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Grenzverluste
Die Suche nach Heimat in Zeiten permanenter Migration

Der entwurzelte Flüchtling und der radikale Individualist sind die Hauptfiguren unserer Epoche. Der Flüchtling ist der Homo sacer, der radikale Individualist der Homo faber. Der Eine verlässt seine Heimat und irrt Jahre rechtlos auf der Suche nach neuer Geborgenheit umher; der Andere berechnet seine Heimat und zäunt sie aus Furcht vor dem Homo sacer ein.

Von Christian Schüle |
    Straßenschild "Daheim" vor Fenster mit grünen Fensterläden
    "Heimat ist immer auch das quasireligiöse Vertrauen auf das als vertraut Erfahrene", erzählt der Autor. (Imago)
    Auf der Flucht ist der Flüchtling im Ausnahmezustand. Er ist jenseits der Sphären allen Rechts.
    Er ist von allem ausgeschlossen.
    Die Hauptfiguren unserer Epoche sind der Homo sacer und der Homo faber. Beide sind Menschen mit Leib und Seele, Verstand und Würde. Und doch unterscheiden sie sich fundamental voneinander.
    Der Homo sacer hat nichts außer sich selbst. Er befindet sich in permanenter Rechtlosigkeit. Sein Leben steht stets zur Disposition. Er ist das nackte, das bloße Leben.
    Wer will mich? fragt der Homo sacer.
    Der Homo faber lebt im Raum des Rechts und der Behausung. Sein Leben ist zu jeder Zeit rechtlich gesichert. Er ist ein Mensch der Mathematik und Datensätze, der Organisation und Effizienz. Der Entwurf seines Lebens sieht Messbarkeit und Vermessbarkeit, Rationalität und Kontrolle vor.
    Wer bin ich? fragt der Homo faber.
    Der aus dem römischen Recht stammende Begriff sacer bezeichnet die Doppeldeutigkeit des Heiligen und Verfluchten zugleich. An den Grenzen der Behausung stößt das bloße Leben des Homo sacer auf die souveräne Macht des Homo faber. Der Homo faber ist im Besitz von Heimat. Er lebt behaust, doch sein Schicksal ist die Permanenz: Er ist permanent im Aufbruch, permanent unter Zeitnot, permanent mobil. Permanent gezwungen zu Flexibilität, Kreativität, Kalkulation, Innovation und Individualität. Und permanent souffliert der Geist der Zeit: Du musst interessant sein! Und: Du sollst einmalig sein! Grenz dich ab!
    Kampf um Heimat und Identität
    Der Flüchtling auf der einen und der radikale Individualist auf der anderen Seite sind die Kontrahenten im Kampf um Heimat und Identität. Beide, auf je unterschiedliche Weise, sind auf der Suche nach Identität in Zeiten von Migration und Mobilität.
    Die beiden gegensätzlichen Figuren unserer Epoche aber haben, so scheint es, etwas Fundamentales gemein: Beide haben ihren Geborgenheitsraum verloren.
    Der Homo faber ist ein driftendes Atom: Er migriert durch den Welten-Raum unendlicher Möglichkeiten und muss sich ständig entscheiden, ohne zu wissen, wie und wofür. Er muss ständig scheiden, trennen und Grenzen dort ziehen, wo keine mehr sind. Seine Migration findet innerhalb begrenzter Räume statt, die ihn und seine Behausung schützen.
    Nun rückt der Homo sacer an den Raum des Homo faber heran. Und der Homo faber hält ihn, den Homo sacer, vor und in seinem Raum auf.
    Der Homo sacer definiert sich durch Grenzverlust, der Homo faber durch Grenzkontrolle.
    Geborgenheitssuche und Geborgenheitsverlust
    Die Welt unserer Tage wird beherrscht vom Widerspruch zwischen Geborgenheitssuche und Geborgenheitsverlust. In diesem Kampf stehen sich die Anarchie der Flucht und der Wahn der Überwachung einander gegenüber: vor dem illegalen Zutritt der Letzten Welt in die Erste Welt.
    Die Epoche der Globalisierung ist eine Epoche der Heimatlosen.
    In der Epoche der Grenzverluste konkurrieren zwei große Bewegungen gleichzeitiger Heimatbedrohung: der dauerhafte Transit durch Migration zum einen, der Exzess durch permanente Mobilität zum anderen. Flucht ist die radikalste Form des Transits; Identitätsverlust die wahnsinnigste Form des Mobilitäts-Exzesses.
    Also ist unsere Epoche gekennzeichnet durch drei Paradoxa:
    1. Je globalisierter die Welt gerät, desto kleiner wird sie. Der Öffnung des Raums durch Entgrenzung folgt die Verschließung der Scholle durch Abschottung.
    2. Dem realen Heimat-Verlust migrierender Massen steht der geistige Heimat-Verlust driftender Individuen gegenüber.
    3. Die Nationen der entgrenzten Ersten Welt haben keinen Begriff des Fremden mehr zur Verfügung, weil sie das Eigene zur Abgrenzung der Zweiten und Dritten Welt verloren haben. Je weniger aber klar ist, wer wir sind, desto weniger klar ist auch, was uns fremd ist.
    Tragödie von biblischem Ausmaß
    Das Schicksal des Flüchtlings ist eine Tragödie von biblischem Ausmaß in säkularen Zeiten. In der jüngeren Geschichte Somalias und Syriens beispielsweise wiederholt sich der Leidens- und Fluchtmythos der Israeliten über das Meer.
    Geknechtete Menschen und Völker machen sich auf den Weg in gelobte Länder, deren Bewohner sie nicht haben wollen. Der Weg aus der Versklavung ins ersehnte Reich der Freiheit ist einer der westlichen Urmythen, das alttestamentliche Leitmotiv schlechthin: Rettung durch Flucht, Erlösung durch Hoffnung.
    Aber anders als bei den Israeliten vor 3.000 Jahren ist Somaliern oder Syrern kein Gott gnädig - gerettet werden sie durch die Gnade des Rechts, sobald sie den Boden des Homo faber betreten.
    In Somalia, Jemen, Nigeria, in Syrien, Irak und Afghanistan vereinen sich alle tragischen Konflikte der gegenwärtigen Welt: Krieg, Folter, Mord, Angst, Leid, Gewalt, Hunger, Dürre, Frost - und der Verlust des Obdachs. Die zerbrechenden Länder erleben innere wie äußere Katastrophen: den Krieg der Natur gegen den Menschen und den Krieg des Menschen gegen den Mitmenschen. Nichts von dem, was die Zivilisation mühsam errungen hat, scheint dann mehr von Bestand; der Zirkel aus Gewalt, Leid, Rache und Vergeltung ist geschlossen, und er dreht sich immer schneller.
    Geschätzt 60 Millionen Menschen weltweit sind in diesen Tagen auf der Flucht. Sie leben auf der Straße, in Lagern, in Zeltstädten. Sie ziehen an die Strände, verschiffen sich in der Hoffnung auf Erlösung und wissen nicht - oder wissen sehr wohl -, dass es diesertage womöglich keinen Moses, keinen Retter, keinen Erlöser gibt, der ihnen das Wasser teilt und den Weg ebnet.
    Sterben in der Wüste, Sterben im Meer
    Der Homo sacer verlässt sein Haus und zieht in den offenen Raum ohne Recht. Das Meer ist der rechtlose Raum par excellence. Auf dem Meer ist der Homo sacer bloßes Leben. Er ist nicht einmal Opfer, als Objekt ist er der Gewalt seiner totalen Ausgeschlossenheit ausgesetzt. Diese Gewalt besteht in der nicht sanktionierbaren Tötung, die jeder ihm gegenüber verüben kann.
    Dennoch verlässt er sein Dorf, seine Stadt, sein Haus. Er geht über Tage und Wochen hinweg barfuß und wasserlos durch die Wüsten zum Sammelplatz der Hafen- oder Küstenstädte. Die Städte sind verstopft mit bloßem nacktem Leben, das nach Geborgenheit strebt - auf Pappkartons schlafend, im Straßendreck liegend, die Füße geschwollen. Die Schlepper und Schleuser, jene Wegweiser, mit Hoffnung auf Recht und Raum ihr Geschäft machen, sind oft schwer bewaffnet und brutal: Sie vergewaltigen Frauen, erschlagen Männer, übergießen Alte mit Säure, werfen Babys über Bord.
    Die Einen sterben in der Wüste, die Anderen sterben im Meer.
    Hinter der Grenze wartet auf den überlebenden Homo sacer der entgrenzte Kontinent des Homo faber. In dessen Nationen ist der Flüchtling weitgehend unerwünscht. Er ist ein Konkurrent für jeden Homo faber um Hilfe, um Wohnung, um Arbeit.
    Wenn er ankommt, darf der nun rechtlich behauste Flüchtling nicht arbeiten. Er lebt im Wartestand. Er ist Verfahren und Prozeduren ausgeliefert.
    Der Homo faber konzipiert diese Prozeduren. Er rechnet und berechnet, weil er selbst permanent zur Berechnung gezwungen wird. Sein Wert besteht in der permanenten Bewertung durch Andere: durch den anonymen Markt und seine anonymen Konsumenten. Er weiß, dass er zur Abgrenzung gegen den Anderen funktionstüchtig zu sein hat. Und um als funktionstüchtig wahrgenommen zu werden, muss er seine Funktionstüchtigkeit permanent sichtbar machen. Um dann stets sichtbar zu sein, muss er sich wiederum permanent selbst repräsentieren. Und in der Repräsentation seiner selbst muss er sich dauerhaft bewähren.
    In der Dauer-Bewährung der Abgrenzung gegen Alle und den Nächsten brennt der Homo faber aus oder bleibt entleert zurück. Er wird zu seinem eigenen Bezugspunkt. Er dreht sich um sich. Er plant und entwirft, aber er weiß nicht mehr, was von ihm verlangt wird. Er weiß nicht, wie er sich von den Anderen noch unterscheidet.
    Marsch der Millionen wird nicht enden
    Der Wert der Homofaber-Welt besteht in dem, was sich messen, zählen, kumulieren und dividieren lässt.
    Unmessbar, unzählbar, unteilbar sind die Massen der Migranten; sie entziehen sich der mathematischen Vermessung. Bricht wieder ein Land in sich zusammen, spaltet sich wieder eine Nation, trocknen wieder Regionen aus, herrschen wieder Wassernot, Dürre, Hunger, Hitzewellen, Umweltkatastrophen, wird wieder die natürliche Behausung zerstört - machen sich wieder Menschen auf den Weg. Der Marsch der Millionen wird nicht enden. Und der Marsch der Klimaflüchtlinge hat noch nicht einmal begonnen.
    Die globalisierte Welt ist die größte, die denkbar ist. Sie selbst hat keine Grenzen mehr. Die Welt ist ihr eigenes Exil geworden. Im Global-Raum einer Weltgesellschaft, durch die hindurch Waren und Ideen digital und analog, jedenfalls grenzenlos migrieren, leben alle Menschen transnational und transterritorial.
    Wo aber in jenem Welt-Raum, der seine Grenzen nicht mehr kennt und seine letzten Schollen umzäunt und bemauert, sind die neuen Behausungen des milliardenfachen Homo sacer zu suchen?
    Die Flucht aus Afrika nordwärts, die Flucht aus dem Nahen Osten westwärts, die Massen-Migration in das Europa des Homo faber ist die größte Herausforderung einer Politik der Menschenrechte überhaupt, denn der Homo sacer ist auf der Suche nach einem Recht auf eine schützende Haus-, Hof- und Wirtschaftsgemeinschaft. Auf einen Geborgenheitsraum. Eine Heimat. Einen Boden. Auf den gelungenen Transit, auf die Transition seiner selbst. Auf die Übersetzung in den neuen Raum.
    Immer schon in der Weltgeschichte sind Grenzen gefallen und neue erstanden - willkürlich, gewaltsam, fremdbestimmt. Ohne Empathie, ohne Verstand, ohne Sinn. Nach Kriegen und Eroberungen, durch Niederlagen und Verträge. Die Verschiebung einer Grenze bedeutet immer den Verlust eines vertrauten Raums. Grenzverluste waren und sind immer: Heimatverluste.
    Menschrenrechtsverbrecher
    Heimat ist immer auch das quasireligiöse Vertrauen auf das als vertraut Erfahrene. Hört das Vertraute auf zu existieren, wird dem Vertrauen der Boden entzogen. Also ist das Leid des Heimat- und des Raumverlusts auch immer eine Kränkung, immer eine Verletzung, immer eine Fraktur der Seele. Wer Anderen die Heimat nimmt, ist ein Menschenrechtsverbrecher, denn in der Heimat hat der Mensch ein Recht auf Behausung. Weil Häuslichkeit das Recht des Menschen auf geschützte Würde ist.
    Als Reaktion auf den drohenden Grenzverlust erfährt der Begriff "Heimat" dieser Tage wieder höchste Wertschätzung und avanciert aufs neue zu einer hoheitlich politischen Kategorie, die von erstaunlich vielen Staaten zur Staatsräson erklärt wird: In Indien, Russland und Ungarn wird die Renationalisierung gesteuert. In Frankreich, Dänemark und den Niederlanden, in Belgien, Österreich und Schweden erstarken nationalistische und rechtsradikale Parteien, deren Ziel im Schutz der Heimat durch Abwehr "des Fremden" besteht. Und innerhalb der europäischen Staaten verschaffen sich nationalistisch getönten Separatisten lautstark Gehör: im Veneto, in Katalonien, im Baskenland, in Schottland.
    Fast überall dort, wo die Welt durch ihre Vergrößerung paradoxerweise kleiner wird, lässt sich der Vormarsch selbstberufener Schollenschützer feststellen.
    "Heimat" war in Deutschland jahrzehntelang ein kontaminierter Begriff, mit dem Geschmack von Blut-und-Boden und Gestank rassistischer Reinheit. Die erlebte Gleichsetzung von Heimat mit Ausgrenzung, Folter, Totschlag, mit Verwesung, Vernichtung, Vertreibung ist das unvergängliche Wahnsinns-Werk der deutschen Nationalsozialisten, die "Volk" geografisch verstanden und auf Raum und Boden beschränkten.
    Die Volksfaschisten haben "der Heimat" ihre Unschuld genommen.
    Heimat ist immer mehr als nur ein zu schützender Raum, Heimat ist immer zugleich politische Philosophie: Eine Philosophie der Identitätskonstruktion, da Identität bekanntlich so komplex wie schwierig zu fassen ist, sich aber so wunderbar für Simplifizierung und Emotionalisierung eignet. Am Begriff "Heimat" hat sich in den vergangenen Jahren ein erstaunlicher Wertewandel vollzogen: Sie wird im heimatvernichtenden Global-Raum zum einhegenden Reservat. Distanzen wachsen, Kontinente öffnen, Räume weiten sich, und wenn alles stürzt und fällt, schwindet und vergeht, eines bleibt gewiss: die Erinnerung an den Ursprung, an die Herkunft auf der Scholle. Der unverrückbare Bezug zur angestammten Parzelle.
    Der Besitz von Heimat ist nicht erwerbbar, nicht verkaufbar, nicht verhandelbar. Ihm gehört die leibliche Verinnerlichung von Ritual, Zeremonie, Duft, von Licht, Aroma und Dialekt.
    Die Geschichte vom Exodus des Homo sacer lehrt den Homo faber, dass Heimat immer dann bedeutsam wird, wenn sie aufgegeben werden muss. Somit wäre Heimat die Chiffre für einen fundamentalen Verlust und zugleich für die Sehnsucht nach ihrer Rückgewinnung. In nahender Zukunft könnte die entscheidende Frage lauten, ob "Heimat" noch an die Nation gebunden ist - oder dies sein soll.
    Die Nation eine fragwürdige Fiktion?
    Aber gibt es "die Nation" überhaupt noch? Oder ist sie eine fragwürdige Fiktion? Was soll der Nation in Zeiten der Grenzverluste zugrunde liegen - die Einheit derer, die auf einer umgrenzten Scholle geboren wurden? Die homogene Gemeinschaft eines analogen Genpools? Die Gruppierung gemeinsamer Wirtschaftsinteressen? Die Rechtsordnung loyaler Bürger?
    Geradezu ewiggültig skizzierte im Jahr 1882 der französische Historiker Ernest Renan in einer legendären Rede an der Pariser Universität Sorbonne, dass weder Rasse noch Sprache noch Religion noch Geografie zur Rechtfertigung der Nation als solcher taugten.
    "Eine Nation ist also eine große Solidargemeinschaft, getragen von dem Gefühl der Opfer, die man gebracht hat - und der Opfer, die man noch zu bringen gewillt ist. Sie setzt eine Vergangenheit voraus, aber trotzdem fasst sie sich in der Gegenwart in einem greifbaren Faktum zusammen: der Übereinkunft, dem deutlich ausgesprochenen Wunsch, das gemeinsame Leben fortzusetzen. Das Dasein einer Nation ist - erlauben Sie mir dieses Bild - ein tägliches Plebiszit, wie das Dasein des Einzelnen eine andauernde Behauptung des Lebens ist."
    Wann ist das gemeinsame Leben gemeinsam? Wer gehört zu welcher Gemeinschaft aufgrund welcher Gemeinsamkeit?
    Bei der instinktiven Abwehr des Nicht-Gemeinsamen sprechen Sozialpsychologen vom "Revier-Reflex" - einer offenbar angeborenen Ablehnung des Fremden, weil der Mensch glaubt, das Eigene werde durch das Fremde kolonisiert. Der anthropologisch begründbare Revier-Reflex etabliert zur Stabilisierung der eigenen Identität ein Regime der Abgrenzung: Jeder richtet sich gegen Jeden ein und Jeder wird zum Fremden erklärt, bis er über die Zeit hinweg Teil des Eigenen wird. Bis ein neuer Fremder das Revier betritt und von den Eigenen abgewehrt werden muss.
    Anthropologische Konstanten
    In seinem Essay "Die große Wanderung" spürte Hans-Magnus Enzensberger diesem Phänomen im Jahr 1992 nach:
    "Gruppen-Egoismus und Fremdenhass sind anthropologische Konstanten, die jeder Begründung vorausgehen. Ihre universelle Verbreitung spricht dafür, dass sie älter sind als alle bekannten Gesellschaftsformen."
    Ließe sich vor diesem Hintergrund denn nicht auch eine ganz andere Definition von Heimat und Gemeinschaft, ja: von Heimatgemeinschaft finden? Vom irischen Historiker Benedict Anderson stammt die denkwürdige Überlegung, die Nation sei eine "vorgestellte Gemeinschaft" - vorgestellt als geistiger Akt einer künstlich konstruierten Annahme.
    "Vorgestellt ist sie deswegen, weil die Mitglieder die meisten anderen niemals kennen, ihnen begegnen oder auch nur von ihnen hören werden, aber im Kopf eines jeden die Vorstellung ihrer Gemeinschaft existiert."
    Alle drei Überlegungen auf einen Nenner gebracht beglaubigen die Aussage: Nationen sind geografisch eingegrenzte Fiktionen, die den natürlichen Abwehrreflex institutionalisiert haben.
    Aber stimmt das auch heute noch?
    In Zeiten der Globalität nehmen die Möglichkeiten zur Grenzziehung kontinuierlich ab, weil der Raum immer größer wird. Was also geschieht mit dem anthropologischen Revier-Reflex, wenn es keine souveränen Räume mehr gibt?
    Radikalisierung des Revier-Reflexes
    Heimat als vorgestellte Gemeinschaft führt im Fall des Homo faber zu einer Radikalisierung des Revier-Reflexes. Der Reflex wird rationalisiert und als politische Abgrenzung bewusst gemacht. Die Revierschützer behaupten, dass seit Anbeginn der Menschheit jede Gesellschaft definiere, wer zu ihr kommen dürfe und wer nicht. Auf der Basis dieser hoheitlichen Entscheidung lautet beispielsweise die Erzählung der sogenannten "Montagsdemonstranten" in Dresden, Leipzig und sonstwo in der Epoche von Flucht und Migration kurz und bündig: "Heimatschutz"! Raumschutz! Nationschutz!
    Die Raumschützer versuchen, "ihre" Nation als etwas Genuines, Natürliches, Naturgemäßes zu begründen und berufen sich dabei auf kulturelle Traditionen. Der revier- und raumschützende Homo faber bestimmt den Preis der Behausung und knüpft das nackte Leben des Homo sacer an ökonomische Berechnungen. Also fragt er, wieviel dieser und jener Homo sacer dem Homo faber bringt, wieviel die Beherbergung des Sacer auf der Heimatscholle ihn, den Faber, kostet. Dem anthropologisch eingeschriebenen Abgrenzungs-Antagonismus folgt eine ökonomische Rationalität, die mit kulturellem Erbe begründet wird. Sie stellt die Frage der Epoche anders: Welches Fremde bringt dem Eigenen den größten Nutzen?
    In den vergangenen Jahren hat in den Nationen des Homo faber eine erstaunliche Werteverlagerung stattgefunden. Auf dem bisherigen Höhepunkt der Virtualität - der Entkopplung von Produkt und Wert, von Boden und Umsatz, von Topos und Mythos - entdeckt der Mensch der permanenten Mobilität und Fabrikation, der Künstlichkeit und Kontrolle, die reine, nackte, bloße Materialität der Natur für sich. Seine Landlust treibt den Homo faber in die Wälder; durch Ausstieg und Auszeit entsagt er dem Diktat der Zeitnot. Heimatvereine zelebrieren Folklore, Trachten werden Mode und regionale Musik feiert immense Erfolge. Der rasanten Beschleunigung stellen sich slow cities entgegen, und traditionelle Zeremonien bei Hochzeit und Taufe erlangen wieder große Wichtigkeit. Auf den Verlust der Grenze folgt die Kontraktion, auf das gigantische Netzwerk die Scholle, auf die Kultur globaler Ketten der Protest sozialromantischer Gruppierungen.
    Identität in der Epoche der Grenzverluste
    An dieser Stelle wäre also eine ganz andere Frage zu stellen, jene nämlich, ob es heute, im Zeitalter der Grenzverluste und des digitalen Wandels, jenes Typs von Fremdheit, gegen den das Eigene konstruierbar ist, überhaupt noch gibt? Gehören wir und der uns begegnende Fremde nicht dem selben raumlosen, zeitlosen, unverorteten, digitalisierten Kommunikationszusammenhang an?
    Es scheint, als wäre die Konstruktion von kollektiven Identitäten zur Unterscheidung des Eigenen vom Fremden insofern fragil und unglaubhaft geworden, als doch die Bilder, Zeichen, Informationen und Kapital frei und unbegrenzt flottieren.
    Und spätestens hier stellt sich eine weitere ganz andere, eine neue verstörende Frage nach neuer Identität in der Epoche der Grenzverluste: Worin besteht Heimat in entgrenzten Zeiten?
    Der künftige Mensch wird sich anders orientieren - er wird Herkunft durch Zukunft ersetzen und Haus und Heiligkeit zusammendenken müssen: Bloßheit und Behausung, Nacktheit und Rechtskleid auf einer höheren Ebene.
    Auf Dauer wird der Kampf des Homo faber gegen den Homo sacer nicht zu gewinnen sein, weil der Homo faber sukzessive ausstirbt und der Homo sacer die Frage nach dem Besitz von Raum und Heimat nicht länger der Mathematik überlässt.
    Die kulturelle Evolution steht vor ihrem nächsten Sprung: über die Nation hinaus, über die Ethnie hinweg, in das hinein, was Gemeinschaft schafft. Könnte nicht die Idee des sogenannten Oikos eine womöglich passende Antwort auf die Grenzverluste der globalisierten Epoche und ihrer Paradoxa sein?
    Der Oikos im antiken griechischen Sinn begreift Heimat als zugleich metaphysisches, rechtliches, soziales wie politisches Obdach in einer regionalen Kooperationsgemeinschaft.
    Die durchglobalisierte Welt ist ein gigantischer Möglichkeits-Raum an nebeneinander gültigen real existierenden Lebensentwürfen und Modellen. Statt begrenzten Nationen wäre doch künftig ein konföderierter Bund an Oikos-Kooperativen denkbar, in denen das Heterogene im biologischen Sinne des Wortes: durch die Mischung und Vielfalt der Gene, zu völlig neuen Organisationsweisen führen könnte.
    Wenn das Wesen Europas in der Synthese diverser Kulturen, Musiken, Moden, Küchen, Literaturen und Menschen über einen sehr langen Zeitraum hinweg begriffen ist, wäre eine neue Identität als "Oikos-Verbund im grenzlosen Transit-Raum" denkbar. Europäisch wäre künftig also nicht die Rettung völkischer Homogenität durch homogene Völker, europäisch wäre die Auflösung der Grenze als Grenze des Homogenen. Und all das könnte als Episode auf dem Weg zur zugegeben schwärmerischen Utopie eines grenzfreien Weltbürgerstaats verstanden werden.
    Geistiges Prinzip einer Kooperative
    In mittelbarer Zukunft, prophezeien manche Soziologen, werden zwei Drittel aller Menschen auf der Welt - Homo sacer wie auch Homo faber - in wuchernden Mega-Cities leben. Das erfordert neue Konzepte für Ressourcennutzung, Verkehr, Wohnraum und sozialen Frieden. Wäre es also hinsichtlich des größten aller Grenzverluste - der Aufhebung der Grenze von Meinem und Deinem - weitaus klüger, öffentliche Güter durch Kooperativen jener organisieren zu lassen, die gemeinsam in einem Geborgenheitsraum leben - unabhängig von ihrer Herkunft, ihrer kulturellen Prägung, ihrer Haut?
    Das geistige Prinzip einer Kooperative ist nicht die Ethnie, nicht das Volk, nicht die Herkunft. Es ist der Verbund. Im Verbund mit inbegriffen sind Verbindlichkeit und Verbundenheit: Recht und Norm. Rechtliche Verbindlichkeit verpflichtet alle auf eine Verfassung, normative Verbundenheit ermöglicht die Beteiligung an dem, was alle betrifft. Jeder hat Teil am Vorhandenen, und jeder bringt das Seine hinein. Der Verbund klassifiziert nicht, teilt nicht ein, grenzt nicht ab. Er ist im besten Sinne: wertschöpfend.
    Seit Jahrtausenden entsteht Kultur in Tausch und Teilung, durch Teilhabe, Teilnahme und kreative Mischung. Der Geldwert spielt dabei erst einmal gar keine Rolle; Geld abstrahiert Tausch und Teilung und repräsentiert allein den Wert, den eine bestimmte Gruppe einem Gut durch Übereinkunft zuweist. Das Gefühl der Gegenseitigkeit, das Bedürfnis, gebraucht zu werden und zu brauchen, eint - nach allem, was die Wissenschaft vom Menschen lehrt - alle Individuen im Welten-Raum.
    Als Vorbild eines Oikos, eines durch Diversität und Mischung entstehenden kooperativen Verbunds, könnten das Allmende-Prinzip der Schweiz oder das Jedermannsrecht in Finnland und Norwegen dienen. Zu allen Zeiten gab es sogenannten "Commons": Wasserverteilsysteme zum Beispiel, mit denen Bauern über die Nutzung des Wassers selbst entschieden wie bis heute auch die skandinavischen Jedermänner das Recht auf Nutzung des ihnen gemeinsamen Bodens haben. Entscheidend ist das Organisations-Prinzip: Jeder im Oikos-Verbund hat und nimmt zu jeder Zeit an den sogenannten "Commons" seines Verbundes teil und sorgt im Gegenzug für Schutz und Reproduktion.
    Eines der maßgeblichen "Commons" unserer Epoche der Unbehausten und Migranten ist das weltweite digitale Netz. Staaten-, nationen- und raumübergreifend wirft es sich über den irdischen Raum, es trennt nicht, es teilt nicht, es ist grenzenlos. Was dem Verbund aus Hardware, Software und Infrastruktur bislang fehlt, ist ein Verfahren zur Regelung von Rechten und Pflichten.
    Je mehr Zäune, desto mehr Schlepper
    Nach Lage der Dinge ist es eine der entscheidenden soziokulturellen, sozioökonomischen, demografischen und politischen Fragen der Zukunft, wie die Menschheit mit diesem Widerspruch umgehen wird. Wie sie die Frage nach Recht und Gerechtigkeit existenzieller Geborgenheit klären wird: Wer darf wo wohnen? Wer hat Anrecht auf welchen Raum? Die derzeit noch verteidigte Raumtheorie des Homo faber verlangt Schutz vor dem Homo sacer, während ebenjener den Schutz vor seiner Ausgeschlossenheit erhofft.
    Mauern bauen, Zäune errichten, Stacheldraht ausrollen sind schon jetzt verlorene Gefechte. Je mehr Zäune, desto mehr Schlepper. Je mehr Grenzen, desto mehr Verletzungen. Das Revier, das die Technik zu beherrschen vorgibt, ist unbeherrschbar und die Zahl derer, die das zu große Revier vor dem Fremden schützen, zu klein.
    Das Recht auf Wasser und das Recht auf Netz sind zwei der Grundpfeiler künftiger Gemeinschaften bei der Transition in eine neue Heimat: in eine Art zweites Maschinenzeitalter, jedoch ohne Muskelkraft und ohne Verfügung über den arbeitenden Körper. Herkunft definiert sich dann nicht mehr über den Boden. Sie definiert sich über den Verbund. Darin verbünden sich Homo sacer und Homo faber, und gemeinsam schreiben sie eine neue Identität fest.
    Der Autor Christian Schüle steht vor einer Fensterwand.
    Christian Schüle, Jahrgang 1970, hat in München und Wien Philosophie und Politische Wissenschaft studiert. Er schreibt für Zeitungen und Radio und ist Autor literarischer und essayistischer Bücher, letzte Veröffentlichung "Was ist Gerechtigkeit heute?: Eine Abrechnung" (Pattloch 2015).