"Es gibt dort eine enge Verbindung zwischen Opfer und Schönheit - und das ist kein Widerspruch."
Die Faszination für Japan, vor allem für Mangas, führt den italienischen Comic-Künstler Igort in den frühen 90er-Jahren in den fernöstlichen Inselstaat. Ein ganzes Jahrzehnt hatte er "von diesem Land geträumt", schreibt er in seinem autobiografischen Comic "Berichte aus Japan". Er taucht tief in die Kultur ein, meistert den Manga-Stil und arbeitet lange für einen japanischen Comic-Verlag. Nach fünf Jahren allerdings wirft ihn ein Kulturschock aus der Bahn; er selbst nennt ihn "die Behandlung".
"Sie holten mich am Flughafen ab und waren dabei sehr freundlich; dann brachten sie mich ins Hotel. Für mich war es Nacht, aber dort war es gerade mal 7 oder 8 Uhr morgens. Und dann fingen sie an, mich auszufragen, über meinen Comic. Ich war so müde, dass ich keine klugen Antworten geben konnte. Und dann bekam ich den Auftrag, bis zum nächsten Tag eine Geschichte zu schreiben. Ich sollte also das Skript schreiben und 16 Seiten mit dem Bleistift zeichnen. Ich war mir damals sicher, dass das für mich nicht machbar und auch überhaupt nicht menschenmöglich war."
Igort stößt an seine Grenzen, aber tatsächlich bringt er die verlangte Geschichte zuende. Am nächsten Tag soll er wieder eine zeichnen - und am Tag darauf auch. Ganze zwei Wochen geht es so weiter, bis am Ende der Verleger die rund 200 Seiten wegwirft: Die Leserschaft ist an einer neuen Serie in Schwarzweiß nicht interessiert. Trotzdem war es eine wichtige Erfahrung, sagt Igort.
"Es war der Anfang eines neuen Lebens für mich, künstlerisch und menschlich. Ich weiß jetzt, dass ich überall zeichnen kann. Im Flugzeug, im Zug, ohne Tisch auf meinen Knien. Ich habe so etwas über mich gelernt, was ich sonst nie erfahren hätte."
Berichte aus Japan spannt einen weiteren Bogen als die meisten autobiografischen Graphic Novels. Igort verknüpft persönliche Episoden mit einem Abriss der japanischen Kulturgeschichte, indem er seine Zeichnungen mit Fotos, gefundenen Gegenständen und Abbildungen aus anderen Comics mischt.
"Das Buch ist wie ein Dokumentarfilm. Ich wollte es möglich so erzählen, wie Umberto Ecos "Opera Aperta", also ein offenes Werk. Das heißt, es gibt keine traditionelle Struktur. Es geht um japanische Kultur, im Narrativ, in der Literatur, in der Animation oder im Manga. Für mich gibt es da keinen Unterschied."
Die Begegnung mit den Mangas
So kommt Igort in seinem fast 200 Seiten langem, opulent bebilderten Band von Hölzchen auf Stöckchen; er redet über Mythen, Kunst, kulturelle Eigenheiten und die Pioniere des Mangas.
"Manga ist eine andere Sprache als der Comic. Die Bildfolge funktioniert anders, die Zeit funktioniert anders. Es ist ein komplett anderes System der Darstellung. Aber: Genau so, wie ich Englisch lernen kann, kann ich auch eine visuelle Sprache lernen. Das war die Herausforderung."
Die Begegnung mit dem Manga, sagt Igort selbst, war eine "dritte Geburt". Als Jugendlicher habe ihn vor allem die amerikanische Kultur begeistert, später, als junger Mann, habe ihn interessiert, wie man in Europa Geschichten erzählt. Auch, wenn Igort sein Leben den unterschiedlichen Schulen "sequenzieller Kunst" verschrieben hat, liegen seine Wurzeln anderswo:
"Die ernste die oder sogenannte ernste Kunstszene. Es lief gut für mich, ich wurde auf die Biennale in Venedig eingeladen, ich habe mehrmals in New York ausgestellt. Nach einer Weile fiel mir auf, dass ich meine Bilder immer in ganz bestimmten Abfolgen aufgehängt habe. Und das hat mich auf die Idee gebracht, mich am Comic zu versuchen."
Inzwischen kann sich Igort nicht mehr vorstellen, in einem anderen Medium zu arbeiten. Der Comic bietet ihm nicht nur die Freiheit des Ausdrucks, sondern hat außerdem das, was er selbst "Privileg des Elends" nennt - mit anderen Worten: Comics schreiben kostet nichts.
"Wenn ich reisen würde wie Wim Wenders für seine Filme, dann müsste ich mindestens 20 Leute mitnehmen. Das kostet viel und ist ein sehr aufwendiges Unterfangen. Dagegen brauche ich beim Reisen nichts als meinen Notizblock, meine Stifte und meine Wasserfarben."
Teile von "Berichte aus Japan" wirken tatsächlich wie zusammengeheftete Seiten eines Notizblocks; andere wiederum sind hochpolierte Comicseiten, in denen jeder Tuschestrich und jedes Wort bewusst gesetzt sind. Umso erstaunlicher ist die Disziplin, die Tatsache, dass Igort sich nie verzettelt, trotz aller Umwege und Nebenschauplätze läuft ihm die Erzählung nie aus dem Ruder. Zur Zeit arbeitet er an einem zweiten Band, der die Lücken füllen und den Bericht vervollständigen soll.
Igorts Erfahrung ist spannend erzählt und selbst kleine Anekdoten - unter anderem besucht er Studio Ghibli und trifft den legendären Anime-Regisseur Hayao Miyazaki - sind lesenswert. Faszinierend ist aber vor allem sein Blick nach außen. So ist es passend, dass "Berichte aus Japan" nicht mit dem Autor selbst endet, sondern mit einem Kapitel zur Entstehung des Mangas. Nicht Igort, sondern die japanische Kultur ist der wahre Protagonist seiner Geschichte.