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Graphic Novel "Venustransit"
Eine zeichnerische Hommage an Berlin

Der deutsch-iranische Zeichner Hamid Eshrat erreicht mit seiner zweiten Graphic Novel "Venustransit" ein neues gestalterisches und dramaturgisches Niveau. Vordergründig erzählt das Buch die Geschichte des jungen Grafikers Ben aus Berlin. Allerdings sind die Schauplätze und die Atmosphäre der Spree-Metropole so präsent, dass die Stadt fast selbst zu einem Charakter wird.

Von Kai Löffler |
    Ein Szene aus "Venustransit": Alltagshektik an der Alexanderstraße.
    Berlin spielt in "Venustransit" eine mehr als wichtige Rolle. (avant-verlag)
    Teheran 1979: Mit der Iranischen Revolution findet das brutale, aber westlich orientierte Regime des Shah von Persion ein abruptes Ende. Hamid Eshrat hat den Umbruch in seinem Comic "Kaiser-Schnitt" festgehalten
    "Wir waren auf dem Rückweg, als uns ein Haufen aufgebrachter Leute anhielt. Sie wussten, dass wir beim SAVAK arbeiten und schleppten uns in die Moschee... Dort wollten sie uns hängen."
    Als Mitarbeiter des Iranischen Nachrichtendienstes müssen Hossein und Aghdas Eshrat immer wieder um ihr Leben fürchten, bis ihnen einige Jahre später mit ihren zwei Kindern die Flucht aus dem Iran gelingt. Ihr Sohn Hamid, inzwischen Mitte Dreißig, erinnert sich an die Zeit davor.
    "Ich bin ja ein Jahr im Iran zur Schule gegangen, und das sind so starke Bilder, die in meinem Kopf auftauchen, also wie wir als Schüler in Reih und Glied da aufgestellt sind und der erste die iranische Nationalflagge in den Händen hält."
    1986 endet die Flucht der Familie in Deutschland. Obwohl Eshrat in "Kaiser-Schnitt" die Geschichte seiner Eltern auf Deutsch erzählt hat, ist der Comic nur in Frankreich erhältlich. Zum einen, weil es dort eine deutlich größere Comicszene gibt als hierzulande...
    "... und ich glaube, dass die deutschen Independent-Verlage sich nicht in den Schatten von "Persepolis" stellen wollten."
    Dieser Schatten war riesig, zumal Marjane Satrapis autobiografische Geschichte über Kindheit im Iran und Exil in Frankreich erst wenige Jahre vorher erschienen war. Nun hat Hamid Eshrat seinen zweiten Comic geschrieben. "Venustransit" beginnt mit einer Beziehung, die in die Brüche geht:
    Julia: "Ben, ich kann nicht mehr. Dein Pessimismus zieht mich total runter. Ich versteh ja, dass dich alles ankotzt, aber dann bemüh dich wenigstens, was zu verändern..."
    Berlin - eine Stadt wird zum Charakter
    Als seine Verlobte Julia aus der gemeinsamen Wohnung auszieht, muss sich der junge Grafiker Ben plötzlich neu orientieren. Der Titel bezieht sich auf den Planeten Venus, der in unterschiedlichen Intervallen - mal zehn Jahre, mal hundert - als schwarzer Fleck sichtbar vor der Sonne entlangzieht. Eshrat hatte aber noch eine zweite Bedeutung im Hinterkopf.
    "Es ist ja unter anderem auch eine Großstadtromanze, es geht ja um Liebe auch in Venustransit, wie in jeder guten Geschichte. Daher auch Venus, im Sinne von die Liebesgöttin."
    Berlin ist in "Venustransit" mehr als nur ein Hintergrund. Die Schauplätze und Atmosphäre der multikulturellen Metropole sind so präsent, dass die Stadt fast selbst zu einem Charakter wird; sei es durch Zwangskonzerte in der U-Bahn, Graffiti oder Touristen auf der Suche nach der Berliner Mauer. Eine große Rolle spielt auch Musik, und zwar grundsätzlich nur auf Schallplatte.
    Ben: "Mist, das ist nur 'ne Bootleg. Das Label auf der Platte passt auch nicht. Außerdem ist alles so billig gemacht."
    Der ethnische Hintergrund der Hauptfigur dagegen ist in der Geschichte - wie auch in Eshrats eigenem Alltag - eher Nebensache.
    "Also ich bin im Laufe der Zeit eigentlich mehr deutsch geworden. Also es gibt nicht mehr so viel Verbindungen. Meine Familie wohnt natürlich noch in Deutschland, also meine erste Familie, aber im Alltag hab ich nicht mehr so viel mit dem Iran zu tun."
    Persönlich ist die Geschichte allerdings schon. Ben ist eine fiktive Variante des Autors, und Eshrat mischt frei erfundene Elemente mit autobiografischen. Als Ben in der Mitte der Graphic Novel auf eine lange Reise geht, fügt Eshrat statt eines Comic-Kapitels ein Faksimile von Bens Skizzenbuch ein...
    Hamid Eshrat: "Also man ist viel näher an ihm dran, wenn man sein Skizzenbuch sieht und das, was ihn bewegt, und die Zeichnungen, die er da auf der Reise macht, als wenn ich die Orte aufgezeichnet hätte, oder... letztendlich ist dieses Interludium auch so 'ne Art Katharsis."
    Nicht nur ist dieses Zwischenspiel ein wichtiger Wendepunkt für den Charakter; hier verschwimmt auch endgültig die Grenze zwischen Fiktion und Autobiografie. Wenige Jahre vorher war Hamid Eshrat selbst in einer ähnlichen Lage wie sein Protagonist Ben und ist auf eine lange Reise gegangen - und das gezeichnete Reisetagebuch in der Mitte von "Venustransit" ist sein eigenes.
    Knapp zehn Jahre liegen zwischen "Kaiser-Schnitt" und "Venustransit", zwei Comics, die kaum unterschiedlicher sein könnten. Der größte Unterschied ist, dass Venustransit nur um einige wenige Hauptfiguren kreist und keine Familiengeschichte erzählt. Es gibt kein Meta-Thema; der Comic ist vor allem Bens gezeichnetes Tagebuch.
    Künstlerisch hat Eshrat in den zehn Jahren große Sprünge gemacht. "Venustransit" ist mit viel Witz erzählt, und die Zeichnungen, größtenteils Bleistift und Kohle, haben viel Charakter. Außerdem baut er gekonnt abstrakte Zeichnungen und surreale Elemente ein - wie den Dialog mit einer menschengroßen Kakalake mit Zigarette im Mundwinkel.
    Bis die Venus das nächste Mal für uns sichtbar vor der Sonne vorbeizieht, dauert es noch 102 Jahre - ganz so lange werden wir auf Hamid Eshrat nächsten Comic sicher nicht warten müssen.