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Grenzenlos leben

"Berliner Mauer" wurde der Grenzzaun zwischen Lettland und Estland von den Anwohnern genannt. Er durfte passiert werden, aber nicht beliebig oft. Eine Zitterpartie für all diejenigen, die in dem einen Land wohnten, im anderen arbeiteten. Mit der offiziellen Aufnahme der beiden Länder in die Schengen-Zone ist dies nun vorbei. Birgit Johannsmeier hat die Grenze mit dem Bus passiert.

    Samstag früh, 8.20 Uhr am Stadtrand von Valka, einer lettischen Kleinstadt an der estnischen Grenze. Kaum hat der neue Linienbus seine Türen geöffnet, drängeln die wenigen Passagiere ins Warme, um ihre Fahrkarte zu lösen. Keine gewöhnliche Tour, meint der Busfahrer Egon Seftschuk, weil er seine Gäste zum ersten Mal seit 17 Jahren wieder über die Landesgrenze bringt.

    "Ich fahre nach Estland. Von der Rigastrasse in die Gorki-Chaussee und dann sind wir schon in Estland, in Valga. Im Sozialismus konnten wir uns immer frei zwischen Valka und Valga bewegen, wir waren quasi eine Stadt. Aber nach der Unabhängigkeit durfte ich die Staatsgrenze nicht mehr überqueren. Jetzt gehören wir zu den Schengen-Staaten und die Grenze ist wieder geöffnet."

    Ältere Männer und Frauen sind mit großen Einkaufstaschen von Lettland aus zum estnischen Wochenmarkt unterwegs, andere wollen mit Blumen und einem selbstgebackenen Kuchen ihre Verwandten in Estland besuchen.

    "In Estland ist vieles billiger und alle meine Verwandten wohnen dort. Natürlich haben wir einen Pass und konnten sie trotz Grenze treffen. Aber wenn der Pass vollgestempelt war, mussten wir einen neuen beantragen, das dauerte und kostete."

    Der Weg vom lettischen Valka in estnische Valga ist nur wenige Kilometer lang und führt heute an einem leerstehenden Grenzhäuschen vorbei. Vis-à-vis verlief bis vor kurzem ein zehn Meter hoher Stacheldrahtzaun mitten durch die Straße der Freundschaft. "Berliner Mauer", so wurde dieser ehemalige Grenzzaun ganz zurecht genannt, meint Aida Zukowska.

    Denn die Grenze habe ihr Familienleben zur Hölle gemacht. Aida Zukowska ist Lettin. Sie arbeitet in Lettland, wohnt mit Mann und Tochter aber in Estland. Oft habe sie mehrmals am Tag zur Passkontrolle anstehen müssen und war ständig Schikanen ausgesetzt.

    "Der Albtraum passierte kurz vor Weihnachten, im Winter 2003. Ich wollte wie immer von der Arbeit nach Hause fahren. Aber der estnische Grenzer schaute in meinen Pass und schickte mich wieder zurück. Ich sei lettische Staatsbürgerin und dürfte nur 180 Mal im Jahr nach Estland einreisen. Aber dort auf der anderen Seite, hinter dem Zaun, stand meine siebenjährige Tochter und weinte. Ich war verzweifelt, denn ich konnte nicht zu ihr und sie trösten."

    Seit dem Fall der Grenze am 21. Dezember ist für Aida Zukowskas Familie dieser dramatische Vorfall Schnee von gestern.

    Auch Jaceslaw Baskow und seine Frau Elena atmen auf, seit Lettland und Estland der Schengen-Zone beigetreten sind. Elena Baskowa ist eine Russin, die im Sozialismus mit ihren Eltern nach Estland kam. Weil sie bis heute nur wenige Worte estnisch spricht, erhielt sie nach der Unabhängigkeit einen estnischen Nichtbürgerpass. Aber Nichtbürger durften höchsten 90 Mal im Jahr die Grenze passieren. Ein Problem, weil Elena und ihr Mann Dmitrij Wohnung und Arbeit auf der lettischen Seite haben.

    "Die Grenze hat uns immer in Atem halten. Unsere Kinder waren oft krank, aber Elena musste arbeiten und die Kleinen zur Oma nach Estland bringen. Wir hätten in Lettland eine Aufenthaltsgenehmigung beantragen müssen, aber die kostete 180 Euro, soviel Geld hatten wir nicht. Also lebte ich ab Herbst ständig in der Angst, dass Elena nicht mehr zurückkommt, weil sie zum 91. Mal über die Grenze will. Jetzt können wir endlich ruhig leben, wie überall in Europa."

    Nach knapp 20 Minuten hat der Busfahrer Egon Seftschuk den estnischen Markt in Valga erreicht. Die nächste Tour startet um 10.20 Uhr, dann ist er erst wieder am kommenden Samstag im Einsatz.

    "Ich möchte gerne auch werktags starten, wie früher im Sozialismus. Der Bus muss viel öfter fahren, damit auch die Leute aus Estland ihre Verwandten in Lettland besuchen können. Es fragen mich ganz viele, das Interesse ist da und die Leute sind zufrieden. Wir müssen den Fahrplan nur erweitern."