Mehr als 50 Millionen Flüchtlinge gibt es weltweit; sie stammen aus Afghanistan, Syrien, Somalia oder dem Sudan, um nur die größten Herkunftsländer zu nennen. Die meisten fliehen innerhalb ihres Heimatlandes oder ins Nachbarland: nach Pakistan, in den Iran oder den Libanon. Nur wenige Hunderttausend machen sich auf den Weg nach Europa, doch die Europäische Union stellt ihnen Barrieren in den Weg: Mauern, Zäune, Drohnen.
Auch die Tatsache, dass rund 20.000 Menschen seit Beginn des Jahrtausends im Mittelmeer ums Leben gekommen sind, ändere nichts daran, dass Flüchtlinge von der EU vor allem als Belastung und nicht als Schutzbedürftige wahrgenommen würden, kritisiert der Jurist Heiko Habbe vom Flüchtlingsdienst der Jesuiten in Berlin:
"Das Absurde ist doch, wir nehmen ja Menschen freiwillig, gerade in Deutschland, in großer Zahl auf, wir haben jetzt 20.000 Menschen im Rahmen eines humanitären Aufnahmeprogramms aus Syrien aufgenommen, im gleichen Atemzug schieben wir Syrer ab in andere EU-Staaten und verhindern wir als EU im ganzen, das Syrer Europa überhaupt erreichen, das ist in keiner Weise konsistent."
Die EU schützt vor allem den Reichtum der Mitglieder
Konsistent, so Kritiker, sei die Politik der EU nur in einem Punkt: Die Solidarität gegenüber den Mitgliedsstaaten scheint wichtiger als jene gegenüber Flüchtlingen aus den Krisen- und Armutsregionen der Welt. Die Europäische Union sei eben nicht nur eine Wertegemeinschaft im ideellen, sondern vor allem im materiellen Sinne, so der Theologe Markus Babo von der katholischen Stiftungsfachhochschule in München:
"Das Problem ist, dass sich jede Form von Solidargemeinschaft, wenn sie sich mal gebildet hat, dazu tendiert, sich nach innen hin abzuschließen, exklusiv zu werden, sich in Club-Form zu organisieren, und in dem Moment wird natürlich jeder, der von außen kommt, Clubmitgliedschaft beantragt, sehr schnell gesehen als möglicher Eindringling, der den eigenen Status, eigenen Wohlstand gefährdet."
Milliardenausgaben für Flüchtlingsabwehr
Um die Zahl der Flüchtlinge, die nach Europa kommen, einzudämmen, hat die EU in den letzten sechs Jahren fast zwei Milliarden Euro ausgegeben, unter anderem für die europäische Grenzschutzagentur Frontex. Die genießt vor allem bei Unterstützern der Flüchtlinge einen sehr schlechten Ruf. Sie schütze die Grenzen anstatt die Flüchtlinge, lautet die Kritik, und scheue nicht davor zurück, Flüchtlinge mit Gewalt davon abzuhalten, europäischen Bodens zu betreten. Ein unhaltbarer Vorwurf, entgegnet der Abteilungsleiter für Einsatzangelegenheiten bei Frontex, Klaus Rösler:
"Es gibt keine Zurückschiebungen auf hoher See oder auf Landgrenzen im Rahmen von Frontex-koordinierten Einsätzen. Wir haben mehrere Mechanismen, auch Grundrechtstraining bei den von uns koordiniert eingesetzten Beamten. Also ich glaube, wir haben mehrere Instrumente und Maßnahmen, mit denen wir zum Ausdruck bringen, dass uns die gerechte und menschenwürdige Behandlung der Schutzbedürftigen im Sinne einer Solidarität am Herzen liegt."
Schleuser missbrauchen die Rettungsaktionen auf dem Meer
Allerdings räumt auch Rösler ein: Die Aufgabe von Frontex ist nicht die Seenotrettung, sondern der Schutz der Grenzen und die Bekämpfung der organisierten Kriminalität - und die habe im vergangenen Jahr zugenommen. Die italienische Regierung habe durch die Operation "Mare nostrum" in den letzten zwölf Monaten zwar über 100.000 Menschen auf dem Mittelmeer vor dem Ertrinken gerettet, doch durch die Aktion hätten auch skrupellose Schleuser Auftrieb erhalten:
"Die Schleuserbanden wissen, dass die italienische Marine 40 Meilen nördlich der libyschen Küste steht. Also man braucht nicht Sprit und Lebensmittel für 200 Meilen bis Lampedusa, sondern man braucht nur bis 40 Meilen, bis die italienischen Schiffe kommen. Satellitentelefon reicht, Schleuser ziehen sich zurück, bleiben an Land, schöne Distanz, es sei denn, die Migranten wehren sich so wie am 11. September, dann sind die Kriminellen da und geben einen shit auf das Leben von Hunderten von Migranten."
2014 wird zum Rekordjahr bei den Mittelmeer-Flüchtlingen
Auch Heiko Habbe vom Flüchtlingsdienst der Jesuiten in Berlin weiß, dass Mare nostrum noch mehr Flüchtlinge dazu bewegt hat, die gefährliche Überfahrt über das Mittelmeer auf sich zu nehmen. Doch die Schleuser seien nicht der Hauptgrund für die vielen Toten auf dem Mittelmeer:
"Man kann es in der Praxis nicht bestreiten. Wir haben in diesem Jahr einen Rekord an Todesfällen im Mittelmeer gehabt, wir haben in diesem Jahr eben auch einen Rekord an Ankünften, gerade in Italien gehabt, insofern muss man schon feststellen, dadurch, dass Italien mit Mare nostrum stärker auf Seenotrettung gesetzt hat, ist es im Umkehrschluss auch dazu gekommen, dass mehr Boote losgefahren sind. Aber man darf dabei nicht unbedingt stehen bleiben. So bitter es ist, dass manche Menschen ihr Geschäft mit der Not der Menschen machen, muss man doch fragen, wie entsteht diese Not. Und diese Not entsteht erst einmal, dass es keine Wege gibt, sicher nach Europa zu kommen."
Sind die Menschen aufnahmebereiter als die Politik?
Doch diese Wege braucht es, darin sind sich viele in Flüchtlingsfragen engagierte Beobachter einig - und zwar nicht nur für Flüchtlinge, die wegen Krieg oder Verfolgung ihre Heimat verlassen, sondern auch für Migranten, die sich in Europa ein besseres Leben erhoffen. Damit liegt der Ball wieder bei der Europäischen Union - und der Frage, wie es um die Solidarität mit Menschen bestellt ist, die Schutz in der EU suchen. Besser als viele Politiker denken, ist der Politikwissenschaftler Steffen Angenendt von der Stiftung Wissenschaft und Politik überzeugt:
"Ich glaube, dass die Bevölkerung in Deutschland schon sehr weit ist, und auch bereit ist, mehr für Flüchtlinge zu tun, mehr zu unterstützen, auch praktisch im nachbarschaftlichen Bereich. Das kann Politik fördern, durch entsprechende Unterstützung, von entsprechenden Initiativen usw. Aber das könnte Politik auch ins Gegenteil verkehren, was jetzt in vielen deutschen Kommunen passiert ist, wo völlig ungeeignete Wohngelegenheiten genutzt worden sind, wo eben nicht mit den Nachbarn gesprochen worden ist und wo nicht versucht wurde, die Hilfsbereitschaft, die ja da ist in der Bevölkerung, eben zu nutzen."