort ein Bild reinspringt. Das ist mir ein großes Herzensthema, dass für mich Zeichnung näher an der Schriftsprache ist als zB an der Fotografie. Ein Toilettenikon ist ein Zeichen, das ich genauso erst mal lernen muss wie das Wort F R A U. Das ist ein Bild, das sich nicht sofort erschließt, weil es einer Frau so ähnlich ist. Es ist eine Vokabel, die grafischen Regeln folgt, die ich in meinem Kopf abspeichern muss. Genauso wie das WiFi-Signal oder ein Verkehrsschild. Deswegen finde ich Zeichen so schön, es ist eine non-verbale, aber eine Sprache, die ich als Sender, als Zeichner, aber die ich als Leser auch verstehen muss. Mit dem großen Unterschied, dass wir diese Sprache lernen, ohne uns darüber klar zu sein. Wir können die als Kinder sprechen und lesen auf eine natürlich spielerische Art. Wir wissen auch, dass diese Zeichen eine gewisse Bandbreite in der Bedeutung haben. Eben die Idee, die Worte hinzustellen – Liebe - ich – springen – oben – unten – sind fantastische offene Themen, die ganz große Dinge darstellen können. Und da mir das Spielerische sehr wichtig und viele Wörter abstrakt sind, hat es mir besonders viel Spaß gemacht.
In Bewegung sein
Wegmann: Neben den Kinderbüchern veröffentlichten Sie die wunderbaren Bücher "Sunday Scetching" und "Abstract City", in denen Ihre Kolumnen und Einzelbilder und Serien zusammengeführt wurden. Aber es gibt darüber hinaus vieles mehr, was Sie machen: Eine Fotoserie für die Deutsche Oper oder eine Plakatreihe für die Obama-Stiftung. Sie sind ein Bewegungsmensch. Viele Ihrer Figuren sind in Bewegung, sind Handelnde, Laufende, Fahrende. Eins Ihrer großer Projekte war das Skizzieren während des New York-Marathons, den Sie mitgelaufen sind, für den Sie trainiert haben. Sie haben es vorhin in anderem Kontext schon erwähnt, aber mal als Stichwort: Vorwärtsbewegung.
Niemann: Die einzige Sache, bei der ich m ir sicher bin, dass sie in zehn Jahren noch genau ist, ist, dass ich ständig was anderes machen muss. Das ist das Schönste, aber auch der größte Druck in diesem Beruf, deswegen ist die Bewegung im Kopf, aber auch das ständige Sachen Wegwerfen, etwas hinter sich lassen und die nächste Sache zu machen, vielleicht ist das auch das größte Glück an dem Beruf.
Wegmann: Fühlen Sie sich manchmal beschenkt?
Niemann: Wahnsinnig, weil ich sagen muss, dass das was ich mache, mir viele Türe öffnete, die Orte, an die reisen konnte, die Menschen, die ich getroffen habe, da weiß ich, dass ich das zum großen Teil meiner Arbeit zu verdanken habe, und das ist ein sehr großes Glück.
Wegmann: Es gibt ein Bild von Ihnen: Ein Mann schaukelt zu hoch? zu wild? Jedenfalls er verliert seine Krone. Gab es in Ihrem Leben den Augenblick, in dem Sie wussten, hier muss ich jetzt abbremsen?
Niemann: Ständig. Es ist eine Sache, der bin ich mir bewusst, ob ich es immer umsetzen kann, weiß ich nicht, auch die wieder das kreative Arbeiten hat ja was mit Output – mit Produktion- zu tun, und Produktion geht nicht, ohne dass da etwas reinkommt. Und manchmal fließt es so raus, und dann denkt man. Ist ja wunderbar, das mach ich jetzt gerade so weiter die nächsten zwei Jahre. Und dann merkt man, irgendwann ist das eben auch leer. Und dann ist es wichtig sich zu sagen. Ich muss jetzt erst wieder was Neues rein tun, muss Dinge erleben, mir muss ja erst mal wieder was passieren, damit ich das umsetzen kann.
Christoph Niemann, vielen Dank, dass ich heute in Berlin Ihr Gast sein durfte.
"So funktioniert das!"
von Christoph Niemann
Verlagshaus Jacoby & Stuart Berlin, 24 Seiten
"Der kleine Drache. Eine Geschichte von Freundschaft und chinesischen Schriftzeichen"
von Christoph Niemann
Aus dem Englischen von Nicola Stuart
Verlagshaus Jacoby & Stuart Berlin, 32 Seiten
"Der Kartoffelkönig"
von Christoph Niemann
Verlagshaus Jacoby & Stuart Berlin, 24 Seiten
"Sunday Sketching"
von Christoph Niemann
Aus dem Englischen von Sophie Zeitz
Knesebck Verlag München, 274 Seiten
"Abstract City. Mein Leben unterm Strich"
von Christoph Niemann
Knesebeck Verlag München, 276 Seiten
"Wörter"
von Christoph Niemann
Aus dem Amerikanischen von Kati Hertzsch
Diogenes Verlag Zürich, 351 Seiten