"Es war unglaublich beeindruckend. Ich hatte viele Videos gesehen, tausende von Fotos, hatte viel gelesen. Aber wirklich dort anzukommen und durch die Stadt zu gehen, die die Natur sich jetzt zurückholt. Das war beeindruckend. Und es war der Moment, in dem mir wirklich klar wurde, was dort passiert ist."
Im Jahr 2009 besucht der langjährige Comicredakteur Francisco Sánchez den Ort, der vor knapp 30 Jahren durch eine Nuklearkatastrophe traurige Berühmtheit erlangte. Den Anstoß für seine erste Graphic Novel "Tschernobyl - Rückkehr ins Niemandsland" gab aber nicht diese Reise, sondern das erschütternde Buch "The Hidden Legacy".
"Und das war das erste Mal, dass ich mit dem, was dort passiert ist, konfrontiert wurde. Ich wusste natürlich von dem Unglück, wie jeder andere auch, aber ich hatte mich nie wirklich damit auseinandergesetzt. Und dieses Buch war die Initialzündung, es war wie ein Sprengkörper: Ich musste einfach mehr wissen und darüber schreiben."
Das Ergebnis ist die Geschichte einer Familie; drei Generationen, die alle auf ihre Art von der Katastrophe in Tschernobyl betroffen sind. Auch für Zeichnerin Natacha Bustos war "Rückkehr ins Niemandsland" ein sehr ernstes Projekt:
"Die Folgen waren natürlich für viele Familien katastrophal. Für mich war es deshalb ein sehr sehr wichtiger Comic. Ich hatte das Gefühl einer großen Verantwortung - zumal es damals, vor fünf Jahren, noch keinen anderen Comic über das Thema gab."
"Hinterlassender Vergnügungspark hinterlässt gewaltigen Eindruck"
Ein Arbeiter stirbt an den Folgen der Strahlung, seine schwangere Frau und ihre Kinder werden umgesiedelt und besuchen zwanzig Jahre später ihre alte Heimat. Am Anfang des Comics steht allerdings die Geschichte der Großeltern; die kehren schon kurz nach der Nuklearkatastrophe ungeachtet der hohen Strahlung in ihr Haus zurück. Dieser Teil erinnert an Raymond Briggs' berühmten Comic "Wenn der Wind weht". Die tragikomische Geschichte eines naiven alten Ehepaars, das sich vom nuklearen Fallout nicht beeindrucken lässt, war für Sánchez aber allenfalls eine unterbewusste Inspiration. Vorbild waren die realen Ereignisse im verstrahlten Prypjat, nur drei Kilometer entfernt vom Nuklearreaktor Tschernobyl. Die Familie im Mittelpunkt der Erzählung ist zwar fiktiv, nicht aber ihr Schicksal.
"Da gab es viele solche Fälle, in denen die Menschen keine Wahl hatten, etwas anderes mit ihrem Leben zu machen. Sie hatten immer dort gelebt, einige bauten auch ihre eigenen Lebensmittel an. In eine große Stadt zu ziehen und in einer Wohnung zu leben, kam für sie nicht infrage. Und da sie kein Geld hatten, um woanders neu anzufangen, kehrten sie trotz der Gefahr nach Hause zurück."
Am Horizont ragt ein Riesenrad in den Himmel, in der Mitte eines Freizeitparks, der Tage später eröffnet werden sollte. Es ist ein Bild wie aus postapokalyptischen Filmen wie "12 Monkeys" oder "I Am Legend", in dem unsere Zivilisation nur noch verblasste Erinnerung ist. Nur ist es eben keine Science Fiction, sagt Zeichnerin Natacha Bustos:
"Der Anblick dieses verlassenen Vergnügungsparks hinterlässt einen gewaltigen Eindruck. Uns wird klar, was dort passiert ist, dass alle Freude diesen Ort verlassen hat."
Sánchez: "Viele Leute erinnern sich an den Vergnügungspark auch deshalb, weil er das Symbol einer einer ehemals lebendigen und wohlhabenden Stadt ist. Einer Stadt, die jetzt verlassenen ist. Es ist einfach ehrfurchteinflößend, einen Ort wie diesen zu sehen, einen großen Vergnügungspark inmitten der menschenleeren Wildnis."
Viel Gefühl bei der Balance von Wort und Bild
Sánchez und Bustos richten ihren Blick vor allem auf das Schicksal der Familie und ihrer Nachbarn; diese Einzelschicksale aber lassen erahnen, wie schwer die Folgen für Politik und Gesellschaft sind. Aber obwohl "Rückkehr ins Niemandsland" für sowohl Sánchez als auch Bustos die erste Graphic Novel ist, vermeiden die beiden die üblichen Fallen, in denen Autoren von Erstlingen oft geraten. Sie stellen keinen der sechs Protagonisten oberflächlich dar und zeigen viel Gefühl bei der Balance von Wort und Bild. Kein Wort ist verschwendet; jeder Tuschestrich sitzt. Außerdem konnte Sánchez von Erfahrungen profitieren, die er über Jahrzehnte gesammelt hat.
"Ich habe früher Kurzfilme gemacht, habe also schon immer darauf gebrannt, Geschichten zu erzählten. Ich habe auch mal einen Comic angefangen, aber das hat nirgendwo hin geführt. Diese Geschichte war so spannend, so aufwühlend; sie war für mich ein sehr überzeugender Grund, die fantastische Welt der Comics zu betreten."