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Grass ist keine "moralische Instanz"

Günter Grass sei als ehemaliger Angehöriger der Waffen-SS nicht in der Position, Israel geschichtspolitischen Nachhilfeunterricht zu geben, sagt der Historiker Michael Wolffsohn. Grass' Gedicht handele vom Verschweigen - dabei habe der Schriftsteller 61 Jahre lang seine eigene Vergangenheit verheimlicht.

Sandra Schulz sprach mit Michael Wolffsohn |
    Sandra Schulz: "Was gesagt werden muss", gerade darüber kann man so gut streiten, eine Woche, nachdem die Israel-kritischen Zeilen von Günter Grass erschienen sind. "Was gesagt werden muss" – von Marcel Reich-Ranicki haben wir ja gelernt, dass es kein Gedicht ist -, über das sogenannte Gedicht ist inzwischen viel gesagt worden und dann wieder bestritten, dass das wiederum hätte gesagt werden müssen. Das israelische Einreiseverbot zum Beispiel ist seinerseits auf Kritik gestoßen. Aber zumindest auf diese Wortäußerung haben wir in den Nachrichtenagenturen zumindest heute Morgen noch keinen Widerspruch gefunden. Die Schwedische Akademie sieht keinen Anlass, Günter Grass den Literaturnobelpreis abzuerkennen. Was lernen wir aus der Diskussion, die uns jetzt seit einer Woche beschäftigt? – Das wollen wir in den kommenden Minuten weiter einzuordnen versuchen und am Telefon ist der Historiker Michael Wolffsohn. Er ist Professor an der Universität der Bundeswehr in München und Leiter der deutsch-jüdischen Forschungsstelle. Guten Morgen!

    Michael Wolffsohn: Guten Morgen, Frau Schulz.

    Schulz: Jetzt läuft die Debatte wie gesagt seit rund einer Woche nach wie vor durchaus hochtourig. Was können wir daraus ableiten über das Verhältnis zwischen Deutschland und Israel?

    Wolffsohn: Dass es spricht aus beiden Bevölkerungen. Das gilt für die bundesdeutsche Bevölkerung, wenn ich mir in den Blogs oder den Online-Ausgaben der Zeitungen die Reaktionen anschaue und auch die sogenannten Umfragen, die Fernsehanstalten durchführen, Zustimmungsraten von circa 70 bis 80 Prozent für Günter Grass, und in Israel, wenn man sich mit diesem Thema beschäftigt, denn Deutschland ist nie im Mittelpunkt der israelischen Diskussion, dann kommen auch Ur-Reaktionen, was hat uns ein Deutscher des Jahrgangs 1927, der sich freiwillig zum Kriegsdienst gemeldet hat, als moralische Instanz zu sagen. Und was deutsche Reaktionen betrifft: nicht nur die Zustimmung ist beunruhigend, sondern auch wenn ich mir die Mails und Post ansehe, die ich persönlich bekomme - als mit oder ohne Anführungszeichen deutscher Jude, da kommt doch eine beängstigende braune Jauche, die ein Mann wie Günter Grass sicherlich nicht provozieren wollte, aber sie ist da und das sind Anlässe. Das ist meine erste Lehre, es spricht also aus den Menschen in beiden Staaten. Und zweitens erleben wir eine Kampagne wie sehr viele, ich meine das völlig wertfrei in Bezug auf Kampagne, bis die nächste Sau durchs Dorf gejagt wird, ob berechtigt oder nicht. Wir warten auf die nächste Kampagne.

    Schulz: Jetzt hat es ja mehrere Punkte gegeben, die auch konkret die Diskussion noch mal angeheizt haben. Dazu hat auch das Einreiseverbot gehört, das gegen Grass verhängt wurde. Sie haben das auch verteidigt, dieses Einreiseverbot. Aber ist das eine überzeugende Art der Auseinandersetzung, Kritiker nicht einreisen zu lassen?

    Wolffsohn: Es geht ja nicht um Kritik. Israel ist eine geradezu öffentlichkeits- und diskussionssüchtige Gesellschaft, was man von dem intellektuell etwas unterbelichteten Innenminister des Landes nicht gerade sagen kann. Aber auch hier: Es spricht aus ihm, es spricht aus der Bürokratie, wir können uns, auch wenn wir intellektuell nicht in der Lage oder willens sind, darüber zu diskutieren, von jemandem historischen, geschichtspolitischen Nachhilfeunterricht geben lassen, der ein sogenanntes Gedicht schreibt, das vom Schweigen und Verschweigen spricht, der aber selber 61 Jahre lang seine Vergangenheit verschwiegen hat. Wie immer man zu dieser Vergangenheit steht – ich kann nicht diejenigen, die verschwiegen haben, anklagen und selber verschwiegen haben. Diese Doppelbödigkeit, die ist nicht akzeptabel, und daher spricht es auch aus einem Mann wie dem israelischen Innenminister, der alles andere als eine Geistesleuchte ist.

    Schulz: Aber noch mal die Frage: Sie haben das Einreiseverbot ja wie gesagt verteidigt. Warum sind all diese Kritikpunkte denn ein Argument dafür, Günter Grass nicht mehr einreisen zu lassen?

    Wolffsohn: Um zu signalisieren, von einem Mann, der in der Waffen-SS war, freiwillig sich in den Kriegsdienst gemeldet hat, wie in seiner Autobiografie auch steht – in der Meldestelle wird ihm gesagt, nur keine Ungeduld, Jungchen, euch holt man noch früh genug -, es konnte ihm gar nicht schnell genug gehen, und dieser Mann hat verschwiegen, wie er und warum er und wo er gedient hat, und nun redet er davon, dass man nicht mehr schweigen kann, er selber hat geschwiegen. Also hier kommen Ur-Reflexe in Israel und in der jüdischen Welt zur Geltung, und insofern ist der Innenminister, wie gesagt keine Leuchte, durchaus das Sprachrohr für die Gefühle, die es auf der jüdischen Seite gibt.

    Schulz: Wenn wir versuchen, diese Gefühle noch weiter zu sortieren oder einzuordnen – ich möchte gerne noch mal zurückkommen auf die Reaktion des Zentralrats der Juden aus der vergangenen Woche. Der hat Günter Grass Antisemitismus vorgeworfen, er habe ein aggressives Pamphlet der Agitation verfasst. Was wäre denn passiert, wenn Dieter Graumann gesagt hätte, schulterzuckend, wir haben Kunstfreiheit in der Bundesrepublik, kümmert mich nicht?

    Wolffsohn: Es geht nicht um den Künstler und die Kunst, sondern es geht um ein Ursignal, dass jemand, der wie gesagt diese Vergangenheit hat, darüber geschwiegen hat, sich zur moralischen Instanz emporhebt. Und wenn das Thema Holocaust aufkommt und wie gesagt von jemandem, der - Stichwort Waffen-SS - dabei war, dann gibt es keine rationale Diskussion mehr. Wir können eine rationale Diskussion führen, Dieter Graumann tut das übrigens deutlich besser und ruhiger, ausgewogener als seine Vorgänger. Aber in diesem Fall ist die generationelle Größe ein wichtiger Faktor und die, sagen wir mal, ambivalente Vergangenheitsbewältigung eines Mannes wie Günter Grass.

    Schulz: Aber die Frage bleibt: Wie muss Kritik an der israelischen Regierung, an der israelischen Politik, auch an der Atommacht Israel aussehen? Wie muss die daherkommen, damit sie nicht als antisemitisch degradiert wird?

    Wolffsohn: Wenn es um die Frage der Atommacht geht, dann muss man strategisch, fachlich, politisch, politikwissenschaftlich, journalistisch analysieren, aber nicht mit dem Holzhammer kommen, und Günter Grass versteht zwar viel von der deutschen Sprache, aber nichts von militärischen Dingen.

    Schulz: Der Historiker Michael Wolffsohn, Professor an der Universität der Bundeswehr in München und Leiter der deutsch-jüdischen Forschungsstelle und hier heute zum Interview bei den "Informationen am Morgen". Danke Ihnen dafür.

    Wolffsohn: Ich danke Ihnen.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.