Zu den Blütenträumen des Epochenbruchs von 1989 zählte neben den Hoffnungen auf ein "Ende der Geschichte" oder eine neue "Weltinnenpolitik" auch die konkret anmutende Utopie einer weitgehend grenzenlosen Welt. So galt der Wegfall des Eisernen Vorhangs als symbolischer Ausdruck von wiedergewonnener Freiheit. Der Politologe Wilfried von Bredow erinnert daran, wie diese Versuchung, sich eine Welt ohne Grenzen vorzustellen, in den vergangenen Jahren einer brutalen machtpolitischen Realität gewichen ist:
"Grenzen sind - ich denke mal - so ungefähr in den letzten fünfzehn Jahren wieder sehr viel wichtiger geworden und widersprechen jener Euphorie nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes, als ganz viele Menschen gedacht haben, Grenzen verschwinden jetzt nicht nur in Europa, sondern sie verschwinden eigentlich überhaupt. Das war sehr, sehr voreilig."
Es geht immer um die alten Fragen
Gerade mit Blick auf den schwelenden russisch-ukrainischen Grenzkonflikt stellt von Bredow ernüchtert fest, dass es im Grunde immer um die alten Fragen geht: "Wer hat den Zugriff auf ein bestimmtes Territorium? Wer herrscht? Und wie kann er das hinbiegen, dass diejenigen, auf die zugegriffen wird, dem möglichst auch zustimmen?"
Der frühere Professor für Internationale Politik schlägt zunächst einen weiten historischen Bogen vom Limes mit seinen Wachtürmen im römischen Imperium, der nicht zuletzt für ein kulturelles Gefälle zwischen Zivilisation und Barbaren stand, über die Kolonialgrenzen bis zu den Betonmauern und Stacheldrahtzäunen, die die Menschen am Weglaufen und Ankommen hindern sollen.
Dabei gründet sich die Studie auf drei historisch fundierte Feststellungen: "Erstens: Grenzen sind meist konstruiert und nicht "natürlich"; zweitens: Grenzen gelten nicht auf ewig - und drittens: Es gibt keine vorprogrammierte Entwicklung hin zu einem Verschwinden von Grenzen."
Die Ambivalenz von Grenzen
Wilfried von Bredow stößt in seiner breit angelegten Studie immer wieder auf die Ambivalenz von Grenzen. So zum Beispiel, wenn er die Realität von Schengen analysiert, jenes Abkommens also, das zum hehren Ziel hat, ein Europa ohne Binnengrenzen zu schaffen. Doch die Wirklichkeit ist zwiespältig:
"Das ist wie ein Hologramm, wenn man auf die Binnengrenzen guckt, die ja nicht verschwunden sind. Es ist also nicht etwa so, dass das Grenzbewusstsein auch zwischen den Ländern von Schengenland total verschwunden ist, allerdings, und jetzt kommt die leichte Drehung dieses Bildes, ist der Vorgang, dass man die Binnengrenzen abgewertet hat, einhergegangen mit einer enormen Aufrüstung, Aufwertung der Außengrenzen."
Im Klartext: Hier Schengen, da Lampedusa. Einerseits ein wachsender Bedeutungsverlust von Grenzen, andererseits erleben wir eine Perfektionierung von Grenzüberwachungstechnologien und Kontrollpraktiken, eine Renaissance von Mauern und ein fragwürdiges Asylrecht.
"Im Moment sehen wir, dass gegenüber dieser Öffnung und großen Erleichterung für alle Beteiligten innerhalb von Schengenland, dass dem gegenübersteht eine enorme Erschwerung für alle diejenigen, die noch nicht dazugehören, vielleicht auch nie dazugehören werden, in dieses Territorium überhaupt hineinzukommen."
Gute und böse Grenzen
Ein weiterer Widerspruch drängt sich auf, denn die klassischen Funktionen staatlicher Grenzen verschwinden...:
"...wo die anwachsende internationale Verflechtung und das Aufkommen makroregionaler und globaler Ordnungselemente im Rechtswesen, der Sicherheitspolitik und der Umweltpolitik staatliche Grenzen wirkungslos machen."
So steht die Ambivalenz von Grenzen für Schutz und Repression; sie schotten ab und gewähren freien Zugang. Von Bredow zieht eine moralische Linie: Es gibt gute und böse Grenzen.
"Das Musterbeispiel dafür ist mir in Nordamerika aufgefallen, wo wir zwei Grenzen, die südliche und die nördliche Grenze der Vereinigten Staaten von Amerika haben, die eine ganz, ganz unterschiedliche Geschichte haben."
Während im Norden zu Kanada eine der längsten und zum Teil unsichtbarsten Grenzen existiert, ist die Grenze nach Mexiko wegen befürchteter Migrationswellen aus Lateinamerika in den letzten Jahrzehnten immer unüberwindbarer geworden.
"Das alles ist in den letzten Jahren richtig militarisiert worden, zugleich ist aber der Grenzverkehr auch stärker geworden, sodass der Ausbau an dieser Grenze Millionen und Abermillionen verschlungen hat."
Grenzgenre aus Sachbuch und Bildband
Die lesenswerte Studie des Politikwissenschaftlers von Bredow macht deutlich, dass politische Grenzen auch in Globalisierungszeiten noch lange kein Auslaufmodell sind. Und dies nicht nur aus Gründen der Rückständigkeit. Denn jede noch so menschenfreundliche Behandlung von Flüchtlingen oder Migranten muss darauf achten, dass bestehende Strukturen nicht zusammenbrechen. Und dazu braucht man - Grenzen.
Wie aber sieht eine vertretbare Realität von Grenzen jenseits von supranationaler Illusion und einem Rückfall in den Nationalismus aus? Wilfried von Bredow:
"Was ich mir vorstelle, also alles normativ gesprochen, etwa für die Außengrenze der Europäischen Union beziehungsweise von Schengenland, das wäre eine Asylpolitik und eine Einwanderungspolitik generell, die sozusagen auch für alle Beteiligten transparenter ist. Aber es sollte selbstverständlich auch eine Einwanderungspolitik sein, die so großzügig wie möglich ist."
Bleibt noch der Hinweis, dass das großzügig formatierte Buch mit seiner reichhaltigen bunten Illustration seinerseits ein gelungenes publizistisches Grenzgenre aus Sachbuch und Bildband darstellt.
Wilfried von Bredow: "Grenzen. Eine Geschichte des Zusammenlebens vom Limes bis Schengen". Konrad Theiss Verlag, 192 Seiten, 39,95 Euro.