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"Grass hat eine Sprachwucht wie kein anderer Autor"

Günther Grass lässt seine eigene politische Intervention zu Willy Brandts Zeiten Revue passieren, sagt Literaturkritiker Denis Scheck unter anderem über "Grimms Wörter - Eine Liebeserklärung" und meint: "Es gibt eine große Poesie der Diktionäre".

Denis Scheck im Gespräch mit Anne Raith | 09.10.2010
    Denis Scheck: Das finde ich ein sehr edles, ein souveränes Verfahren, dass Günter Grass seine Geschichten nicht direkt persönlich erzählt, sondern quasi in Ableitung, dass er also andere Folien sucht – das war eine Fotografin im Falle von "Die Box", das waren die eigenen Kinder, die den Vater sozusagen rekonstruieren ließen, wie im "Beim Häuten der Zwiebel" –, aber nun hat er eben zwei andere Figuren, und zwar Titanen des deutschen Geisteslebens mit Jacob und Wilhelm Grimm gefunden. Er selber spricht vom Grimm'schen Wörterbuch als seinem Hausschatz, und für uns Journalisten im Deutschlandfunk ist das Konsultieren des Grimm'schen Wörterbuchs ja sozusagen Alltag, Routine, das machen wir immer, anders würden wir unsere gedrechselten Moderationen ja gar nicht schreiben können. Ich schau besonders gerne in dem ja inzwischen als CD-Rom verfügbaren Grimm'schen Wörterbuch nach, einfach weil es nicht sich auf die journalistische Sprache bezieht wie der Duden, wo ja sogar Belege aus dem "Mannheimer Morgen" herangezogen werden, sondern die Grimms holen ihre Sprache daher, dieses Wörterbuch bezieht seine Sprache, wo sie herkommt, nämlich aus der Literatur mit den Belegstellen.

    Anne Raith: Aber warum kombiniert Günter Grass seine Geschichte gerade mit der der Grimms und ihrer Zeit?

    Scheck: Weil ihm dieses Wörterbuch besonders wichtig ist, zum einen – er ist ja nun der Mann, der sozusagen auf der barocken Orgel spielt, er hat eine Sprachwucht wie kaum ein anderer deutschsprachiger Gegenwartsautor. Zum anderen aber – und darin ist er natürlich den Grimms verwandt –, es geht um die Geschichte der Göttinger Sieben, es geht um Mut vor Fürstenthronen, es geht darum, dass man eine Verfassung nicht mit den Füßen treten lässt, es geht darum, dass man sich an seine Eide gebunden fühlt, dass man nicht wortbrüchig wird, dass man nicht verrät. Günter Grass ist berühmt dafür, dass er natürlich auch immer ein politisch engagierter Schriftsteller war, und "Grimms Wörter", der dritte Teil der Autobiografie, ist eben der Teil, in der er neben der Geschichte dieses Wörterbuchs und neben der Lebensgeschichte von Jacob und Wilhelm Grimm auch die Geschichte seiner politischen Interventionen Revue passieren lässt – Sie haben es erwähnt. Er wurde ja von Willy Brandt ins Wahlkampfteam damals Anfang der 60er-Jahre geholt, obwohl er ja als Bürgerschreck verschrien war, weil Willy Brandt von ihm sich unverbrauchte Worte erhoffte für den Wahlkampf. Und die hat er geliefert, und so lässt er seine politische Interventionen, sein gesellschaftliches Wirken da noch mal vor seinen inneren Augen aufziehen und bewertet es im Abstand.

    Raith: Wie macht er das, wie webt er sich in die Geschichte, folgen da Teile aufeinander, begegnen sich die drei Männer auch im Buch?

    Scheck: Die begegnen sich, er beschwört in einer großen Inkantation Jacob und Wilhelm immer wieder, er konstruiert auch Begegnungen von den beiden, die nie stattgefunden haben. Er lässt sie zum Beispiel einmal auf Darwin treffen, das ist sehr spannend, auch sehr zeitgenössisch. Er macht es aber auch – und das ist ja das Geheimnis von Günter Grass – eben durch den Rückgriff auf Zauberformeln, auf Märchen, auf ein Kinderspiel, das im Grunde diesem "Grimms Wörterbuch" zugrunde liegt, nämlich Sie erinnern sich vielleicht aus Ihrer Kindheit an die A-Sprache, an die B-Sprache, an die C-Sprache, der Versuch, durch Alliteration Wörter und Sätze zu bilden, die eben immer mit demselben Buchstaben anfangen. Und er hält sich an die fünf, die zu Lebzeiten der Gebrüder Grimm erschienenen Bände des Deutschen Wörterbuchs und versucht in den jeweiligen Kapiteln lange Assoziationsketten über den Gleichklang der Wörter zu bilden, und dieses sozusagen, dieses Gesetz, diese Verfassung, die er sich gibt, dieses Erschwernis beim Schreiben, das wiederum ist die Form, die diese politische Autobiografie vor der Beliebigkeit rettet und tatsächlich in eine, ja, gebundene Sprache denn führt, die mich sehr überzeugt.

    Raith: Funktioniert denn diese Verquickung, also zwischen den beiden Leben dann die Form, die er wählt? Das Ganze könnte ja auch in einem heillosen Durcheinander enden.

    Scheck: Oh nein! Also er hat ja eine klare Linie da – das ist sicherlich nicht unbedingt Strandlektüre, aber ich finde es den gelungensten, den leichtesten, auch den wortwitzigsten, weil durchaus dem Kalauer offenen Grass, den es seit Langem gab. Ich habe dieses Buch sehr, sehr gern gelesen.

    Raith: "Eine Liebeserklärung" lautet ja der Untertitel des Romans, nicht nur an die Grimms, sondern auch die deutsche Sprache – Sie haben es angesprochen. Würden Sie für eine solche Liebeserklärung gerade ein Wörterbuch auswählen? Weniger poetisch kann man es sich ja kaum vorstellen eigentlich.

    Scheck: Oh, es gibt eine große Poesie der Diktionäre. Was kann es Schöneres geben, als in Wörterbüchern ganz frei von den Fesseln von Sinn zu lesen und sich dem Rausch der Wortmagie hinzugeben, dem Klingen der Vokale, dem Geprassel der Konsonanten? Nein, nein, das hat für mich eine sehr hohe, fast erotische Aufladung. Aber ich gebe zu, dass ich natürlich als früherer literarischer Übersetzer schon immer eine hohe Affinität zu Wörterbüchern besaß.

    Raith: Sie haben es angesprochen, der dritte Teil der Autobiografie von Günter Grass – haben Sie denn beim Lesen irgendetwas erfahren, was Sie vorher noch nicht von Grass, dem Schriftsteller oder dem politischen Beobachter wussten – "Beim Häuten der Zwiebel" rekurriert er ja seine Zeit bei der Waffen-SS – war diesmal etwas Neues dabei?

    Scheck: "Beim Häuten der Zwiebel" rekurriert er nicht nur seine Zeit bei der Waffen-SS, das ist nun wirklich die kleinste Nebensächlichkeit in dem Buch, es taucht auch sehr nebensächlich in "Grimms Wörter" das Einschwören auf Führer, Volk, Reichsführer SS und so weiter auf. Nein, ich hab sehr viel Neues erfahren, zum Beispiel eine Stelle erfahren, das war mir neu, dass er in den 70er-Jahren – Eppler war da Entwicklungsminister in Deutschland, in der Bundesrepublik – mal versuchte, ein Entwicklungshilfeprojekt in Afrika aufs Gleis zu setzen, und er ist damit gescheitert, einfach weil er die Komplexität der politischen Verhältnisse in Afrika völlig unterschätzt hat, mit ihm auch die anderen Gutmenschen sozusagen der Zeit. Das war eine durchaus spannende, lehrreiche Geschichte. Aber das wirklich Neue, das man hier erfahren kann, liegt natürlich in der ästhetischen Formung des Materials, sonst wäre man ja mit einer Biografie über Günter Grass, die es ja auch gibt, vielleicht besser beraten, oder mit dem schnöden Lesen des Munzinger-Archivs.

    Raith: In "Grimms Wörter" schreibt Grass über Grass am Ende: "Verschrien als Rechthaber, Besserwisser, Moralapostel sehe ich mich, bespuckt und verhöhnt und missachtet." Ist das die Rolle, die er wirklich spielt oder die er vielleicht spielen möchte?

    Scheck: Nein, überhaupt nicht, das ist bilanziert, eine Niederlage sozusagen, als er sich nicht mehr so wahrgenommen fühlte nach Veröffentlichung von "Beim Häuten der Zwiebel", ich glaube, von diesem Tiefschlag hat er sich längst erholt. Das ist eine Rolle, die er spielen kann. Aber sehen Sie, wenn das ein Schwanengesang ist, dann muss man ja auch auf die Schönheit des Gesangs dieses Schwans achten, denn in seiner Makellosigkeit ist dieser von Ihnen zitierte Satz "verschrien als Rechthaber, Besserwisser, Moralapostel" und so weiter ja nicht sehr viel anders zu lesen als im Grunde die Unabhängigkeitserklärung der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, jener berühmte Satz, mit dem die Blechtrommel beginnt: "Zugegeben: Ich bin Insasse einer Heil- und Pflegeanstalt", auch dieser Oskar Matzerath saß ja in einer Anstalt, wenn auch nicht in einer öffentlich-rechtlichen wie wir.

    Raith: Günter Grass wird in diesem Oktober 83, dieses Buch, sagt er, könnte sein Vermächtnis sein. Wäre es denn ein Würdiges?

    Scheck: Na, gut, darüber will ich nicht spekulieren, weil das ja immer Wetten auf sozusagen die Produktivität des Autors ist. Aber ich glaube schon, wie gesagt, ich habe es gern gelesen.


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