Karl Sommer gehörte zu den ersten Todesopfern an der innerdeutschen Grenze:
"Zuletzt wohnte die Familie mit zwei Kindern im Alter von zwölf und sechzehn Jahren in Haselbach, einer thüringischen Gemeinde im Altenburger Land. Für den 43-Jährigen gehörte es vermutlich zum Alltag, aus der sowjetischen Besatzungszone in die Westzone nach Bayern zu reisen, um dort Glaserzeugnisse gegen stets knappe Lebensmittel zu tauschen."
Am 16. Oktober 1949, nur wenige Tage nach Gründung der DDR, war Karl Sommer mit seinen Begleitern bereits auf dem Weg zurück. Im Wald wurde er von einem DDR-Grenzpolizisten nach mehreren Warnschüssen getroffen und verblutete. Der Griffelmacher gehört zu den vielen, bislang meist unbekannten Toten.
Rund 1.500 Verdachtsfälle haben die Herausgeber Jochen Staadt und Klaus Schroeder für ihr Buch "Die Todesopfer des DDR-Grenzregimes an der innerdeutschen Grenze 1949 -1989" untersucht. Fündig wurden sie in den Überlieferungen von DDR-Grenztruppen und Staatssicherheit, bei Standesämtern, Krankenhäusern und Friedhofsverwaltungen. Sie befragten aber auch Zeitzeugen sowie Angehörige der Todesopfer und nahmen die staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsakten nach 1990 unter die Lupe, auch im Fall von Karl Sommer.
"Die in den 90er Jahren angestrengten Ermittlungen wurden eingestellt, da der damals 17-jährige Schütze bereits verstorben war. Einer der Grenzgänger erinnerte sich in seiner Vernehmung daran, dass es in dieser Zeit 'ums nackte Überleben [ging]. Wir waren uns der Gefährlichkeit des illegalen Grenzübertritts bewusst, aber es war die einzige Möglichkeit, nach dem Kriege zu überleben.'"
Mindestens 327 Menschen starben entlang der Grenze
Von mindestens 327 Todesopfern an der fast 1.400 Kilometer langen innerdeutschen Grenze sprechen die Autoren und widmen jedem in chronologischer Abfolge ein eigenes Kapitel, je nach Rechercheergebnis mit oder ohne Foto, mal kurz, mal ausführlich.
Insbesondere die Übersicht am Ende des Buches mit Todesdatum und -Umständen verdeutlicht, wie sich das Grenzregime der DDR im Laufe der Zeit und mit ihm auch das Sterben entlang des Eisernen Vorhangs verändert hat. Der Politikwissenschaftler Jochen Staadt erklärt, wie es zu den vielen Todesfällen zu Beginn der 50er Jahre kam:
"Die Menschen, die an der Grenze zu Tode kamen in den frühen 50er Jahren waren überwiegend Menschen, die entweder Waren transportiert haben, Waren geholt haben, da wo es billiger war. Das ging sowohl von West nach Ost, als auch von Ost nach West. Und es waren Leute, die besuchsweise die Grenze passiert haben, um Verwandte zu besuchen. Und die dann in Kontrollen gerieten, oder weil sie Schmuggelware bei sich hatten, versuchten zu flüchten, und auf die dann damals schon nach den Schusswaffengebrauchsbestimmungen - nach Warnruf und Warnschuss - gezielt geschossen wurde."
1952 schloss die SED-Führung die innerdeutsche Grenze und baute ein fünf Kilometer breites Sperrgebiet mit einem 500 Meter tiefen Schutzstreifen aus, das nur mit Genehmigung betreten werden durfte und später immer stärker überwacht und militärisch abgesichert wurde.
Arbeiter und Bauern verlassen "ihren" Staat
Im Laufe der 50er Jahre häuften sich Todesfälle, die mit einem Fluchtversuch zu tun hatten. Die Wissenschaftler vom Forschungsverbund SED-Staat der Freien Universität Berlin haben Überraschendes entdeckt:
"Wer waren eigentlich die Flüchtlinge? Das waren überwiegend Arbeiter, Handwerker, Bauern, die geflüchtet sind. Und es waren zu etwa 60 Prozent Männer, wenige Frauen, unter 25. Sie haben ab der Altersgruppe ab 35 immer weniger Flüchtlinge. Und Sie haben eben als Flüchtlinge die herrschende Klasse der DDR, nämlich die Arbeiter und Bauern überwiegend. Es gibt fast keine Akademiker unter den Opfern."
Das Buch beeindruckt durch die persönlichen Schicksale und ist zugleich ein Streifzug durch die eng verzahnte Geschichte von DDR und damaliger BRD. Das jüngste Todesopfer war sechs Monate alt. Emanuel Holzhauer erstickte am 2. Juli 1977, als er von einer westdeutschen kommerziellen Fluchthelfer-Organisation gemeinsam mit seinen Eltern im Kofferraum eines untauglichen Autos über die Grenze gebracht werden sollte.
Doch gab es auch Todesfälle ohne Fluchthintergrund: Betrunkene oder verwirrte ältere Menschen gerieten versehentlich auf ostdeutsches Grenzgebiet. Der bekannteste Fall ist der von Michael Gartenschläger, der beim wiederholten Versuch, von der Westseite aus eine DDR-Selbstschussanlage abzubauen, 1976 erschossen wurde.
Wen zählt man zu den Opfern?
Die Wissenschaftler haben zudem jene Fälle in ihr Buch aufgenommen, die räumlich und ursächlich eng mit dem DDR-Grenzregime zusammen hingen:
"Wir haben einen Kriterienkatalog erarbeitet, wo wir zunächst natürlich die Todesfälle, die durch Gewalteinwirkung von Grenzorganen, von Grenzpolizei oder später von den Grenztruppen entstanden sind, rechnen. Aber wir haben eine Reihe von Suizidfällen durch die ganze Geschichte hindurch, die mit Grenze zu tun haben. Also beispielsweise die Zwangsaussiedlung."
Mit mehr als 10.000 anderen Menschen sollte die Familie Rüger im Juni 1952 bei der staatlich verordneten "Aktion Ungeziefer" aus dem Grenzgebiet zwangsausgesiedelt werden:
"Als Feuerwehrleute die verschlossene Wohnungstür aufbrachen, strömte ihnen Gasgeruch entgegen. In der Küche fanden die Feuerwehrmänner Werner und Hildegard Rüger sowie deren 12-jährigen Sohn Manfred mit aufgeschnittenen Pulsadern vor. Die Hähne des Gasherdes waren geöffnet. Die Familie hatte sich aus Verzweiflung und Angst vor der Zwangsumsiedlung das Leben genommen. Werner Rüger hatte zuvor gegenüber seinem Bruder Günter die Befürchtung geäußert, die Familie werde nach Russland gebracht."
Die während des Dienstes getöteten DDR-Grenzsoldaten wurden bereits in den wissenschaftlichen Untersuchungen zu den Berliner Grenzen vor und nach 1961 zu den Opfern gezählt.
Jochen Staadt und Klaus Schroeder gehen noch einen Schritt weiter: Ihr Buch erinnert auch an jene 44 Grenzer - meist zwischen 18 und 24 Jahre alt, die sich wegen beruflicher Probleme und Überforderung selbst töteten. Anders als im Westen früher wahrgenommen, hätten zahlreiche junge Männer nur mit Widerwillen in den DDR-Grenztruppen gedient, argumentieren die Politikwissenschaftler - und belegen dies mit einer hohen Zahl von Fahnenfluchten.
Klaus Schroeder und Jochen Staadt: Die Todesopfer des DDR-Grenzregimes an der innerdeutschen Grenze 1949–1989.
Verlag Peter Lang, 684 Seiten, 49,95 Euro.
Verlag Peter Lang, 684 Seiten, 49,95 Euro.