"Im Frühjahr, als mein Verstand ungetrübt genug war, um das Für und Wider abzuwägen, entschied ich, dass wir nach Kalifornien zurückgehen würden. Deine Großmutter, deine Tante und dein Onkel waren damit nicht einverstanden, und wir schieden im Unfrieden. Es war alles nur zu verständlich."
Eine Mutter und ihr Kind unternehmen eine Reise von Tokio an die amerikanische Westküste. Illustriert ist ihr Weg mit Bildern der einzelnen Stationen: einem japanischen Schnellzug im Schnee, Schnappschüssen aus einer Flugzeugkabine, einem kalifornischen Schnellimbiss, einer beschädigten Deckenlampe in einem schäbigen Apartmenthaus. Nahaufnahmen und Panoramen wechseln sich ab. Nie im Bild sind die beiden Hauptfiguren – nur die an ihr Kind adressierte Erzählung der Mutter zeugt von ihrer Anwesenheit in dieser Geschichte:
"Ich frage mich, wie alt du wohl bist, da du dies liest. Wie lange bin ich schon fort? Hast du irgendwelche Erinnerungen an unsere Zeit dort drüben, an den Versuch eines anderen, unbekannten Lebens? Kannst du glauben, dass deine Eltern einmal so kurz vor dem Ende waren?"
Der Leser erfährt nicht, aus welcher fernen Zukunft sich die Mutter an ihr Kind wendet, wann und wie ihre gemeinsame Reise geendet ist. In ihrer verschwiegenen Schlichtheit ist diese Geschichte mit dem Titel "Übersetzt aus dem Japanischen" die poetischste in Adrian Tomines Comicband "Eindringlinge". Alle sechs darin versammelten Short Storys entwerfen Kosmen, die sich inhaltlich wie formal stark voneinander unterscheiden. Stilistisch stellt der Autor eine große Variabilität unter Beweis: Jeder Comic hat seinen eigenen Duktus, und auch der Umgang mit Farben, Frames und Text ändert sich von Geschichte zu Geschichte. Selbst der Grad des zeichnerischen Realismus’ wechselt zwischen karikaturistischer und naturgetreuer Ästhetik. Was alle Storys verbindet, ist die große Sensibilität, mit der Tomine zwischenmenschliche Feinmechanik beschreibt. Die destruktive Paarkonstellation in der Geschichte "Owls" etwa erinnert an die abgründigen Erzählungen Raymond Carvers:
"Wie oft soll ich’s dir noch sagen? Ich verdien genug Geld für uns beide, Baby. Ich hab gesagt, ich sorg für dich, und das war mein Ernst. Außerdem... in diesem Land sollte man am besten unter dem Radar bleiben. Wenn du erst mal Steuern zahlst, wählst und all den Scheiß... hamse dich."
So beschwört der alternde Drogendealer Barry seine Freundin, die er bei den Anonymen Alkoholikern aufgegabelt hat – kurz bevor er sie wegen eines harmlosen Scherzes mit einem Schuh verprügelt. Tomine gelingt es, die fatalen Wechselwirkungen einer Beziehung in all ihrer Tragik offenzulegen, ohne dabei über die Figuren oder ihre Gefühle füreinander zu urteilen. Die Düsternis, die seinen Geschichten innewohnt, hellt er mithilfe subtilen Humors auf.
Auch in der Geschichte "Amber Sweet" erschafft der Autor in Text und Bildern eine schwebende Atmosphäre zwischen Lakonie und Melancholie. Nach einer Reihe befremdlicher Begegnungen entdeckt eine Studentin, dass sie einer Pornodarstellerin bis aufs Haar gleicht. In diesem Moment sieht man die junge Frau aus großer Entfernung allein hinter einem Fenster an ihrem Laptop, während draußen der Morgen graut:
"Ich saß bis tief in die Nacht da, klickte mich durch ihre Fotos und Videos, bis mich schließlich das merkwürdige, quälende Verlangen überkam, meine Eltern anzurufen. Natürlich ging das nicht. Und das war wohl auch besser so."
Auch nach dieser Nacht nehmen die grotesk-verstörenden Erlebnisse im Leben der Protagonistin kein Ende. Und doch hält sie an der Hoffnung fest, sich einmal vom Schatten ihrer berühmten Doppelgängerin befreien zu können. Das ist typisch für Tomines Figuren: Sie scheitern immer wieder an den äußeren Umständen und machen trotzdem weiter, mal stur, mal resigniert. Ihr Autor betrachtet sie, gerade in den vielen wortlosen Sequenzen dieses Buchs, mit großer Wärme – und Diskretion. Er fühlt sich in die Charaktere ein, ohne ihnen zu nahe zu treten. Man hat das Gefühl, Tomine wahre stets respektvoll Abstand, auch wenn er etwa einen alternden Mann verzweifelt das Foto seiner toten Frau anschreien lässt:
"Alles deine Schuld. Alles deine gottverdammte Scheißschuld... mein Gott! Mein Gott!"
"Kaltes Wasser" heißt diese rührende Langzeitbeobachtung eines Vaters und seiner verstockten, stotternden Teenagertochter, die ausgerechnet Komikerin werden will. Die große Leerstelle im Comic wie im Leben der Protagonisten, der Tod der Mutter, bleibt unausgesprochen. Für die komplizierte Liebe zwischen den beiden Übriggebliebenen, Vater und Tochter, die weder miteinander noch mit ihrer Trauer umzugehen wissen, findet Tomine den passenden Ausdruck: Er zeigt die stummen, hilflosen Blicke, die permanente Befangenheit, die nichtssagenden Gespräche. Die Geschichte endet mit einem Stand-Up-Comedy-Auftritt der Tochter, den ihr Vater heimlich besucht – und dessen desaströser Ausgang ihn in ohnmächtiges Unglück stürzt. Im Anschluss einigen sich Vater und Tochter stillschweigend auf eine tröstliche Lüge: Der Abend sei gut gelaufen. Und da sind sie einander zum ersten Mal seit langer Zeit ganz nah.
Adrian Tomine: "Eindringlinge", aus dem Amerikanischen von Björn Laser, Reprodukt, 120 Seiten, 24 Euro.