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"Gretchens Untergang"

Die erste Fassung von Goethes Faust entstand noch in der Hochzeit des Sturm und Drang, quasi parallel zum Werther. Statt empfindsamer Innenschau mit Ausrufen, ein nüchtern prosaischer Blick auf die äußeren Verhältnisse und die politisch -kulturellen Bedingungen einer Kindesmörderin. Man könnte den Urfaust im Untertitel auch "Gretchens Untergang" nennen. Am Thalia Theater wurde ergo keine Gelehrtentragödie aufgeführt, sondern ein Frauendrama.

Von Michael Laages |
    Hinter dem "letzten Feuer" in Hamburg und Kafka in München, diesen beiden Vorjahres-Meister-Stücken des Theater-Erfinders Andreas Kriegenburg, bleibt der "Urfaust", den er jetzt am heimischen Hamburger Thalia Theater vorstellte, sonderbar fahl und flau. Das liegt unter anderem an der zentralen Idee, die der Regisseur zu verdeutlichen versucht - deutlicher noch als die ausgearbeiteten beiden Teile des Klassikers liest Kriegenburg schon das Fragment der "frühen Fassung", die sich als "Urfaust" auf den Bühnen durchgesetzt hat, als ein Stück, das seinerseits aus zwei Teilen besteht: Urfaust A und Urfaust B sozusagen.

    A: Das ist die Fabel vom Gelehrten, der nichts mehr lehren kann, weil es nichts mehr zu lernen gibt; ausgebrannt und innerlich leer, setzt er auf den Pakt mit dem Jenseits, mit dem Teufel, um noch einmal von vorn beginnen zu können - radikal verjüngt.

    B: Das ist die Geschichte vom jungen Mann, der rücksichtslos der ersten Liebe hinterher hetzt, die vorbei kommt; und sie prompt ins Verderben stürzt - während er sich mit Reiseführer Mephisto in der Weltgeschichte herumtreibt, durchleidet Margarethe Schwangerschaft, Mutter- und Kindsmord, schließlich den Tod im Kerker. Die Geschichte ist bekannt. Zu den ewigen Zaubermomenten zwischen A und B gehört aber immer die Jungbrunnen-Szene - in der der Alte alle Sorgen, aber eben auch die Seele und offenbar alle Klugheit verliert und wieder ganz zum gierig-dummen Jungen wird.

    Es ist der schönste Augenblick in diesem A-und-B-Urfaust: wenn Kriegenburg den Alten wirklich sterben lässt, nachdem der den Jungen noch wie aus der Fruchtblase heraus gepellt hat; jetzt trägt der Junge das abgelebte Alte, das frühere Ich, wie die Mutter Gottes das Kind im Arm. Pause.

    Dieser erste Teil hat wirklich schöne Momente. Er handelt vom Altern. Und mit Katharina Matz, der Doyenne im Thalia-Ensemble, als verwirrtem Alt-Gelehrten geht der Regisseur wie so oft sehr liebenswert um. Den großen Eröffnungsmonolog etwa hat diese Figur hier schon so unendlich oft vorgetragen, dass ihr auch das längst zum Halse heraus hängt. Darum ist der vertraute Text auf Schrifttafeln fixiert - die zeigt Faust nun dem Publikum. Und der Rest ist (fast) Schweigen - doch wie ein Penner unter die Tafeln gebettet, setzt der Alte dann doch noch mal zum Vortrag an.
    Ohnehin aber sind wir hier offenbar längst in einer Art Beckett-Ödnis - Famulus Wagner, hier ein rauschebärtiger Alm-Öhi, hat zu Beginn umständlich eine kaputte Glühbirne ganz oben in der Decke des auch sonst eher trübe befunzelten Leerraumes ersetzt: mit den Worten "Habe nun, ach, die Birne gewechselt". Dass von da an keine "normale" Faust-Variante folgen kann, ist hinreichend klar.

    So schlurft und schleichen Faust und Wagner und die Zeit dahin - bis sich nach neuerlichem Taschenlampenspuk hinten im Halbdunkel ein mehlwurmweißes Etwas abzeichnet, das zunächst ein bisschen "Hund" (oder "Pudel") spielt, um sich dann aus Herrn Wagners alten Klamotten ein halbwegs menschliches Aussehen auszusuchen. Dem vorsprechenden Schüler, wirklich auch kein Jung-Spunt mehr, sondern eher Mitte 50, hext dieser neue Mephisto flott alle denkbaren Krankheiten aus dem Lehrbuch an, von Flatulenz bis Paranoia, um ihn so auf das Studium der Medizin vorzubereiten. An szenischen Miniaturen wie dieser ist dieser Abend durchaus reich.

    Doch im zweiten Teil verspielt er sich darin - mit Gretchen als steiler Rap-Sirene, die den immer noch etwas laschen Jung-Faust fast verführen muss, damit er in die Gänge kommt, mit Frau Marthe in wildem Bemühen, den schmucken Mephisto per Klebeband an sich zu fesseln, dann mit der Nacht im Baldachin-Bett; und ratzfatz (das Stück ist hier wirklich noch Fragment!) liegt die junge Mutter im Kerker. Mephisto führt sie bei Kriegenburg hinaus, in sein Reich; das ist klug, denn vor allem Faust wird ja "gefangen" bleiben im eigenen Ich. Er nimmt auch ein Schlückchen aus der Flasche. Vielleicht ist es Gift, vielleicht aber auch Speed für die nächste Party.

    All das lässt sich gedanklich, als Interpretation, durchaus fassen - auf der Bühne ist es sehr viel Papier und trocken Brot. Selbst Gretchen bleibt nach dem Rap-Ausbruch eher schaumgebremst. Wie alle hier - in diesem doppelten Totengesang, der wie von sehr weit her und ziemlich unzugänglich (wie selber schon ein bisschen tot) herein tönt ins lebendige Theater.