Archiv


Grassroots Democracy vs. Parteiendemokratie

Die Schlacht um den US-Haushalt lähme die Vereinigten Staaten - so lauteten hierzulande die Schlagzeilen. Nein, sagt der USA-Kenner Friedrich Mielke. Der Streit um die Schuldengrenze zeige, dass die USA eine Graswurzeldemokratie seien: Alle Macht gehe vom Volke aus und nicht von den Parteien. So sei auch der große Einfluss der Tea-Party zu erklären.

Friedrich Mielke im Gespräch mit Rainer B. Schossig |
    Rainer B. Schossig: Kurt Gödel wollte damals schon beweisen, dass auch ein Zweikammernsystem der Vereinigten Staaten nicht gefeit davor sei, als Sprungbrett für Diktatur zu dienen, und wer heute auf die USA blickt, der könnte dem spontan fast zustimmen, ist doch die Selbstzerstörungskraft dort so greifbar wie selten zuvor – und dabei ist mit dem heute zum Entscheid stehenden Kompromiss über die Erhöhung der Schuldenobergrenze nur eine Schlacht im Haushaltskrieg gewonnen. Es geht doch sichtlich anscheinend nicht nur um Geld-, Steuern- und Haushaltssorgen, sondern es geht auch um die politische Kultur Amerikas. Das habe ich Friedrich Mielke, den Amerika-Kenner, gefragt: Die USA, war meine Frage – eine gespaltene Nation unter Paralyse? So und ähnlich lauten ja die Schlagzeilen bei uns heute.

    Friedrich Mielke: Nein, nein, warum denn Paralyse? Es hat Diskussionen gegeben, es hat aufgeregte Diskussionen gegeben, und nun ist ein Kompromiss da: Es ist ein Gesetz da, die Schuldengrenze wird angehoben, und es ist ein Kompromiss zustande gekommen, das ist entscheidend. Es geht weiter, natürlich sind die Daten nicht ideal, das Land ist hochverschuldet, die Wirtschaft lahmt, aber von Paralyse würde ich nicht reden. Ich würde von Schwäche reden, von Probleme, vielleicht sogar von Dekadenz.

    Schossig: Über all diese Begriffe muss man natürlich reden, aber ich möchte zunächst über den Kompromiss noch mal reden, Herr Mielke: Müsste es nicht um eine geradezu neue politische Aussöhnung dieses verkarsteten politischen Systems gehen, bevor es einen neuen New Deal geben kann?

    Mielke: Nein, warum eigentlich? Ich meine, in den Vereinigten Staaten haben wir sogenannte Grassroots Democracy, also Graswurzeldemokratie, das heißt, Demokratie von unten: Der Wähler, das Wahlvolk, die Menschen wollen mitbestimmen. Alle Gewalt geht vom Volke aus, "we, the people". Das heißt, eine ganze Reihe von Gesetzen und politischen Initiativen gehen von unten aus, und das ist der Unterschied hier zu uns: Während man drüben sagen wir mal eine Demokratie hat, eine Graswurzeldemokratie, hat man hier eher eine Parteiendemokratie. Spannend ist ja hier an diesem Kompromiss, dass Demokraten dagegen und Republikaner dagegen gestimmt haben. Insofern gibt es keinen Fraktionszwang, und sagen wir mal, des Volkes Stimme von unten in dieser radikalen Tea Party, die hat dann auch eine Möglichkeit. Da kann kein Parteivorsitzender irgendjemandem den Mund verbieten. Also diese Art Grassroots Democracy, wie wir sie in Amerika seit Langem haben, die würde ich eigentlich nicht verändern. Das ist zwar etwas schmerzhaft, manchmal etwas wild und auch ein wenig Wild-West-Manier, wenn man so sagen darf, aber es funktioniert letzten Endes.

    Schossig: Die Leute von der Tea-Party-Bewegung werden ja sogar als Taliban, als politische Taliban bezeichnet, die sich eines gewissen, wie Sie sagen, Graswurzel-Demokratiesystems bedienen, die das eigentlich übernommen haben, weil sie ja eigentlich gar nicht im Sinne des kleinen Mannes argumentieren, sondern die Interessen des ganz, ganz großen Geldes vertreten.

    Mielke: Einmal des großen Geldes, aber auch, wenn ich so sagen darf, eines ganz wichtigen amerikanischen Prinzips, und das heißt: Wir wollen wenig Steuern zahlen und wir wollen einen kleinen Staat. Das ist Konsens, auch bei den Demokraten. Also auch die Demokraten wollen keinen großen Sozialstaat. Amerika ist kein Sozialstaat. Das heißt, diese Tea-Party-Leute – und das mit den Taliban ist eine gute Beschreibung, das sind ja wirklich Freibeuter –, die haben zum Teil Washington ja als Geisel genommen. Das ist ganz schlimm. Nur: Sie sind uramerikanisch in ihrem Glauben daran, dass wir wenig Steuern zahlen und dass der Staat nicht für mich da ist, sondern ich bin für mich selbst da. Das ist was ganz Uramerikanisches. Damit muss man leben, damit musste sich Obama auseinandersetzen, das war sehr schmerzhaft, aber irgendwie hat er es dann doch geschafft.

    Schossig: Das ist aber doch wirklich der Politik gewordene Egoismus, den diese Leute vertreten. Geht das denn mit dem zusammen, was wir nach dem Zweiten Weltkrieg sozusagen als Vorbild lernen konnten bei der Re-education von Amerika?

    Mielke: Ja, bei der Re-education, richtig, aber das heißt doch, "we, the pepole", das heißt doch, Demokratie, das heißt doch, alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Wer ist denn das Volk? Das Volk ist der Kongress, nicht der Präsident, nicht die Regierung, nicht ein Diktator, wie er auch immer heißt, sondern Sie und ich. Das heißt, wir, die kleinen Leute, wir haben das, natürlich, Solidaritätsprinzip in der Politik und Parteizwang, das gibt es nicht, ein gewisser Individualismus, der sich aber in sehr, sehr vielen unterschiedlichen kleinen Gruppen manifestiert. Sie haben in Amerika sehr viele politische Strömungen, Gruppen, Verrückte, links, rechts, Mitte, ich will die jetzt gar nicht einzeln nennen, also von Ku-Klux-Klan über Scientology und wie sie alle heißen, aber irgendwo gibt es immer eine Mitte. Die Vereinigten Staaten hatten keinen Faschismus, keinen Kommunismus und keinen Totalitarismus, daneben aber eine ganz wilde Landschaft von allen möglichen verrückten Gruppen, und unterm Strich hat sich dieses Land so 230 Jahre durchgewurstelt.

    Schossig: Ein schönes Wort. Der Amerika-Kenner Friedrich Mielke über die besonderen Formen der amerikanischen Debattenkultur, bei der es, für Europäer kaum erkennbar, eben doch zu Kompromissen kommen kann.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.