Chorprobe im Haus der Völker, ein Kulturzentrum in Narwa. Auf den Stühlen im Raum sitzen ein paar Senioren, einige von ihnen schon sehr betagt. Sie halten einen ukrainischen Liedtext in der Hand, den sie gemeinsam mit der Gruppenleiterin am Klavier einüben.
Einen Raum weiter bietet Alla Matweewa Tee und Whiskey an – gegen die Kälte, draußen schneit es. An den Wänden hängen Urkunden und Dankesbriefe für ihren Einsatz.
Die Rentnerin – halb Russin, halb Estin – leitet im Haus der Völker die "Gesellschaft der slawischen Kulturen". Die Gruppe hat sich der Bewahrung slawischer Traditionen verschrieben. Der Chor gehört auch dazu.
Er ist aber in gewisser Weise auch ein Symbol: für die sowjetische Vergangenheit Estlands und das nicht immer leichte Miteinander, zwischen der estnischen Gesellschaft und seiner russischsprachigen Minderheit.
Alla Matweewa fordert zum Trinken des Whiskeys auf.
Russischsprachige Wähler verärgert über Koalition
Um die aktuelle Situation zu verstehen, muss man zurückschauen. Narwa wurde vom Ende der Sowjetunion hart getroffen, die Textilindustrie ging den Bach runter. Bis heute ist die Arbeitslosigkeit in der Region landesweit am höchsten.
Seit der Unabhängigkeit Estlands wird auch über Unterrichtssprachen und Staatsbürgerschaften diskutiert. Viele Russischsprachige können nicht gut Estnisch, haben nach wie vor keinen estnischen Pass. Die Minderheit ist zum Integrationsthema, zum Politikum geworden.
Dieser Beitrag gehört zur fünfteiligen Reportagereihe "Estland – Die Wende nach der Wende".
Hinzu kommt: Die Zentrumspartei, die von den russischsprachigen Wählern jahrelang viele Stimmen bekommen hat, bildet seit einigen Monaten ausgerechnet mit der rechtskonservativen Partei Ekre eine Regierung. Das ärgert Alla Matweewa.
"Da die Zentrumspartei nun in einer Koalition ist, zu der unter anderem Nationalisten gehören, sage ich als Bürgerin ganz ehrlich: Sie haben die Hoffnungen der Menschen, die für sie gestimmt haben, enttäuscht."
Ekre-Funktionäre haben sich oft kritisch über die russische Minderheit im Land geäußert, sich gegen eine kulturelle und sprachliche Autonomie positioniert.
Vorgängerregierungen wollten Lage in Narwa verbessern
Und Umfragen zeigen, dass die Zustimmung für die Zentrumspartei unter den russischsprachigen Esten schwindet, seit die Partei mit den Rechtskonservativen regiert. Manche Experten befürchten, dass die weitere Integration unter der aktuellen, politischen Konstellation leidet und bereits Geleistetes wieder zerstört wird.
Denn die Vorgängerregierungen in Tallin haben versucht, die Lage der russischsprachigen Minderheit und der Region Narwa insgesamt zu verbessern.
Iwan Sergejew läuft auf eine der alten sowjetischen Fabriken zu. Ein langgestrecktes Firmengelände im Zentrum Narwas. Früher arbeiteten hier Tausende Menschen, heute seien es nur noch einige Hundert, erzählt Sergejew. Der Mittdreißiger ist viel gereist, hat in den USA studiert. Seit gut drei Jahren arbeitet er als Narwas Stadtarchitekt. Dann zeigt er auf einen renovierten Teil der Geländes:
"Wir haben hier das Theater Vaba Lava. Das weiße, dreistöckige Gebäude ist ein Start-up-Inkubator, der erste in Narwa. Hier ist auch die Integrations-Stiftung untergebracht, die vor kurzem erst nach Narwa umgezogen ist, und das Zentrum für Estnische Sprache. Eine interessante Mischung."
"Könnte die Regierung noch mehr machen? Absolut."
Es floss viel öffentliches Geld hierher. Das Sprach- und Integrationszentrum – beides staatliche Einrichtungen – machen die politische Richtung deutlich, die eingeschlagen wurde. Die Estnisch-Kurse werden viel nachgefragt.
"Ich denke, dass der estnische Staat viel macht. Damit stimme ich absolut überein. Wir sehen es an den Zahlen, den Investments, der Resonanz, den steigenden Touristenzahlen. Könnte die Regierung noch mehr machen? Absolut. Diese Region ist noch sehr von der Produktion von fossilen Brennstoffen abhängig, und ich glaube nicht, dass wir genug tun, um die Region davon loszubekommen, oder von der Nadel weg, wie sie hier sagen."
Viele Menschen hier blicken vor allem Richtung Russland
Und auch gesellschaftliche Veränderungen brauchen Zeit. Viele Menschen hier blicken noch immer Richtung Russland. Sie schauen russisches Fernsehen, feiern orthodoxe Feste und wünschen sich mehr Annäherung an den Nachbarn im Osten, wie Alla Matweewa, die im Haus der Völker arbeitet.
Hinzu kommt, dass auch das Job-Problem hier noch nicht gelöst ist: Narwas Bevölkerung schrumpft, die Jungen verlassen die Stadt. Richtung Tallinn und EU. Aber auch Richtung Russland.
"Ich heiße Simon, studiere IT am Narwa College und bin 24."
Das Narwa College gibt es seit 20 Jahren. Hier werden junge Menschen wie Simon ausgebildet, zu ITlern, Sozialarbeitern und vor allem zu Lehrern für bilinguale Schulen, Estnisch und Russisch also. Das College ist auch eines der Projekte, das die Integration von russischsprachigen Esten fördern soll.
Simon erzählt in der Cafeteria, dass das selbst bei der jungen Generation immer noch schwierig ist:
"Es kommt vor allem auf die Eltern an und wie sehr die ihren Willen auf die Kinder projizieren. Ich kenne viele junge Leute, die Estland Richtung Russland verlassen möchten, die hier nicht wählen wollen, nicht Estnisch reden wollen und so weiter. Sie glauben, dass Russland das Richtige für sie ist."
"Ohne Integrationsprogramm stünden wir wieder am Anfang"
Simon stammt selbst aus einer russich-estnischen Familie, er ist extra nach Narwa gekommen, um zu studieren. Er bietet in seiner Freizeit Estnisch-Kurse an, er erzählt von vielen Interessenten.
Dennoch ist er zurzeit nicht besonders optimistisch. Die aktuelle politische Situation, die Regierungsbeteiligung der rechtskonservativen Partei Ekre bereiten ihm Sorgen.
"Wenn die Regierung das Integrationsprogramm für die russischen Muttersprachler stoppt, würden wir wieder ganz am Anfang stehen. Das wäre schlecht. Denn es würde wieder Generationen dauern, die Menschen dazu zu bringen, Estnisch zu lernen, sich zu integrieren."