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Graphic Novel von Anna Rakhmanko und Mikkel Sommer
Verschleppt ins Niemandsland

Mehr als 1,2 Millionen Menschen wurden 1941 und 1942 von der Roten Armee aus Osteuropa nach Sibirien deportiert. Die Großtante Anna Rakhmankos, Ljuba, war eine davon. Die Autorin hat die Erinnerungen der 84-Jährigen zusammen mit dem Illustrator Mikkel Sommer in einer Graphic Novel verarbeitet.

Von Thomas Linden |
Das Buchcover von Anna Rakhmanko und Mikkel Sommer (Ill.): „Vasja, Dein Opa“ udn ein Familienfoto von Vasja als kleines Kind
Ein Familienfoto mit Anna Rakhmankos Großvater Vasja als kleiner Junge (Cover Rotopol Verlag / Familienfoto der Autorin privat)
Es klopft an der Tür und im nächsten Augenblick stoßen die Soldaten den Erwachsenen Pistolen in den Nacken. Die Kinder weinen und wenig später sind alle Familien der Nachbarschaft in einen Güterwaggon gesperrt, der sie nach Sibirien deportiert. Es ist ein atemberaubender Rhythmus, in dem die Bilder der Vertreibung in den Tableaus von Mikkel Sommer aufeinander folgen. Beim Betrachten wird man selbst als Geisel genommen und erlebt den Alptraum der verschleppten Menschen in all seiner brutalen Zwangsläufigkeit.
Der dänische Zeichner liefert in seiner Graphic Novel "Vasja, Dein Opa" die Bilder zur Familiengeschichte der Journalistin Anna Rakhmanko, die 1988 in Sibirien geboren wurde und dort auch aufwuchs. Jetzt reiste Rakhmanko noch einmal in den Norden Russlands, um die Erinnerungen ihrer 84-jährigen Großtante Ljuba - der jüngsten Schwester ihres Großvaters Vasja - zu dokumentieren.

30.000 Menschen deportiert

Die Familie lebte in der Bukowina, der Region um das ehemals rumänische Czernowitz, das mit dem Rippentrop-Molotow-Pakt 1939 von Sowjetrussischen Truppen besetzt wurde. Einige Wochen danach setzten ethnische "Säuberungen" ein. Mindestens 30.000 Menschen wurden an die Küsten Sibiriens deportiert. Ljuba erzählt Anna von den grausamen Bedingungen der Zugfahrt, die sie als Kind erlebte:
"Wir wurden sofort in Güterwagen verladen. Sie haben soviele Leute hineingepfercht, wie sie nur reinbekommen konnten. Wir waren lange unterwegs. Es war schwierig, im Wagen zu atmen, da die Notdurft an Ort und Stelle in Eimern verrichtet wurde. Erst später brachen wir zwei Holzbretter aus dem Boden heraus. Unser Platz befand sich direkt neben dem Loch im Boden. Papa hat sich unterwegs stark erkältet. Wir sollten nichts zu essen bekommen. Aber ich erinnere mich, dass sie uns einmal etwas sehr Salziges gaben. Wir Kinder haben geweint, so durstig waren wir."

Der Höllensturz

Wie stellt man solch ein Inferno dar? Mikkel Sommer setzt auf einen expressiven Realismus, der in seiner scheinbar flüchtigen Linienführung vieles offen lässt. Er ist ein Meister der Illustration, der weiß, wie viel Konkretheit ein Bild braucht, und wo er unserer Vorstellungskraft das Feld überlassen muss. Sommer setzt die Bilder unmittelbar aneinander. Das beschert dem Höllensturz, den die Familie erleidet, jene chaotische Stimmung, in der den Menschen die Orientierung genommen ist und auf jede Katastrophe eine weitere folgt.
Der Däne wählt eine rohe Visualisierung, die jedoch nichts dem Zufall überlässt. Sommer löst die Panels - so wie wir sie aus den Graphic Novels kennen - auf. Üblicherweise erzeugt die Rahmung der Einzelbilder beim Betrachten jene Distanz, die uns als Lesende in eine Position der Überlegenheit versetzt. Das Leid der Menschen rückt deshalb in weite Ferne. Ein Problem, das immer wieder in Graphic Novels auftaucht, die sich – wie in den letzten Jahren vermehrt geschehen – etwa mit den Ereignissen in den Konzentrationslagern beschäftigen. Man spürt sofort, dass das Grauen ästhetisch konsumierbar aufbereitet wird und damit jegliche Glaubwürdigkeit verliert. Mikkel Sommer gelingt es, genau diesen Eindruck zu vermeiden. Seine Bilder sind nah an den Körpern der Menschen und wechseln oft die Perspektive, deshalb müssen wir unseren Blick wie eine Optik immer wieder neu justieren. So ähnelt "Vasja, Dein Opa" auch eher einem Bilderbuch als einer Graphic Novel.

Ein Leben wie Gefangene

Vasja stellt für die kleine Ljuba die einzig verlässliche Gestalt in der rauen sibirischen Welt dar, in die es die Familie verschlagen hat. Die Deportierten leben wie Gefangene. Mit seiner Arbeit in der ansässigen Fischindustrie sichert Vasja der Familie nach dem frühen Tod des Vaters das Überleben. Eine neue Situation ergibt sich 1954 mit Stalins Tod, wie sich Ljuba im Gespräch mit Anna erinnert:
"Erst ein Jahr nach dem Tod des ‚Vaters der Nationen' erhielten wir eine Befreiungsbescheinigung. Dein Opa hatte bereits vier Kinder, er kündigte seinen Job und ging in unsere Heimat. Zurück ins Dorf der Bukowina. Aber dort gab es nichts mehr für ihn. Und ohne auch nur ein Jahr in seinem Heimatdorf gelebt zu haben, kehrte Vasja nach Sibirien zurück, in das Dorf Berjosowo, in eine Fischfabrik. Dort wurde sein fünftes Kind geboren, deine Mutter."

Schleier der Schicksalsschwere

Im Anhang können wir auf einem Foto die freundlichen Augen des Großvaters sehen. Was mag es für ihn bedeutet haben, wieder in die Kälte Sibiriens zurückzukehren? Eine Ahnung von seiner Resignation gibt uns Mikkel Sommer mit dem Einsatz von zwei Sonderfarben, in die er Teile des Buchs eingefärbt hat. Sie bestehen aus einem stumpfen Violett, das jede Buntheit erstickt. Diesen Schleier der Schicksalsschwere kombiniert Sommer mit dem Einsatz von Schraffuren, die zumeist von links nach rechts verlaufen und uns eine Vorstellung von der Eintönigkeit des Lebens der Deportierten vermitteln. Wie im System der Straflager des Gulag wurden die Menschen auch hier bewusst dem Vergessen anheim gegeben.
Und dennoch: In den kurzen Sätzen der Großtante, die Anna Rakhmanko in ihrer trockenen Unmittelbarkeit als Text verwendet, bricht sich eine Menschlichkeit Bahn, die alle Leiden und alles Unglück durchdringt. Die Liebe des Großvaters zu den Kindern kommt in einem Wollanzug zum Ausdruck. Den hatte der Großvater aus den Fellhaaren seines großen Hundes geknüpft, und der wärmt auch noch die Enkelin, wie man auf dem Foto eines lachenden Kindes sehen kann. "Vasja, Dein Opa" ist eine der großen Bilderzählungen der vergangenen Jahre.
Anna Rakhmanko und Mikkel Sommer (Ill.): "Vasja, Dein Opa"
Rotopolpress, Kassel. 100 Seiten, 18 Euro, ab 13 Jahren.