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Graphic Novel "Hand aufs Herz"
Liebe und Sex in Marokko

In Marokko haben Frauen kein Recht auf Lust oder Verlangen – das ist eine Erkenntnis der französisch-marokkanischen Schriftstellerin und Journalistin Leïla Slimani. Ihre Interviews sind nun als Graphic Novel erscheinen - und zeigen Frauen, die zwischen Zerrissenheit und Hoffnung schwanken.

Von Andrea Heinze |
    Die Schriftstellerin Leïla Slimani
    Autorin Leïla Slimani schafft es, ihre Leser mit einem Funken Hoffnung zu entlassen (imago stock&people / Federico Pestellini)
    Als Leïla Slimani mit ihrem preisgekrönten Bestseller "Dann schlaf auch du" in Marokko auf Lesereise geht, trifft sie Frauen die offen über Liebe, Gefühle und Sexualität sprechen und damit ein Tabu brechen - denn das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung ist in der marokkanischen Gesellschaft nicht vorgesehen. Das Buch, das sie darüber geschrieben hat, ist auch als Comic erschienen. "Hand aufs Herz" heißt der.
    Die Bigotterie der marokkanischen Gesellschaft wird schon in der ersten Begegnung deutlich: Da ist die fast Vierzigjährige, deren Eltern fest daran glauben, dass ihre unverheiratete Tochter noch Jungfrau ist - dabei ist Sex vor der Ehe auch in Marokko üblich - zumindest, wenn man nicht offen darüber spricht
    Textauszug: "Sieh dir das da an - da hinten auf dem Felsen. Man sieht es Ihnen nicht an, aber sie verstecken sich. Wenn das nicht so bezeichnend für unsere Gesellschaft wäre, würde ich das süß finden."
    Bittere Konsequenzen
    Was im Comic erst mal daherkommt wie harmlose, kleine Lügen vor einer atemberaubenden Strandkulisse, kann bittere Konsequenzen haben. Frauen, die keine Jungfrau sind, gelten als Nutte und sind damit keine akzeptablen Heiratskandidatinnen. "Das ist doch mein gutes Recht, sowohl ficken zu wollen, als auch eine Jungfrau zu heiraten", erwidert der Freund einer Ärztin empört, als die ihn fragt, ob er seine aktuelle Affäre heiraten will. Die patriarchalen Machtstrukturen sind tief in der Gesellschaft verankert. So tief, dass unverheiratete Frauen um ihren Ruf fürchten, wenn sie sich Verhütungsmittel besorgen.
    Textauszug: "Laut der marokkanischen Assoziation gegen illegale Abtreibungen gibt es fast 600 Abtreibungen pro Tag in Marokko und hunderte Frauen sterben unter den grauenvollen Bedingungen dieser Abtreibungen."
    Immer wieder unterlegt Leïla Slimani die Erlebnisse der Frauen mit Zahlen von NGOs und Gesetzestexten. Etwa den Artikel des Strafgesetzes, nach dem jede Person, die eine Abtreibung herbeiführt mit bis zu fünf Jahren Gefängnis bestraft wird. Illegale Abtreibungen kommen die Frauen teuer zu stehen. Im Wartezimmer einer Abtreibungspraxis sitzt ein Querschnitt der marokkanischen Gesellschaft. Eine Frau mit Kopftuch muss wieder gehen, weil sie nicht genug Geld dabei hat.
    Textauszug: "Was ist aus ihr geworden? Vielleicht musste sie sich prostituieren, um abtreiben zu können - oder noch schlimmer, vielleicht hat sie sich umgebracht?"
    Comic mit Recherchehintergrund
    Leïla Slimani hat mit einer Ärztin, einer Journalistin, Soziologinnen gesprochen, auch eine Prostituierte ist darunter. Alles Frauen, die mehr oder weniger bewusst für ihre sexuelle Selbstbestimmung eintreten. Und sie erzählt, wie das verhindert werden soll: Es gibt Gesetze, die das Sexualleben justiziabel machen. Und es gibt soziale Kontrolle - durch die Familie, Kollegen, auch Freunde, die die patriarchalen Machtverhältnisse als Normalität verteidigen. Das geht so weit, dass Eltern ihre Tochter verstoßen, wenn die ihren brutal prügelnden Mann verlassen will. Wenn eine Ehe nicht gut läuft, ist die Frau Schuld - und bringt Schande über die ganze Familie.
    Zu all diesen schrecklichen Erlebnissen hat die französische Zeichnerin Laetitia Coryn wunderschöne Bilder in leuchtenden Pastellfarben gemalt. Damit erzählt der Comic auch von der atemberaubenden Landschaft Marokkos, von Meer und Bergen und der heiteren Stimmung, die den Alltag durchzieht. Denn das will die marokkanisch-stämmigen Leïla Slimani auch: zeigen, dass die rigiden Moralvorstellungen nur ein Aspekt marokkanischen Lebens sind. Allerdings ein sehr umfassender. Das trifft besonders lesbische Frauen. Viele gehen eine Ehe ein und gründen eine Familie, um nicht aufzufallen. Im Comic erzählt Leïla Slimani von einer Lesbe, die eine solche Scheinehe ablehnt. Offen lesbisch lebt sie aber trotzdem nicht.
    Textauszug: "Hier in Marokko fühle ich mich immer bedroht - aber ich weiß auch, dass so lange ich mich nicht exponiere, wird niemand bei mir aufkreuzen. In dieser Hinsicht fühle ich mich wie jeder Hetero."
    All das liest sich niederschmetternd. Und doch schafft es Leïla Slimani, die Leser mit einem Funken Hoffnung zu entlassen. Weil sie immer wieder von Frauen erzählt, die trotz aller Repressionen und Selbstzweifel ein selbstbestimmtes Sexualleben führen. Und weil sie ganz zum Schluss auch von einer Frau erzählt, die ihre Kinder ohne Angst vor dem Verlust des Jungfernhäutchens aufwachsen lässt. Sie will nicht, dass ihre Kinder die gleichen Gewalterfahrungen machen müssen, wie sie selbst.
    Leïla Slimani und Laetitia Coryn: "Hand aufs Herz"
    Avant Verlag Berlin 2018. 108 Seiten