63 Unionsabgeordnete haben gegen das neue Hilfspaket für Griechenland gestimmt - und damit gegen den Kurs von Bundeskanzlerin Angela Merkel. Der Politikwissenschaftler Heinrich Oberreuter meint, dies zeige, dass die Bemühungen zur Versachlichung der Diskussion der Kanzlerin nichts geholfen hätten - und auch nicht die Taktik, den Kritiker Wolfgang Schäuble vorzuschieben, anstatt selbst eine Regierungserklärung abzugeben. Die Abgeordneten, die schon in der Vergangenheit vor allem ihrer eigenen Skepsis und der Skepsis ihrer Wähler gefolgt seien, hätten sich nur konsequent verhalten, sagte Oberreuter im DLF. "Vielleicht auch deshalb, weil ihnen der Fraktionsvorsitzende nach der letzten Abstimmung mit Boxhandschuhen begegnet ist."
Oberreuter sprach von einer zwiespältigen Situation. Merkel sehe sich nach wie vor niemandem gegenüber, der mit offenem Visier in der Lage sei, sie herauszufordern. Grundsätzlich habe sie auch noch das Vertrauen der Bevölkerung. Deshalb könne man auch nicht sagen, dass die Abstimmung der erste Schritt zum Ende ihrer Kanzlerschaft sei. "Aber es ist ein erster Schritt zur Begrenzung ihrer übermächtigen Stellung", so der Politikwissenschaftler. Sie werde künftig das Recht der Abgeordneten, mitzureden und gehört zu werden, stärker berücksichtigen müssen.
Das Interview in voller Länge:
Sandra Schulz: Telefonisch zugeschaltet ist uns Professor Heinrich Oberreuter, Politikwissenschaftler und langjähriger, jahrzehntelanger Kenner und Beobachter der Union. Herr Oberreuter, guten Tag!
Heinrich Oberreuter: Ja, guten Tag!
Schulz: Was heißt die Abstimmung jetzt für die Bundeskanzlerin, für Angela Merkel?
Oberreuter: Na ja. Das heißt, dass vielleicht überraschenderweise die Bemühungen zur Versachlichung der Diskussion, auch die Mühe, Schäuble, der ja ein abrupter Skeptiker in der Griechenland-Politik ist, für die Regierung sprechen zu lassen statt der Kanzlerin, um die ganze Sache nicht zu einem Vertrauens- oder Misstrauensvotum eskalieren zu lassen, dass all das nichts geholfen hat, sondern die, die ihrer eigenen Position und ihrer eigenen Skepsis vertrauen, und die - das Argument halte ich für ziemlich stichhaltig - auch auf ihre Wähler und deren Skepsis hören, die haben sich im Grunde nach den nummerischen Gegebenheiten offensichtlich konsequent verhalten. Sie haben sich vielleicht auch deswegen konsequent verhalten, weil der Fraktionsvorsitzende ihnen eigentlich mit Boxhandschuhen begegnet ist nach der letzten Abstimmung.
"Übergroße Koalition"
Schulz: Wie geschwächt ist die Kanzlerin durch dieses Verhalten, das Sie ja als konsequent loben?
Oberreuter: Das ist natürlich die Frage, die man schwer beantworten kann. Ich glaube, man muss die Sphären unterscheiden. Man muss sehen - und das ist vielleicht überraschend -, dass in einer für gravierend gehaltenen Frage sich ein großer Teil der Mehrheitsfraktion, der starken Regierungsfraktion nicht in die Knie zwingen lässt mit Stabilitäts- und Treueargumenten. Das ist die eine Sache, wobei das natürlich für diese Gruppe der Abgeordneten insofern noch ein bisschen leichter fällt, als in einer übergroßen Koalition es auf einzelne Stimmen und, wie man sieht, schon auf fünf Dutzend Stimmen nicht ankommt. Hätten wir eine schwache Koalitionsmehrheit, hätten wir vielleicht eine andere Diskussionslage.
Die andere Front ist natürlich die, dass trotz der Skepsis in dieser Frage Angela Merkel nicht konfrontiert ist mit irgendjemandem, der in der Lage wäre, mit offenem Visier als Herausforderer ihrer Kanzlerschaft anzutreten, und grundsätzlich hat sie auch noch das Vertrauen der Bevölkerung. Das ist eine zwiespältige Situation. Man kann eigentlich nicht sagen, diese Abstimmung ist der erste Schritt zum Ende der Kanzlerschaft von Angela Merkel. Es ist aber sicher ein erster Schritt zur Begrenzung ihrer nahezu allmächtigen Stellung.
Sichtbare Grenzen für die Durchsetzung der Kanzlerposition
Schulz: Wenn Sie sagen, so verstehe ich Sie, die Kanzlerin ist jetzt nicht wesentlich geschwächt, es gibt auch in der Union keinen, der sie angreifen könnte mit offenem Visier, obwohl heute ein Fünftel, wenn ich richtig gerechnet habe, oder rund ein Fünftel der Unions-Fraktion einen anderen Kurs vertreten hat im Bundestag, als es offizieller Regierungskurs ist. Wie groß müssen dann die Sorgen sein, die ich mir um die Union machen muss?
Oberreuter: Na ja. Die Union muss sich und ihre Führung vor allen Dingen muss sich die Sorge machen, dass die Abgeordneten sich nicht, ich zitiere jetzt einen, als „Stimmvieh" ge- oder missbrauchen lassen, dass sie, wie es eigentlich der reinen politikwissenschaftlichen Lehre entspricht, als Mehrheitsfraktion an der Führungslinie, an der Regierungslinie diskutant beteiligt werden wollen, dass sie eingebunden werden müssen und dass sie mitbestimmen wollen, und da wird man auf sie zugehen müssen. Das ist natürlich in schwierigen supranationalen Fragen, die die EU betreffen und die Griechenland-Krise betreffen, viel schwerer zu bewerkstelligen als bei Fragen der nationalen Rechtssetzung. Aber das Recht des Abgeordneten, gehört zu werden und mitzubestimmen, gegen das ja Kauder im Prinzip ein bisschen angegangen ist, dieses Recht des Abgeordneten wird künftig stärker zu berücksichtigen sein, und das heißt im Klartext, es gibt deutlich sichtbarere Grenzen für die Durchsetzung der Kanzlerposition und der Kanzlerinnenmacht, als man sich das in den letzten Monaten hat vorstellen können.
Schulz: Deswegen hat die Kanzlerin sich auch nicht getraut, das mit einer Vertrauensfrage zu verknüpfen?
Oberreuter: Na ja. Das war natürlich, glaube ich, eine Frage, die ohnehin geschmäcklerisch ist. Dass sie nicht selber die Regierungserklärung abgibt, sondern den Skeptiker Schäuble vorschickt mit der Idee, derjenige, der als Hardliner gilt, könnte in die 60er-Phalanx reinbrechen, ist, glaube ich, schon abenteuerlich, und allein durch diese Taktik tut sich eigentlich die Frage auf, geht es nicht auch um Angela Merkel. Das Vermeiden einer Vertrauens- oder Misstrauenssituation auf solch evidente Weise stellt die Frage eigentlich erst recht auf die Tagesordnung.
"Beim nächsten Paket käme es zum Schwur"
Schulz: Wie kommt die Union, oder vielleicht noch spezieller gefragt, wie kommt die Kanzlerin denn jetzt aus diesem Dilemma raus? Diese Hilfspolitik für Griechenland, das ist offensichtlich ein Kurs, der vielen Unions-Wählern, offenkundig ja auch vielen Unions-Abgeordneten nicht gefällt. Gleichzeitig wird die Frage dann möglicherweise zum Schwur kommen, wenn Griechenland - da gehe ich jetzt weit in die Zukunft - vielleicht das nächste Mal Pleite ist, weil sich möglicherweise herausstellt, dass dieses Hilfspaket jetzt kein Hilfspaket war, sondern nur ein Zeitgewinnungspaket. Wann kommt es zum Schwur, beim vierten, fünften oder sechsten Hilfspaket?
Oberreuter: Ich glaube, beim nächsten Paket käme es zum Schwur, insbesondere dann, wenn sich herausstellt, dass die griechischen Zusagen auf Sand gebaut sind und dass ein Ministerpräsident, der das Gegenteil von dem eigentlich will, was er dann durchführen muss, und eine Bevölkerung, die auch politisch nicht klar gemacht kriegt, wo die Reformnotwendigkeiten zur Gründung eigentlich eines modernen Staates und einer modernen Wirtschaft liegen, wenn sozusagen mit griechischem Verschulden und unter dem begründeten Vorwurf einer Verhandlungsnaivität neue Milliarden-Fragen sich stellen. Dann, glaube ich, wird man den offenen Konflikt im Bundestag und auch mit der Bevölkerung nicht vermeiden können.
Schulz: Könnte die Kanzlerin noch stolpern über ihre Griechenland-Politik?
"Eine Art Opportunismus, der an Glaubwürdigkeit verliert"
Oberreuter: Wenn sie über etwas stolpern könnte, dann darüber. Es ist aber dann auch die Frage, wie sie sich verhält. Ich meine, Jürgen Habermas hat ja mal von demoskopiegeleitetem Opportunismus gesprochen, und wenn dieser demoskopiegeleitete Opportunismus auf die öffentliche Meinung hört und sozusagen in der Situation, in der es zum Schwur kommt, nun sich an die Spitze der, jetzt sage ich mal, Anti-Unterstützungsbewegung stellt und im Grunde dann die Krise zugibt und sich dann auch zurückzieht aus irgendwelchen Rettungsaktionen, dann hätte sie auch da wieder einen Salto geschlagen, der ihre Position verteidigt.
Schulz: Ist das jetzt Kritik oder ein Kompliment, Herr Oberreuter?
Oberreuter: Bitte?
Schulz: Ist das jetzt Kritik oder ein Kompliment?
Oberreuter: Nein, nein. Ich wollte gerade sagen: Es ist dann schon eine Art Opportunismus, der an Glaubwürdigkeit sehr verliert, und in gewisser Weise ist ja eines der Probleme, das die Union hat, der immer wieder erhobene gar nicht kryptische Vorwurf, es fehlt eigentlich an einer konsequenten politischen Führung.
Schulz: Und wenn wir den Schritt weitergehen, Angela Merkel ist gleich die Union und umgekehrt, dieser Satz wird wie lange noch gelten?
Oberreuter: Wenn das von Ihnen aufgestellte Szenario mit dem großen Crash sich bewahrheiten sollte, dann ist dieser Satz in diesem Augenblick zu Ende.
Schulz: ... sagt der Politikwissenschaftler Heinrich Oberreuter hier bei uns im Interview in den „Informationen am Mittag" im Deutschlandfunk. Haben Sie ganz herzlichen Dank.
Oberreuter: Bitte schön.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.