Die italienische Kleinstadt Oulx ist umgeben von einem beeindruckenden Bergpanorama. Zu allen Seiten erheben sich die schneebedeckten Alpen. Doch viele, die hier ankommen, wollen so schnell wie möglich weiter: Flüchtlinge auf dem Weg nach Frankreich. Die Berggipfel sind für sie die letzte große Hürde.
"Wir wollen sie auf die Gefahren aufmerksam machen, die in den Bergen lauern. Wir leben hier und wissen sehr gut, wie gefährlich der Weg ist, vor allem im Winter.
Anwohner helfen mit Kleidung
Sylvia Massara ist eigentlich Französischlehrerin im örtlichen Gymnasium, jeden Mittwoch arbeitet sie ehrenamtlich in der Notunterkunft von Oulx. Ihr Einsatzort heute: ein mit Kartons und Kleidern vollgepackter Raum, die Kleiderkammer.
"Mit der Kleidung und den Erklärungen, die wir ihnen für den Weg geben, versuchen wir die Gefahren zu verringern. Mehr können wir nicht machen. Denn begleiten können wir sie nicht."
Ein junger Mann in Jeans und Turnschuhen betritt den Raum.
"Brauchst du Kleidung für die Berge?"
"Ja, für die Berge, für den Weg nach Frankreich."
"Welche Schuhgröße?"
"Gibt es auch Sportschuhe?"
"Ja, aber durch den Schnee kannst du damit nicht laufen."
"Liegt immer noch so viel Schnee?"
"Ja. Mit Turnschuhen ist es zu gefährlich. Es gibt Leute, die haben in den Bergen Finger und Füße verloren."
Der junge Mann bekommt Schneeschuhe, eine Skihose und dicke Handschuhe. Gleich morgen will er weiterreisen.
"Ich habe Algerien im Oktober 2019 verlassen. Meine Visaanträge für Frankreich waren alle abgelehnt worden. Also habe ich mich so auf den Weg gemacht. Weil die Überfahrt über das Meer zu gefährlich ist, habe ich den Landweg genommen."
16 Monate lang steckte er in Flüchtlingscamps in Bosnien-Herzegowina fest, bevor er einen Weg über die EU-Außengrenze fand. Nun trennt ihn eine letzte Grenze von seinem Zielort: Paris.
Welche Fluchtroute die meisten Chancen verspricht, darüber informieren sich die Flüchtlinge gegenseitig. Die Route zwischen Oulx auf italienischer und Montgenèvre auf französischer Seite wird immer häufiger genutzt. Andere Alpenpässe sind entweder gefährlicher oder werden noch stärker überwacht.
Begleitung auf dem Weg über die Berge
Aber auch hier gibt es immer wieder Zwischenfälle. Mindestens fünf Geflüchtete sind seit 2016 beim Grenzübertritt an Unterkühlung gestorben, dazu kommen etliche Erfrierungen und Amputationen. Deshalb machen sich auf französischer Seite jeden Abend Freiwillige auf den Weg in die Berge, um Flüchtlinge sicher ins Tal zu begleiten und Verletzte zu versorgen. "Tous Migrants" heißt ihre Initiative – "Wir sind alle Migranten."
Baptiste, ein junger Mann um die 30, ist einer der Freiwilligen.
"Ich verstecke mich hier hinter diesem Pfeiler. Da unten ist der Grenzposten. Von hier aus können wir beobachten, was die Polizei macht. Und direkt hier unterhalb kommt auch ein Weg aus Italien an. Den nehmen vor allem die Personen, denen es nicht so gut geht, weil es der leichteste Weg ist."
Auch freiwillige Helfer werden vom Grenzschutz kontrolliert
Startpunkt der Rettungsaktionen ist Montgenèvre, ein auf 1900 Metern gelegener Ski-Ort direkt an der Grenze. Im Minutentakt patrouillieren Gendarmerie und Grenzschutz – mal in Polizeiwagen, mal in zivil. In den letzten Monaten ist die französische Grenzpolizei besonders präsent. Offiziell zur Bekämpfung des Terrorismus und wegen der Corona-Pandemie. Seitdem werden die Freiwilligen von Tous Migrant noch öfter kontrolliert. Im Dezember wurden zwei von ihnen sogar vorläufig festgenommen und wegen Beihilfe zur illegalen Einreise angeklagt. Dabei sind ihre Aktionen eigentlich nicht illegal, zumindest solange sie sich auf französischem Boden bewegen.
Heute schaffen es die Freiwilligen von Tous Migrants, eine afghanische Familie in die nahegelegene Kreisstadt Briançon zu bringen. Auch dort gibt es eine Notunterkunft, die sie aufnimmt. Für vier andere Flüchtlinge geht der Abend weniger gut aus.