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Gretel Baum-Merom
Die schwere Erinnerung an Nazi-Deutschland

Vor 80 Jahren verließ Gretel Baum-Merom Deutschland. Der Großnichte des Reformrabbiners Abraham Geiger und ihrem Bruder gelang die Flucht - die Eltern wurden dagegen ins Ghetto nach Lodz deportiert. Die Erinnerungen hat die heute 101 Jahre alte Frau in Büchern festgehalten.

Von Silke Fries |
    Erkennungsstern für Juden während der Nazi-Zeit (aus der Ausstellung "Schuhe von Toten - Dresden und die Shoa" im Militärhistorischen Museum Dresden)
    Für Juden wurde das Leben in Nazi-Deutschland immer gefährlicher. Die Eltern von Gretel Baum-Merom konnten nicht rechtzeitig fliehen. (dpa / picture alliance / Arno Burgi)
    Gretel Baum-Merom hat vor 80 Jahren ihre Koffer gepackt: Sie schloss ab mit ihrem Leben im Frankfurter Westend, nahm Abschied von ihren Eltern, stieg in einen Zug nach Genua und setzte von dort nach Palästina über. Dort lebte sie anfangs im Zelt, später im Kibbuz in Holzbaracken, dann wurde sie Sekretärin in Haifa. Heute wohnt sie in einem Altersheim, dort hat sie auch ihre Erinnerungen aufgeschrieben - in mittlerweile drei Büchern. Das letzte ist vor fünf Jahren entstanden - die Briefe ihrer Eltern sind darin zusammengefasst. Es waren Briefe, die die Eltern bis zu ihrer Deportation 1941 an ihre Kinder schrieben: nach Amerika an ihren Sohn Rudy und nach Palästina an ihre Tochter Gretel.
    "Ich hab die Briefe schon jahrelang in meinem Bücherschrank gehabt und hab sie nicht angefasst. Nachdem mein Bruder plötzlich gestorben ist, hab ich gedacht, ich muss sie doch mal vornehmen. Und dann musste ich wieder ans Bündel ran und wieder hatte ich das Herzweh und wieder hatte ich die Aufregung."
    Die Eltern Julie und Norbert Baum waren in Frankfurt bereits umgesiedelt worden. Von der eigenen Wohnung in ein sogenanntes Judenhaus. Schon lange war ein normales Leben für die Kaufmannsfamilie nicht mehr denkbar. Die meisten Freunde und Verwandten waren geflohen. Auch Gretel Baum-Merom versuchte von Palästina aus alles menschenmögliche, um ihre Eltern zu retten. Gretel war Pionierin, Gründungsmitglied des Kibbuz Ein Gev am See Genezareth, Geld hatte sie keines. Bis heute lässt ihr eines keine Ruhe:
    "Dass ich nicht genug getan hab, um meine Eltern hierher zu bringen. Ich hab einen Antrag gestellt, der abgelehnt wurde natürlich. Geld hatten wir nicht, man hätte mit 1000 Pfund ein 1000-Pfund-Zertifikat - aber ich hatte noch nicht einmal genug zu essen. Also wie konnte ich da das Geld aufbringen?"
    Glaube an ein schnelles Ende des braunen Spuks
    Die 101-Jährige denkt täglich an ihre Eltern. Auch daran, dass sie sich anfangs weigerten, die Palästina-Pläne ihrer Tochter zu unterstützen. Als Gretel kurz nach der Machtergreifung in Frankfurt einen Fackelzug der Nationalsozialisten sah, war für sie klar, dass sie gehen musste. Sie verschlang Theodor Herzls Buch "Der Judenstaat" und engagierte sich in der zionistischen Jugend. Für ihre Eltern aber, sagt sie, sei Zionismus etwas für arme Juden aus Osteuropa gewesen. Gretels Mutter Julie stammte aus der Familie des Reformrabbiners Abraham Geiger - wie so viele glaubten auch Gretels Eltern an ein schnelles Ende des braunen Spukes.
    "Meine Mutter war eine derer von Geiger. Sie waren Antizionisten. Und da hat mir mein Vater einmal an Pessach - am Sederabend - gesagt: Eine derer von Geiger sammelt nicht für den KKL, Keren Kayemeth LeIsrael, das ist der Fond, der die Böden kauft in Israel."
    Wie falsch das war, zeigten die Folgejahre. Erst verlor der Vater die Arbeit, die Mutter hielt die Familie mit Näharbeiten über Wasser. 1936 konnte sie noch einmal die Tochter in Palästina besuchen.
    "Meine Mutter hatte immer mit den Nerven zu tun gehabt. Sie war doch hier in Palästina. Wenn ich dann das Radio angemacht habe und man hat den Goebbels gehört, dann hat sie gesagt: Gretel, bitte, mach das aus."
    Es war das letzte Mal, dass sich Mutter und Tochter sahen. In Deutschland war es Juden mittlerweile verboten, Restaurants, Kinos und Theater zu besuchen. Aber Julie Baum hielt die Fassade in den Briefen für den Sohn in Amerika und die Tochter in Palästina aufrecht.
    "Sie hat zum Beispiel nicht geschrieben, dass sie in kein Theater mehr durften. Sie ist nach Zürich gefahren, um dort im Theater die Meistersinger zu sehen. Sie konnten wahrscheinlich auch in kein Kaffeehaus mehr gehen."
    Tod im Ghetto
    Der Ton in den Briefen aber wurde zunehmend dringlicher. Zuletzt besprachen Julie und Norbert Baum mit den Kindern Pläne für eine Flucht nach Kuba. 1941, kurz nach diesem letzten Brief, wurden Julie und Norbert Baum mit rund 1000 anderen Frankfurter Juden deportiert. Wie Schlachtvieh seien ihre Eltern mit einem Namensschild um den Hals durch das Frankfurter Westend zur Großmarkthalle getrieben worden. Dort stand der Zug nach Lodz. Der Vater starb im Ghetto von Lodz - geschwächt vom Hunger und Krankheiten.
    "Mein Vater, so hieß es in dem offiziellen Schreiben, verstarb 1942 und meine Mutter hat sich am 4. Mai aufgehängt aus Angst vor der Deportation nach Auschwitz."
    Lange hat Gretel Baum-Merom jeden Kontakt mit Deutschen gemieden. Dabei war ihr die deutsche Kultur sehr ans Herz gewachsen. Im Frankfurter Westend hatte sie an der Viktoriaschule ihr Abitur gemacht, Klavier gelernt und Tanz, und noch heute liegt an ihrem Bett Goethes Faust. Aber erst 1961 besuchte sie Deutschland erstmals wieder.
    "Es war ein wunderschöner Tag. Und da bin ich durch Deutschland gefahren, und dann durch den Schwarzwald. Und wie ich das alles gesehen hab, ohne dass ich es wollte, hab ich angefangen zu weinen. Also, ich habe so geweint, ich werde das nie vergessen."
    Heute hat Gretel Baum-Merom Freunde in Deutschland. Eine der Urenkelinnen lernt Deutsch. Ihre Erinnerungen in Buchform, sagt sie, seien ein Liebesdienst gewesen für ihre Eltern und ihren mittlerweile verstorbenen Bruder.
    "Damit es alle in Deutschland lesen. Das ist ein Beweis, wie es war in der Zeit von den Nazis, wie man sie behandelt hat. Es ist mir sehr wichtig. Sollen so viele wie möglich lesen. Selbst die Generation, die wirklich nicht schuldig ist, aber damit sie sehen, zu was ein Mensch fähig ist."