Viele von uns kennen dieses Mädchen aus dem Fernsehen. Es gab diesen rührenden Moment bei Olympia 2008 in Peking. Da trägt eine schmale 17-Jährige die somalische Flagge ins Stadion, und genau dieselbe dünne 17-Jährige im Schlabber-T-Shirt verliert wenig später völlig abgeschlagen den 200-Meter-Lauf. Diesem Mädchen fliegen die Herzen des Publikums zu. Man kann das noch heute bei Youtube anschauen. Das ist der Clou dieser Geschichte. Ein Kind, das es - gegen alle Widerstände - von Mogadischu bis zu den Olympischen Spielen nach Peking geschafft hat, das darf nicht an so etwas Banalem wie einem Schlauchboot scheitern.
Doch genau das tut sie. 2012 ertrinkt Samia auf der Überfahrt nach Europa, in einem völlig überbelegten Schlepperboot, dem der Sprit ausgeht. Obwohl sie schon so viele Widerstände bezwungen hat. Denn zurück in Mogadischu läuft Samia, obwohl die islamistische Al-Shabaab-Miliz Frauen das Laufen verbietet. Eine Frau darf nicht Sport treiben. Der Autor Reinhard Kleist rekonstruiert einen Facebook-Eintrag, den Samia so oder so ähnlich gepostet haben könnte.
"Liebe Freunde! Ich konnte gestern nicht trainieren gehen, weil die Milizen mich nicht durchgelassen haben. Sie sind überall und belästigen die Leute. (...) Und jetzt haben sie mich auch am Telefon bedroht! Jemand muss denen meine Nummer gegeben haben. Warum lassen die mich nicht trainieren?" (S. 36)
Ziel Profisportlerin
Nicht nur Mogadischu ist in der Hand der Al-Shabaab-Miliz. Ganz Somalia ist ein "failed state", das Land ist zerrüttet von Bürgerkrieg, Korruption und Hungersnot. Mogadischu, der Heimatort von Samia, gilt inzwischen als die gefährlichste Stadt der Welt. Viele in Samias Umfeld fliehen vor Armut und Terror. Auch Samia will nach Europa, um ein besseres Leben zu beginnen - ihre Schwester hat es schon nach Helsinki geschafft. Vor allem aber will die 17-jährige Profi-Sportlerin werden - und an den Olympischen Spielen in London teilnehmen.
"Liebe Schwester, ich warte seit Wochen auf das Boot, das mich nach Europa bringt. Aber ich bin voller Zuversicht. Was meinst du, wo ich am besten trainieren kann? Ob es in der Schweiz noch besser ist als in Italien? Wenn du mit Mutter sprichst, sag ihr vielen Dank für das Geld und bitte sie um Vergebung, dass ich sie alleingelassen habe. Es wird alles besser werden, sobald ich einen Platz zum Trainieren gefunden habe und Geld als Profisportlerin verdiene." (S. 116)
Samia bricht mit ihrer Tante zusammen auf, verliert sie aber unterwegs. Sie schlägt sich durch halb Afrika bis nach Tripolis, 4000 Kilometer, sie rutscht mitten in der Wüste vom Lkw der Schleuser, sie läuft um ihr Leben, sie übersteht den libyschen Bürgerkrieg - nur, um am Ende in einem überfüllten Schlauchboot zu landen.
Samia kommt nie in Italien an. Beim ersten Versuch wird ihr Boot von der libyschen Küstenwache gestoppt. Beim zweiten Versuch, Wochen später, zwingen die Schleuser sie und 60 andere Flüchtlinge mit vorgehaltener Pistole auf ein viel zu kleines Schlauchboot, dem nach zwei Tagen der Sprit ausgeht. Aus dem Dialog einiger Flüchtender mit den Schleusern:
"Ihr habt uns angelogen! Das Boot ist zu klein. Damit kommen wir niemals über das Meer. Das ist unser sicherer Tod. Damit fahren wir nicht." - "Macht schon, hier kann jeden Moment die Küstenwache kommen. Ein Zurück gibt es nicht. Rein in das Boot!" (S. 119)
Das Gesicht hinter der Statistik
Das Boot hat kein Funkgerät, zu wenig Sprit und zu wenig Trinkwasser dabei. Auf der Überfahrt verdursten Kinder und Jugendliche. Im April 2012 ertrinkt Samia im Mittelmeer. Die damals 21-Jährige ist Läuferin; schwimmen hat sie nie gelernt. Es ist eine Geschichte ohne Happy End, die der preisgekrönte Zeichner Reinhard Kleist da in Bilder fasst. Samia ist das Gesicht hinter der Statistik, nach der wieder so und so viele Hunderte oder Tausende ertrunken sind.
Rekonstruiert hat Kleist das mithilfe von Samias Facebook-Einträgen, die inzwischen gelöscht wurden, und im Gespräch mit ihrer fünf Jahre älterer Schwester. Kleist wählt den Zugang der Comicreportage. Das hört sich nach leichter Lektüre an - aber die Zeichnungen und Sätze sind so eindringlich, dass diese Zuschreibung in die Irre führt.
Dass der Zeichner mit harten historischen Stoffen umgehen kann, hat er bereits mit dem Jugendliteraturpreis für seine Graphic Novel "Der Boxer" bewiesen. Darin geht es um einen polnischen Juden, der im Vernichtungslager zum Boxen gezwungen wurde und deshalb überlebt hat. Auch für den "Traum von Olympia" hat Kleist bereits die Kinderbuchprämierung "Luchs" erhalten, weil er es schafft, die harte Kost der Flüchtlingsproblematik auch für Kinder und Jugendliche verdaulich zu verdichten. Das Buch lebt von den starken Bildern in schwarz-weiß. Der Autor braucht die moralischen Dilemmata gar nicht explizit anzusprechen, sie erschließen sich ganz ohne Moralpredigt von selbst.
Reinhard Kleist: "Der Traum von Olympia. Die Geschichte von Samia Yusuf Omar", Carlsen Verlag, 152 Seiten, 17,90 Euro. ISBN: 978-3-551-73639-0