Giegold warb für ein System, das es allen Euro-Ländern ermögliche, sich zu niedrigen Zinsen zu finanzieren. Das sei besser, als "chaotische, große Schuldenschnitte". Es sei aber abenteuerlich zu glauben, dass eine neue griechische Regierung unter Führung der linken Syriza-Partei einen Schuldenschnitt diktieren könne, sagte Giegold im Deutschlandfunk. Das sei Erpressung und werde in Europa niemals akzeptiert.
Nach der gescheiterten Präsidentenwahl soll in Griechenland am 25. Januar ein neues Parlament gewählt werden. Oppositionsführer Alexis Tsipras hat eine Abkehr vom Sparkurs angekündigt, sollte sein linksgerichtetes Bündnis Syriza die Wahl gewinnen.
Das Interview in voller Länge:
Peter Kapern: Gestern Mittag um kurz vor zwölf, da dürften sich Menschen überall in der Europäischen Union gefragt haben, geht die Sache nun wieder von vorn los? Gemeint ist natürlich die Euro- und Schuldenkrise. Zu diesem Zeitpunkt war nämlich der dritte Anlauf im griechischen Parlament gescheitert, einen neuen Staatspräsidenten zu wählen. Die Konsequenz: Ende Januar gibt es Neuwahlen in Griechenland, und der Ausgang ist mehr als ungewiss. In den Umfragen vorn liegt die linkspopulistische Partei Syriza, die ein Ende aller Sparprogramme und einen Schuldenerlass für das Land fordert. Bei uns am Telefon ist nun Sven Giegold, der Finanzexperte der Grünen im Europaparlament. Guten Morgen!
Sven Giegold: Guten Morgen, Herr Kapern!
Kapern: Herr Giegold, wie ist das nun: Alles auf Anfang? Brennt es jetzt wieder lichterloh im Euro-Land?
Giegold: Es ist nicht alles auf Anfang, denn die wirtschaftlichen Daten vieler Euro-Länder haben sich natürlich stabilisiert, und das ändert sich auch nicht einfach dadurch, dass in Griechenland es politisch instabil wird. Wir haben aber in vielen europäischen Ländern politisch instabilere Verhältnisse. Also denken Sie nach Frankreich, sehen Sie die hohen Zahlen für die Europagegner in Großbritannien, in Italien. Das ist jetzt vielmehr gefährlich. Und das verweist eben darauf, dass wir in der Tat jetzt dafür sorgen müssen, dass von Europa positive Signale ausgehen, die die Gegner der europäischen Einigung in den verschiedenen Ländern endlich wieder in Schranken weisen.
"Endlich gemeinsam große Vermögen effektiv besteuern"
Kapern: Und diese positiven Signale müssen wie aussehen? So, dass Geld mit der Schubkarre nach Athen gefahren wird?
Giegold: Nein. Das ist aus meiner Sicht auch nicht nötig. Das Entscheidende ist, und das verwundert mich bei den Kommentatoren dieser Tage doch sehr: Griechenland könnte viel, viel besser mit seiner wirtschaftlichen Situation zurechtkommen, wenn das Steuersystem endlich funktionieren würde. Das ist sowieso das Problem in Griechenland, wir haben jede Menge Detailreformen vorgeschrieben - mit den Griechen zusammen entwickelt zwar, aber es wirkt doch für die Griechen als ein Verlust von Demokratie -, aber das Steuersystem funktioniert immer noch nicht. Und würden wir in Europa endlich gemeinsam große Vermögen und große Unternehmen effektiv besteuern, dann könnten alle Länder, auch Griechenland, mit dem übermäßig harten Sparkurs aufhören und wieder investieren. Und das wäre das Signal, was wir wirklich brauchen. Also nicht eine neue Schuldenpyramide in Form eines Investitionsfonds, sondern gleichzeitig mindestens eine gemeinsame Steuerpolitik.
Kapern: Nun gibt es allerdings zahlreiche Experten, Herr Giegold, die sagen, dass, selbst wenn reiche und wohlhabende Unternehmen zu 100 Prozent besteuert würden, kann ein Land wie Griechenland einen Schuldenberg, der heute schon wieder 175 Prozent des Bruttoinlandsprodukts beträgt und damit höher liegt als vor dem Schuldenschnitt, niemals abtragen.
Giegold: Also zunächst mal ist es so: Niemand will Unternehmen zu hundert Prozent besteuern. Dann sind sie ja praktisch pleite. Das möchte keiner, sondern es geht darum, dass die Steuern, die eigentlich fällig sind, auch bezahlt werden. Und davon sind wir in Europa weit entfernt, sondern große Unternehmen rechnen sich arm, machen überall ihre Geschäfte und versteuern in den Steueroasen. Das geht immer noch weiter.
Kapern: Aber noch mal, Herr Giegold – 175 Prozent!
Giegold: Ich komme auf Ihren Punkt sofort zurück, aber das ist mir wichtig: Ich bin nicht für eine Hundert-Prozent-Besteuerung, ich bin dafür, dass alle fair ihre Steuern bezahlen. Und wir reden insgesamt bei Steuerhinterziehung und Steuervermeidung über 1.000 Milliarden Euro im Jahr in Europa. Das ist kein "Peanuts", das ist kein Nebenproblem, und das wird leider immer noch so dargestellt. Ansonsten haben Sie recht: Die Staatsverschuldung Griechenlands ist sehr hoch. Das alleine wäre noch nicht mal das eigentliche Problem. Diese Verschuldung ist auch noch im Ausland. Also Griechenland ist inzwischen mit Spitzenwerten im Ausland verschuldet. Und das hält auch die stärkste Wirtschaft in diesem Maße nicht aus.
Deshalb haben Sie recht: In Griechenland braucht es zusätzlich zu den normalen Maßnahmen einerseits eine Vermögensbesteuerung, und andererseits wird es auch eine Neuverhandlung von Schulden geben. Was aber nicht funktioniert, ist, und jeder weiß das auch, dass die Schulden in Griechenland nicht nachhaltig sind. Aber eines ist auch klar: Es ist abenteuerlich, so zu tun, wie Syriza das jetzt macht, man könne einseitig in Europa eine neue europäische Politik und Schuldenstreichung aufoktroyieren. Das ist erpresserisch und wird niemals akzeptiert werden. Also einfach zu sagen, streicht uns die Schulden, wir wollen die Reformen nicht mehr – so funktioniert es in Europa nicht.
"Es gibt einen dritten Weg"
Kapern: Noch mal nachgefragt, Herr Giegold: Sie haben gerade gesagt, es bedarf der Neuverhandlung von Schulden. Ist das ein politischer Euphemismus für: Ein neuer Schuldenschnitt muss her?
Giegold: Nein, weil in Deutschland und auch in der Frage liegt immer ein falscher Gegensatz, nämlich entweder sozusagen es gibt Sparpolitik, um die Schulden bedienen zu können, oder es gibt umgekehrt Schuldenstreichungen. Es gibt aber einen dritten Weg, und der dritte Weg liegt eben in der Belastung der eigenen großen Vermögen und in Steuergerechtigkeit. Und dieses dritte Element gehört da mit hinein. Das heißt, eine Schuldenstreichung oder ein Schuldenmoratorium – es muss ja nicht notwendig eine Streichung sein –, also eine Neuverhandlung der Schulden ist nur gerecht, wenn es gleichzeitig zu einer effektiven Belastung von hohen Vermögen gerade auch in Griechenland kommt. Einseitig geht das alles überhaupt nicht und ist nicht gerecht.
Kapern: Herr Giegold, noch mal nachgefragt, weil wir alle nicht solche Finanzexperten sind wie Sie: Ein Schuldenmoratorium heißt, dass Schulden nicht bedient werden, aber dann zu einem späteren Zeitpunkt bedient werden müssen. Dann stellt sich doch die Frage erneut, wie soll ein Land wie Griechenland 175 Prozent Schuldenberg vom Bruttoinlandsprodukt tilgen?
Giegold: Also nochmals: Es gibt natürlich eine Menge Länder, die auch es geschafft haben, Schulden in dieser Höhe zurückzuzahlen. Historisch bekannt ist zum Beispiel: Großbritannien hatte nach den Napoleonischen Kriegen 200 Prozent Verschuldung am Bruttoinlandsprodukt, und zu einer Zeit, als die dortige Bevölkerung ungleich ärmer war, als was wir heute Gott sei Dank in Europa kennen.
"Niedrige Zinsen für alle"
Kapern: Vielleicht war es damals auch noch etwas leichter, eine Bevölkerung mit Sparmodellen und Sparmaßnahmen zu überziehen als heute?
Giegold: Nein. Ehrlich gesagt, glaube ich, ist die Lage etwas anders. Bei den Schulden ist die alles entscheidende Frage: Wie hoch ist die Verzinsung. Und deshalb geht das auch nicht getrennt voneinander. Das heißt also: Es ist ja schon interessant, dass jetzt diejenigen, die gegen Eurobonds und gegen eine vernünftige Regelung von niedrigen Zinsen für alle in Europa waren, jetzt plötzlich doch auch immer wieder andeuten, dass sie der Meinung sind, die Länder können die Schulden nicht zurückzahlen. Nein. Ich bin, wir sind weiterhin der Meinung, dass es in Europa ein System braucht, dass es allen Staaten ermöglicht, zu niedrigen Zinsen ihre Staatsverschuldung weiterzuschieben. Weil chaotische, große Schuldenschnitte sind immer destabilisierend, und das ist immer schlechter, als dafür zu sorgen, dass alle niedrige Zinsen bekommen, wie beim vom Sachverständigenrat vorgeschlagenen Schuldentilgungsfond, der dafür sorgt, alle Staaten müssen Reformauflagen machen, Sicherheiten begeben, und unter diesen Bedingungen gibt es niedrige Zinsen für alle. Dass es in Griechenland vermutlich auch zu weitergehenden Maßnahmen kommen muss, das ist richtig. Aber wir müssen hier keine Schuldenpanik betreiben mit dieser Zahl 170 Prozent.
Kapern: Noch mal nachgefragt: Die niedrigeren Zinsen, die Sie durch die sogenannten Eurobonds oder einen Schuldentilgungsfond in Aussicht stellen, die bedeuten höhere Zinsen für Deutschland, oder?
Giegold: Das ist richtig. Allerdings sind unsere Zinsen derzeit so unglaublich niedrig. Derzeit ist es ja so, dass die Anleger sogar Geld verlieren, wenn sie Deutschland Geld leihen. Das ist eine völlig absurde Situation, die wird auch nicht auf Dauer zu stellen sein. Aber was die Hoffnung ist, und das ist ja eigentlich was Positives, dass die Zinsen auf Dauer niedrig sind. Das bedeutet, die Bedingungen für nachhaltige Investitionen sind gut. Und jetzt ist die Zeit, in der man soziale und ökologische Investitionen in die Wirtschaft vornehmen muss, damit auch, sage ich mal, auf der Produktionsseite die ganze Sache wieder in Gang kommt. Das können Sie nicht trennen. Sie können keine Schulden bedienen, wo Sie nicht letztlich Wirtschaftsleistung dahinter haben. Bisher haben wir uns nur auf das Bedienen der Schulden konzentriert, gerade in Griechenland, in Portugal und so weiter, und vergessen dabei die Arbeitslosigkeit und damit auch die Produktivität, auf der jedes Schuldenbedienen nur beruhen kann.
"Anders über die Schulden sprechen"
Kapern: Aber ganz kurz noch, Herr Giegold: Wir waren uns ja gerade einig, dass niedrigere Zinsen für Griechenland zunächst einmal bedeuten, dass deutsche Steuerzahler mehr für Griechenland zahlen müssen. Das muss die Bundeskanzlerin ja irgendwie den Menschen in Deutschland verkaufen. Hätten Sie da schon mal ein paar Formulierungshilfen?
Giegold: Ich glaube, das Erste ist erst mal, dass wir anders über die Schulden sprechen müssen. Was wir bisher gemacht haben, war: Wir haben Griechenland Kredite zur Verfügung gestellt, die es dem griechischen Staat ermöglicht haben, die Schulden, die Griechenland bei unseren Banken und Versicherungen hatte, zurückzubezahlen. Das heißt, das, was in der Marktwirtschaft normal ist - nämlich, dass wenn ich übermäßig viel einem Schuldner geliehen habe, dass ich dann einen Teil des Geldes verliere -, das haben wir unseren Banken und Versicherungen erspart. Jetzt ist das Risiko beim Staat, und damit haben wir auch ein gemeinsames Problem. Das heißt, wir müssen aufhören zu denken, es gibt auf der einen Seite den griechischen Staat, der unnachhaltig hohe Schulden aufgenommen hat, was stimmt, aber das ist eben immer gleichzeitig auch unser Problem. Und dieses Reden über die Schulden, zu zeigen, dass es hier auch um unsere Banken, unsere Versicherungen, letztlich unsere wirtschaftliche Stabilität geht, das haben wir in Deutschland leider nicht ehrlich gemacht. Und das muss sich ändern, weil erst wenn wir verstehen, dass wir nur erfolgreich sein können, wenn es auch unseren Partnern in der Eurozone gut geht, das werden wir die nächsten Monate in viel größerer Brutalität erleben. Schauen Sie nach Frankreich und in die anderen Länder. Wir sägen sonst an dem Ast, auf dem wir in Europa alle sitzen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.