Schüchtern stehen die beiden jungen Männer in der Kleiderkammer in Irún. Freiwillige Helfer haben sie am Vorabend am Busbahnhof aufgelesen, jetzt schiebt eine resolute Frau sie vor die deckenhohen Regale, auf denen sich Pullover, Jeans, T-Shirts, Turnschuhe stapeln.
Die beiden sollen sich aus den Spenden der Bevölkerung neu einkleiden, ihre dünnen Baumwollpullis und Trainingsjacken taugen nicht für den baskischen Winter.
Ein paar Minuten später sitzen sie, neu eingekleidet, auf dem Rathausplatz und wärmen die Hände an einem Plastikbecher mit heißem Kakao. Jeden Tag kommen ein bis zwei Dutzend Migranten in das baskische Grenzstädtchen. Bei "Irún Acoge" bekommen sie neben Essen und Kleidung auch Informationen.
Jon Aranguren, Mitbegründer der Bürgerinitiative, breitet einen Stadtplan aus, fährt mit dem Finger über den eingezeichneten Fluss: die Grenze zum Nachbarort Hendaye. In Frankreich. Dorthin wollen fast alle. Die Migranten – überwiegend junge Männer zwischen 15 und 20 - stammen aus dem französischsprachigen Afrika. Sie kamen in den letzten Wochen mit dem Schlauchboot nach Spanien, über die Meerenge von Gibraltar. Einfach sei das nicht gewesen, sagt Abdul, einer der beiden Jungs aus der Kleiderkammer.
Besonderer Schutz für Minderjährige
Zunächst die Reise von seinem Dorf in der Elfenbeinküste nach Marokko, dann wartete er mehrere Tage in den Wäldern der Hafenstadt Nador. Am vierten oder fünften stieg er frühmorgens mit 60 anderen auf ein Schlauchboot. Vier Stunden später zog ihn die spanische Seenotrettung aus dem Wasser.
Wer illegal nach Spanien einreist und kein Asyl beantragt, wird von der Polizei registriert und bekommt dann eine Vereinbarung zur Ausreise zur Unterschrift vorgelegt. Theoretisch könnte ein Richter auf dieser Grundlage die Migranten in ein geschlossenes Internierungslager überweisen und ein Abschiebeverfahren einleiten. Doch dafür fehlen die Kapazitäten. Stattdessen nehmen sich NGOs wie das Rote Kreuz der Migranten an, bieten einen Schlafplatz und Notversorgung. Abdul ist 15. Als Minderjähriger untersteht er besonderem Schutz und wurde in ein Heim überwiesen.
Dieser Beitrag gehört zur fünfteiligen Reportagereihe "Grenzerfahrung Pyrenäen - Neue und alte Fluchtrouten zwischen Spanien und Frankreich" in der Sendung "Gesichter Europas".
Doch dort seien die Betreiber gemein zu ihm gewesen. Nach zwei Wochen packte er sein Bündel und fuhr mit dem Bus Richtung Norden. Am Weggehen gehindert hat ihn niemand. Die meisten NGOs wissen, dass auch die ganz Jungen irgendwann ihr "persönliches Migrationsprojekt" weiterverfolgen.
Abdul hat einen Cousin in Paris, zu ihm möchte er.
"Ich will zur Schule gehen und Fußball spielen. Bei mir zuhause kann nur studieren, wer viel Geld hat und selbst dann hat man nach zehn Jahren vielleicht ein Diplom, aber keine Arbeit. Ich will in Frankreich studieren. Aus mir soll jemand werden, damit ich meiner Familie helfen kann."
Frankreich - so nah und doch so fern
Auf dem Handy zeigt Abdul das Foto eines kleinen Mädchens mit einem Teddybären im Arm: eine seiner beiden Schwestern. Die 2.500 Euro für die Reise hat ein Bekannter der Familie geliehen, erzählt er. Er will, dass die Investition sich lohnt.
"Auf geht’s, Jungs", sagt Jon und mahnt zum Aufbruch. Eine Vierergruppe will es über die Grenze versuchen, mit der Ausflugsfähre. Abdul stopft den kleinen Rucksack und einen Pulli unter seinen Anorak, reibt die Hände aneinander und holt tief Luft. Er ist etwas nervös. Einen gescheiterten Versuch hat er bereits hinter sich – mithilfe eines Schleppers.
"Als wir gestern am Busbahnhof angekommen sind, stand da ein Mann aus Algerien und hat gesagt, er bringt mich und einen Freund für 100 Euro Person bis nach Bayonne. Jeder von uns hat ihm 100 Euro gegeben. Dann ist er mit uns zum Bahnhof von Hendaye gefahren, hat gesagt, er besorgt Benzin und ist raus aus dem Auto. Zehn Minuten später war die französische Polizei da und hat uns zurückgebracht."
Ein junger Mann von der Bürgerinitiative drückt Abdul 20 Euro in die Hand - Transportgeld für alle vier - und prägt ihnen den schnellsten und sichersten Weg zum Regionalbahnhof ein: "Am besten ihr bleibt zu zweit, in der Gruppe fallt ihr zu sehr auf." Die vier bedanken sich, gehen rasch den Steg herunter und setzen sich auf die Rückbank der kleinen Fähre. Sie sind die einzigen Passagiere. "Die haben keine Chance, drüben schnappt sie gleich wieder die Polizei", murmelt kopfschüttelnd der Kapitän und legt ab.
Tatsächlich steht Abdul drei Stunden später wieder auf dem Rathausplatz. Ein Mann habe ihn am Bahnhof beobachtet. Zehn Minuten später kam die französische Polizei und übergab ihn den spanischen Kollegen. Die hat ihn ein Dokument unterzeichnen lassen und weggeschickt.
Wann der nächste Bus nach Frankreich fährt, will er von einer Freiwilligen der Bürgerinitiative wissen. Die Frau versucht ihn zu überreden, doch lieber noch eine Nacht auszuruhen. Abdul schüttelt energisch den Kopf und stapft zur Bushaltestelle. Ein paar Euro hat er noch übrig, genügend für das Busticket. Im dritten Anlauf will Abdul es nach Frankreich schaffen.