Tobias Armbrüster: Dass wir gerade eine entscheidende Woche im griechischen Schuldendrama erleben, das haben wir in den vergangenen Jahren schon häufiger gehört. Diesmal scheint es aber wirklich knapp zu werden. Gestern Abend wurde ein Routinetreffen im Kanzleramt in Berlin kurzerhand zu einem Krisengipfel umgewidmet. Für die meisten Journalisten völlig überraschend, betraten auf einmal EZB-Chef Mario Draghi und die IWF-Chefin Christine Lagarde das Haus. Frankreichs Präsident François Hollande war schon da. Gesprochen wurde dann über die griechischen Finanzen und ein mögliches letztes Angebot an Athen.
Am Telefon ist jetzt Gerd Höhler. Er verfolgt die griechische Politik seit mehreren Jahrzehnten als deutscher Korrespondent in Athen für mehrere deutsche Tageszeitungen, unter anderem auch für das "Handelsblatt". Schönen guten Tag, Herr Höhler!
Gerd Höhler: Ja, guten Tag.
Armbrüster: Herr Höhler, dieses Treffen, dieses hochkarätige gestern Nacht im Kanzleramt, welche Rolle spielt dieses Treffen heute in Athen?
Höhler: Na, das spielt eine ganz gewaltige Rolle. Es kam genauso überraschend hier in Athen wie für die Journalisten in Berlin, und Ministerpräsident Tsipras hat dann sofort reagiert. Er hat, während in Berlin noch getagt wurde, die zuständigen Minister und seine engsten Berater zusammengerufen. Man hat die ganze Nacht über getagt und das hat dann dazu geführt, dass noch im Laufe der Nacht, so hat Tsipras selbst erklärt, dieser neue griechische Reformvorschlag, diese neue Liste übermittelt wurde. Und wenn Tsipras nun sagt, es seien realistische Vorschläge, um das Land aus der Krise zu führen, dann muss man natürlich mal abwarten, was die Gläubiger, was die Geldgeber dazu sagen, ob die auch der Meinung sind, dass es realistisch ist. Klar ist das ein Versuch von Tsipras, sich das Heft nicht aus der Hand nehmen zu lassen, die Initiative zu behalten und mit diesem eigenen Vorschlag einer Reformliste der Geldgeber zuvorzukommen.
Armbrüster: Jetzt haben wir das in den letzten Wochen und Monaten schon häufiger erlebt, dass es heißt, die griechische Regierung legt jetzt einen Reformvorschlag vor, der eigentlich gut ankommen müsste in Brüssel. Was könnte uns optimistisch stimmen, dass das diesmal tatsächlich der Fall ist?
Höhler: Eigentlich nichts außer der Erkenntnis, die sich nun hier auch in Athen wohl durchzusetzen beginnt, dass die Zeit wirklich davonläuft. Aber die ersten Reaktionen aus Regierungskreisen und auch aus Kreisen der Regierungspartei, die klingen nicht sehr ermutigend. Der griechische Vizepremier Jannis Dragasakis, ein ganz enger Mitarbeiter auch von Tsipras, hat heute erklärt, wir akzeptieren weder Ultimaten, noch beugen wir uns Erpressungen. Arbeitsminister Panos Skourletis, auch eine führende Figur in der Partei, sagt, es gäbe keinen Spielraum mehr für Kompromisse, die Geldgeber müssten nun ihrer Verantwortung nachkommen. Und noch schärfer hat sich der Regierungsabgeordnete Alexis Metropoulos geäußert. Er hat gesagt, das Berliner Krisentreffen sei eine Kriegserklärung an Griechenland. Das sind Töne, die nicht darauf hindeuten, dass die Kompromissbereitschaft in Athen besonders groß ist.
"Griechische Öffentlichkeit will eine Lösung"
Armbrüster: Wie nimmt die Öffentlichkeit in Griechenland das Ganze denn wahr?
Höhler: Die ist dieses Gezerre, die ist dieses zermürbende Verhandlungsmarathon nun wirklich leid. Die Gespräche gehen ja jetzt in den fünften Monat. Griechenland steht am Rand der Pleite. Es ist offen, ob überhaupt in der zweiten Hälfte Juni die nötigen Zahlungen noch geleistet werden können. Es ist offen, ob der Staat dann noch genug Geld für Renten und Gehälter hat. Die Griechen sind es mehrheitlich leid. Sie wollen eine Lösung. Und wenn man den Umfragen glaubt, dann wollen sie eine Lösung auch um den Preis neuer Sparmaßnahmen.
Armbrüster: Aber sie stehen nach wie vor hinter dieser Regierung, hinter der Regierung von Alexis Tsipras?
Höhler: Ja! Das ist das Widersprüchliche, dass die Regierung nach wie vor sehr populär ist. Das liegt daran, dass man hier in Griechenland den Eindruck hat, Tsipras ist der erste, der eigentlich den Europäern mal richtig die Stirn bietet, der nicht sofort einknickt. Das ist ein ewiger Widerspruch, der sich in den Umfragen auch zeigt. Etwa 70 Prozent der Griechen wollen den Euro behalten, aber 80 Prozent sind gegen den Sparkurs. Beides zusammen ist sehr schwer zu erreichen, und das ist ein Widerspruch, mit dem auch Tsipras zu kämpfen hat in der eigenen Partei.
"Politiker, die ganz offen mit dem Grexit spielen"
Armbrüster: Danach würde ich Sie gerne fragen. Wir hören ja immer, dass in der Partei oder in diesem Parteienbündnis vor allem der linke Flügel so sehr die Oberhand hat. Was sind das für Leute, die linken Vertreter des Syriza-Bündnisses? Wie links sind die tatsächlich?
Höhler: Der linke Flügel macht am meisten Lärm. So würde ich es mal sagen. Dass er zahlenmäßig die stärkste Fraktion der Partei darstellt, kann man sicherlich nicht sagen. Er stellt in der Fraktion etwa ein Drittel der Mitglieder. Er ist auch in der Regierung sehr stark vertreten mit prominenten Wortführern. Wenn man sagt links, dann ist das für Syriza natürlich ohnehin eine relative Feststellung. Das sind nun wirklich Linksextremisten. Es sind größtenteils ehemalige Kommunisten. Es sind Leute, die mit Europa, mit der Europäischen Union nicht viel am Hut haben. Es sind Politiker, die ganz offen mit dem Grexit spielen, also mit dem Ausscheiden Griechenlands aus der Währungsunion und mit der Rückkehr zur Drachme. Das sind Positionen, die in der Regierungspartei Syriza sicherlich nicht mehrheitsfähig sind. Das haben auch die Beratungen in den Parteigremien während der vergangenen Wochen immer wieder gezeigt. Aber dieser linke Flügel scheint doch zu erstarken. Er scheint Argumente zu bekommen, je länger sich diese Verhandlungen ergebnislos dahinziehen.
Armbrüster: Wie erklären Sie sich denn diesen Widerspruch, dass auf einer Seite eine Mehrheit der Griechen den Euro unbedingt gerne behalten möchte und auf der anderen Seite diese große Zustimmung für Syriza gerade noch da ist? Spielen da möglicherweise andere Gründe außer wirklich tagesaktuellen politischen eine Rolle?
Höhler: Ich würde sagen, es sind wahrscheinlich zwei Gründe. Erstens ist die Opposition, sind die Oppositionsparteien insgesamt in einem ziemlich kläglichen Zustand in Griechenland nach der verlorenen Wahl. Das gilt besonders für die konservative Nea Dimokratia. Die sackt in den Umfragen eigentlich immer weiter ab. Man weiß gar nicht, wohin das noch führen soll.
Der zweite Punkt ist, dass natürlich den Griechen nicht entgangen ist, dass dieses bisherige Rettungsprogramm nicht funktioniert hat, zumindest nicht für die Menschen, denn die Menschen haben etwa ein Drittel ihres Einkommens verloren in den fünf Jahren der Krise. Die griechische Wirtschaft insgesamt hat ein Viertel ihrer Wirtschaftskraft eingebüßt. Die Arbeitslosigkeit hat sich verdreifacht. Ganze Bevölkerungsschichten sind in die Armut abgerutscht. Das erklärt, dass eine Regierung, die sagt, Schluss mit dem Sparkurs, so populär ist, selbst wenn das, was sie vorschlägt, nicht immer ganz realistisch ist.
"Viele Experten sagen, dass dann Griechenland wirklich noch einmal ganz tief abstürzt"
Armbrüster: Und jetzt mal angenommen, wir erreichen tatsächlich in den kommenden Tagen so einen Punkt, an dem auf einmal klar wird, die griechischen Staatskassen sind leer, das Land ist ganz offiziell Pleite, was passiert dann in Griechenland?
Höhler: Das möchte ich mir gar nicht vorstellen wollen, denn viele Experten sagen, dass dann Griechenland wirklich noch einmal ganz tief abstürzt. Es wird eine Rezession geben, die vielleicht noch einmal die Dimensionen erreichen könnte, die wir bereits in den letzten fünf Krisenjahren erlebt haben. Die Arbeitslosigkeit wird weiter steigen und die neue Währung, die dann wahrscheinlich kommen müsste, die Drachme, das wird auch kein Glücksgefühl auslösen bei den Griechen, denn diese Währung wird sehr wenig wert sein. Das heißt, die Menschen werden noch weniger Kaufkraft in der Brieftasche haben, die Inflation wird an dieser Währung zehren und es wird schwierig werden für Griechenland, Importe ins Land zu holen, beispielsweise Arzneimittel, aber auch viele Dinge des täglichen Bedarfs, die importiert werden müssen.
Armbrüster: Laufen denn Vorbereitungen für einen solchen Notfall, für einen solchen Tag X schon?
Höhler: Das kann Ihnen, glaube ich, keiner beantworten. Man denkt natürlich darüber nach. Vielleicht denkt man darüber aber in den anderen europäischen Ländern, in den Eurostaaten intensiver nach als in Griechenland selbst. Ich habe manchmal den Eindruck, dass Tsipras und sein engster Kreis eigentlich diese Möglichkeit bisher wirklich verdrängen.
Armbrüster: Gerd Höhler war das, langjähriger Zeitungskorrespondent in Athen. Vielen Dank, Herr Höhler, für das Gespräch heute Mittag.
Höhler: Gerne.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.