In seinem Band "Vita obscura" versammelt Simon Schwartz 33 unwahrscheinliche Biografien in Wort und Bild. Ob es sich um den Pathologen Dr. Thomas Harvey handelt, der Einsteins Gehirn entwendete, die siamesischen Zwillinge Chang und Eng Bunker, die in den USA als Plantagenbesitzer reich wurden, oder die Krankenschwester Violet Jessop, die drei Schiffsunglücke überlebte, darunter auch den Untergang der "Titanic": Die Lebensgeschichten sind oft kaum zu glauben, aber allesamt wahr - und ihre Protagonisten sind zum Großteil völlig zu Unrecht in Vergessenheit geraten.
"Manche von ihnen sind auch ein bisschen lächerlich, aber man muss sie trotzdem ernst nehmen, weil dass Leute sind, die gelebt haben. Das sind keine Kasperlefiguren."
Reale Figuren, die in Vergessenheit geraten sind
Eine dieser Figuren ist der Stadtstreicher und selbst ernannte "Kaiser von Amerika" Joshua Norton, der in San Francisco lebte und wirkte und neben seinen regelmäßigen wirren Eingebungen auch die visionäre Idee einer Brücke über die San Francisco Bay hatte.
"Der seltsame Vagabund starb 1880 auf offener Straße an einem Herzinfarkt - ohne einen Thronfolger zu hinterlassen. Der 'San Francisco Chronicle' schrieb: "Die Trauergemeinde enthielt alle Klassen: Vom Kapitalisten bis zum Armen, vom Geistlichen bis zum Taschendieb." Joshua Nortons Traum einer Brücke nach Oakland wurde als 'Bay Bridge' erst 1933 realisiert. Eine Namensgebung zu seinen Ehren scheiterte jedoch am erbitterten Widerstand Oaklands."
Serie für eine deutsche Wochenzeitung
Jeder historischen Person hat Simon Schwartz eine Buchseite gewidmet. Diese Gestaltung verweist auf die formale Inspirationsquelle der "vitae obscurae": Im frühen 20. Jahrhundert erschienen mit den "Sonntagsseiten" in amerikanischen Zeitungen die ersten Comicstrips. Auch Schwartz' Serie ist ursprünglich für eine deutsche Wochenzeitung entstanden. Jede Woche ein anderes Leben in einem halben bis einem Dutzend Bildern. Die grafische Umsetzung orientiert sich dabei stark am Inhalt: Oft greift Schwartz die Ästhetik der Zeit, in der die porträtierte Persönlichkeit gelebt hat, oder ihren Gemütszustand in seiner bildnerischen Darstellung auf. So finden sich nicht allein Tusche-, Kohle- sowie Bleistiftzeichnungen, sondern auch Collagen, ein 3-D-Strip und sogar ein Relief. Auch die Anordnung der einzelnen Bilder nimmt Bezug auf ihren Inhalt:
"Es gibt diese eine Geschichte über die diversen Doppelgänger von Dimitri Iwanowitsch, dem Sohn Iwan des Schrecklichen, wo immer wieder ein neuer falscher Dimitri auftaucht und behauptet hat, er wäre der Echte. Da fiel mir sofort das Bild dieser Matrjoschkas ein, wo immer wieder immer jemand Neues rauspoppt, und für mich war sofort klar: Die grafische Umsetzung muss diese Matrjoschkas aufgreifen."
Vergessene Helden
Biografien haben Simon Schwartz immer fasziniert. Sein vielfach ausgezeichnetes Debüt aus dem Jahr 2009: "Drüben!", das zugleich seine Abschlussarbeit im Fach Illustration an der Hochschule für angewandte Wissenschaften Hamburg war, handelt von ihm selbst. Schwartz, der 1982 in Erfurt zur Welt kam und heute in Hamburg lebt und arbeitet, schildert in "drüben!" Die Übersiedelung mit seinen Eltern aus der DDR nach West-Berlin. Heute wird das Buch im Schulunterricht gelesen - dabei habe er nie einen pädagogischen Anspruch gehabt, wie Schwartz erklärt. Seine Zweite, im Jahr 2012 veröffentlichte Graphic Novel: "Packeis", handelt vom afroamerikanischen Polarforscher Matthew Henson, der als erster Mensch den Nordpol erreichte. Schon hier zeigt sich Schwartz' Zuneigung zu den vergessenen Helden der Menschheitsgeschichte: Matthew Henson blieb aufgrund seiner Hautfarbe die verdiente Anerkennung versagt. Seinem Interesse ist Simon Schwartz treu geblieben, ästhetisch aber will er sich nicht wiederholen.
"Mit dem 'Packeis', dem vorangegangenen Buch, habe ich fast zweieinhalb Jahre zu tun gehabt, bis es fertig war. Das ist in einer Ästhetik, in einem Stil, immer das gleiche Format, dasselbe Layout. Im Prinzip war dieser Comicstrip, 'Vita obscura', das Buch, im Prinzip ein Freibrechen und Michausprobieren. Zu sagen: Heute möchte ich ein Aquarell machen, ich habe noch nie ein Aquarell gemacht, probiere ich es einfach mal. Vielleicht klappt's, vielleicht klappt's nicht. Das ist im Prinzip wie ein Befreiungsschlag. Vermutlich gehe ich dann jetzt zurück zum Minimalismus, ich weiß es nicht."
Comics aus der frankobelgischen Tradition
Geprägt hat Simon Schwartz der klassische Comic-Kanon: Einerseits ist er mit den Comics aus der frankobelgischen Tradition wie "Lucky Luke" oder "Asterix und Obelix" aufgewachsen, andererseits mit den "Digedags" aus den "Mosaik"-Heften, die in der DDR äußerst beliebt waren. Den kreativen Nachhall dieser Lektüre merkt man seinen Zeichnungen noch heute an. Schwartz' freier Umgang mit den Panels oder seine Darstellungsweise von Architektur erinnert indes an Größen der Graphic-Novel-Szene, denen er auch thematisch nahesteht:
"Später durchaus weniger kommerzielle Comics wie zum Beispiel Chris Ware oder Seth, also amerikanische Zeichner, die sich aber abseits dieses klassischen Superheldenmarktes bewegen und, ja, sehr schwere und oft auch biografische Stoffe machen."
Wie in jeder guten Geschichte liegen auch in "Vita obscura" Tragik und Komik dicht beieinander. Simon Schwartz' Humor variiert dabei von leiser Ironie über offenen Witz, Sarkasmus und Freude am Absurden bis zur Burleske. Allein - er gibt seine Figuren niemals der Lächerlichkeit preis, fühlt mit ihnen, lässt ihnen stets ihre Würde. Da ist beispielsweise der Zuckerhändler Wilmer McLean, der das unvorstellbare Pech hatte, den Amerikanischen Bürgerkrieg buchstäblich aus nächster Nähe mitzuerleben. Sein Anwesen diente als Stützpunkt der Konföderierten; die erste Kanonenkugel des Krieges landete in seinem Kochtopf. McLean floh mit seiner Familie in Richtung Süden, doch die Frontlinie verschob sich, und so wurde der Friedensvertrag zwischen Nord- und Südstaaten vier Jahre später im Wohnzimmer seines neuen Hauses unterschrieben. Anschließend plünderten es die Soldaten beider Armeen. Sein Schicksal fasste McLean selbst in lakonischen Worten zusammen:
"Der Krieg begann in meinem Vorgarten und endete in meinem Salon."
Pujols Leben mit zärtlichem Spott dargestellt
Oder da gibt es den Franzosen Joseph Pujol, von Beruf Kunstfurzer. Schwartz gelingt es, McLeans wie Pujols Leben mit zärtlichem Spott und großem Einfühlungsvermögen zugleich darzustellen. Man spürt das aufrichtige Interesse des Autors an den historischen Figuren und sein Gespür für die Essenz ihrer Existenz – bei Pujol etwa den Umstand, dass er nicht mit dem Weltgeschehen Schritt hielt:
"Allein die Tatsache, dass seine größte Nummer die Imitation von Kanonenfeuer war und mit Beginn des Ersten Weltkriegs die Leute kopfschüttelnd auf einmal seine Vorstellungen verlassen haben, und ein paar Jahre vorher fanden sie das noch wahnsinnig lustig – und das letzten Endes den Niedergang seiner Karriere bedeutet hat."
Heute ist uns neben wenigen Schallplatten von Pujol noch ein kurzer Film von Thomas Edison erhalten geblieben. Edison wollte im Jahr 1.900 Filme mit Ton und Geruch veröffentlichen. Ton und Geruch Pujols wurden nie aufgezeichnet."
Dem gekonnten Zusammenspiel von Wort und Bild verdankt sich die Subtilität von "Vita obscura". Simon Schwartz schichtet nicht, er entfaltet - indem seine Zeichnungen den Text nicht schlicht illustrieren, sondern den Assoziationsraum erweitern. Schon infolge der Beschränkung auf eine Buchseite sind die Texte knapp gehalten; außerdem, so Schwartz, sei seine Hemmschwelle beim Schreiben viel größer als beim Zeichnen. Die Texte sind also aufs Wesentliche reduziert. So entsteht ein unterhaltsames, abwechslungsvolles und im altmodischen Sinne lehrreiches Buch, das aber zum Glück weit davon entfernt ist, den Leser zu belehren – und das den obskuren Helden der Weltgeschichte zumindest zu ein wenig spätem Ruhm verhilft.
Simon Schwartz: "Vita obscura". avant-Verlag, 72 Seiten, 19,95 Euro.